Für Russland und die Ukraine wird 2015 ein turbulentes Jahr

Urheber: Sven Teschke,  (CC BY-SA 3.0)
Urheber: Sven Teschke, (CC BY-SA 3.0)

Die Zahl der Todesopfer steigt und die Wirtschaft begibt sich auf Talfahrt

 

Das Jahr 2014 hätte für Präsident Putin gar nicht besser beginnen können: Da gab es zwar in Moskau eine Bewegung gegen die Wahlmanipulationen des Jahres 2012/-13, diese wurde von westlich orientierten liberalen Persönlichkeiten allerdings ins politische Abseits gelenkt. Am Ende lief sie ins Leere, weil geringfügige Zugeständnisse angeboten und zunehmend repressiv gegen sie vorgegangen wurde. Was die internationale Ebene angeht, so konnte der russische Imperialismus im stärker werdenden Spannungsfeld zu den westlichen imperialistischen Mächten einige taktische Erfolge verzeichnen, was vor allem im Falle Syriens der Fall war. Die Olympischen Spiele von Sotschi, die in der Geschichte teuersten ihrer Art, wurden als Vorzeigeprojekt genutzt, um die Aufmerksamkeit eine Zeit lang von der umfassenden Korruption abzulenken, die die russische Volkswirtschaft zerfrisst.

von Rob Jones, CWI, Moskau

Das einzige größere Problem, so schien es, bestand für Putin im Nachbarland Ukraine, das die EU, die USA und die NATO zeitweilig als Bollwerk gegen Russland aufzubauen versuchten. Der Massenwiderstand gegen die autoritäre Regierung Janukowytsch/Asarow erhielt dort weiteren Auftrieb aufgrund der Armut und der Korruption. Weil es aber an einer linken Alternative fehlte, gerieten die Proteste unter die Führung von nach Europa ausgerichteten Geschäftsleuten und der extremen Rechten. Der vom Westen unterstützte Sturz des Regimes von Janukowitsch und Asarow war für die regierende Elite in Russland ein schwerer Schlag. Der Kreml machte sich die aufrichtigen Ängste der russisch-sprachigen Bevölkerung in der Ukraine zu Nutze (die Angst hatte, dass die Kiewer Regierung ihnen ihre Sprache sowie die politischen und ökonomischen Rechte nehmen könnte), um die pro-russischen Separatisten stärker zu unterstützen. Die Krim ist nun wieder Teil Russlands, und in Donezk und Lugansk lodert der Krieg weiter vor sich hin. Bis zum heutigen Tag sind tausende Tote und bis zu einer Million Flüchtlinge zu beklagen, die aus der Region geflohen sind.

Das Jahr 2015 begann mit keiner spürbaren Verbesserung der Situation. Die Anzahl der Todesopfer in der Ost-Ukraine steigt stetig an, in den umkämpften Regionen sind weiterhin Schusswechsel und Artillerieangriffe an der Tagesordnung, in Städten wie Dnipropetrowsk oder Odessa schlagen nach wie vor Bomben ein. Der Kopf der „Republik von Lugansk“, Igor Plotninsky, hat auf Geheiß des Kreml einen brutalen Kampf um die Kontrolle über die bewaffneten Kräfte dort begonnen. Beteiligt sind unter anderen das Bataillon namens „Batman“, das unter der Führung der extremen Rechten steht, sowie die Einheit „Allmächtige Don-Schar“, eine Kosaken-Gruppe, die von sich behauptet, das Russische Reich wieder herstellen zu wollen. Während die Warlords sich gegeneinander bekriegen, ist die Lage der Bevölkerung in zunehmendem Maß als aussichtslos und verzweifelt zu bezeichnen. Die BewohnerInnen von Kalinski, einem Stadtteil von Donezk, haben eine Petition an das Oberhaupt der Republik geschrieben, in der sie fordern, dass keine Artillerie mehr zum Einsatz kommt, da dadurch nur Gegenschläge von Seiten Kiews provoziert werden.

So lange die Lage ungeklärt bleibt, kann keines der anderen schwerwiegenden Probleme, von denen die beiden Länder gebeutelt sind, überhaupt angegangen werden. Dabei machen die Friedensgespräche, die letzten Sommer in Minsk begonnen haben, keinerlei Fortschritte. Ein Treffen, das für den 25. Dezember angesetzt war, scheiterte. Die für vergangene Woche in Kasachstan geplanten Gespräche sind wieder abgesagt worden, weil Merkel gesagt hatte, sie sehe wegen der Unnachgiebigkeit Russlands keinen Grund zur Teilnahme. Die Entscheidung der ukrainischen Rada (des dortigen Parlaments), die Neutralität des Landes offiziell aufzuheben, ließ sie hingegen unkommentiert. Dabei stand dieser Beschluss im Zusammenhang mit der Erklärung, den Beitritt zur NATO anzustreben und weitere 200.000 Soldaten einzuberufen.

Der einzige Teil einer früher bereits gefassten Vereinbarung, der zumindest teilweise umgesetzt worden ist, ist der Austausch von Gefangenen. Russland behauptet zwar verbal, eine Übereinkunft anzustreben, unterstützt jedoch weiterhin die Rebellen, obwohl der Kreml – wie die jüngsten Todesfälle in Lugansk zeigen – Probleme hat, diese unter Kontrolle zu halten. Die Anführer der beiden Rebellen-Republiken verfolgen ihre eigenen Ziele, zu deren Prioritäten die Ablehnung zählt, sich einfach wieder in die Ukraine einzugliedern.

Sowohl Russland als auch die Ukraine kämpfen auf wirtschaftlicher Ebene mit schwerwiegenden Zersetzungserscheinungen. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Ukraine ist im vergangenen Jahr um 7,5 Prozent zurückgegangen, und die Währung Hryvnia verlor 42 Prozent an Wert. Obwohl der Bedarf des Landes größer geworden ist, ist die Hilfe, die die EU zugesagt hat, immer noch nicht eingetroffen. In einer Sitzung der Rada, die bis um drei Uhr morgens des 30. Dezember andauerte, wurde schließlich ein Haushalt für 2015 beschlossen. Darin wird von einem weiteren Rückgang des BIP um vier bis fünf Prozent sowie einer Kürzung der Sozialausgaben um zehn Prozent ausgegangen. Unterdessen machen die Ausgaben für Armee und Verteidigung nun 20 Prozent bis 25 Prozent der Staatseinnahmen aus. Sie sind in die Höhe geschossen und haben sich verfünffacht. Mit dem Kollaps der Kohleindustrie im Osten des Landes, sieht sich Kiew nun gezwungen Kohle aus Südafrika dazu zu kaufen. 32 Bergwerke stehen vor der Schließung, 24 werden zeitweilig dicht gemacht und weitere 37 sollen privatisiert werden. Selbst die ansonsten eher für ihre Zaghaftigkeit bekannte Gewerkschaft der Beschäftigten im Bildungs- und Wissenschaftsbereich warnt mittlerweile davor, dass mehr als 100.000 LehrerInnen ihren Arbeitsplatz verlieren könnten. Diese Gewerkschaft droht bereits mit landesweiten Streiks.

Der Rubel gerät ins Wanken

Der russische Rubel hat 2014 insgesamt 40 Prozent an Wert eingebüßt und in den ersten beiden Wochen des Jahres 2015 noch einmal 13 Prozent. Sogar das Wirtschaftsministerium geht für dieses Jahr von einem weiteren Rückgang des BIP um fünf Prozent aus, obwohl eine Kabinettssitzung letzte Woche schon von einem Szenario gesprochen hat, das einen Rückgang um 10 Prozent umfasst. Dies alles folgt auf eine Phase der Stagnation, in der die Reallöhne nicht mit der Preisentwicklung mitgehalten haben. Im Wirtschaftsteil der Zeitungen wird die Lage nur noch mit folgenden Begriffen umschrieben: „veritabler Sturm“, „schwer angeschlagen“, „Bankenkrise“, „Zahlungsausfall“ und „gefährlicher Teufelskreis“.

Präsident Putin begründet die Krise mit den Versuchen des Westens, den „russischen Bären“ an die Kette legen zu wollen. „Wenn sie damit Erfolg haben“, so sagte er wörtlich, „dann werden sie ihm die Reißzähne und die Pranken herausreißen“. Die westlichen Mächte versuchen zwar, der Stärke des neuen russischen Imperialismus auf verzweifelte Art und Weise Grenzen zu setzen. In Wirklichkeit sind die Gründe für die ökonomische Krise jedoch auf die russische Volkswirtschaft selbst zurückzuführen. Schon vor der ukrainischen Krise hatten wir es mit einer Stagnation zu tun und 40 Prozent des umfangreichen Kapitalabzugs, zu dem es 2014 kam und der 125 Milliarden bis 130 Milliarden US-Dollar umfasste, fand statt, noch bevor die Sanktionen überhaupt beschlossen worden sind.

Heute erleben wir durch einen dramatischen Rückgang des Ölpreises (von 115 Dollar im Juni 2014 auf jetzt 46 Dollar je Barrel) erneut, wie zerbrechlich bzw. chaotisch die einzelnen Volkswirtschaften im Kapitalismus doch sind. „Goldman-Sachs“ geht davon aus, dass der Preis ein halbes Jahr lang bei 42 Dollar verharren wird. Der Ölkonzern BP spricht davon, dass in den nächsten drei Jahren die Marke von 50 Dollar Bestand haben wird. Hinzu kommt, dass die Sanktionen in dem Sinne ihre Wirkung zeigen, dass weitere Investitionen nur noch in sehr begrenztem Maße getätigt werden. Putin betrachtet dies als Möglichkeit, die Binnenwirtschaft und die Produktion im Land anzukurbeln. Dazu war es bereits nach der Talfahrt des Rubel im Jahr 1998 gekommen. Damals griffen allerdings noch zwei weitere Faktoren: Die Ölproduktion Russlands steigerte sich in zehn Jahren um 60 Prozent und der Ölpreis stieg auf bis dato ungeahnte Höhen. Dies, inklusive der umfassenden idustriellen Kapazitäten, die noch auf die Sowjet-Zeit zurückzuführen waren, machten eine Steigerung der inländischen Produktion möglich. Heute sind diese Faktoren jedoch nicht mehr gegeben.

Die Regierung meint, dass die rund 150 Milliarden Dollar, die sie in ihrem Stabilitätsfonds gebunkert hat, ausreichen, um die Krise zu überstehen. 2014 musste sie aber 83 Milliarden US-Dollar berappen, allein um den Rubel zu stützen. Unterdessen prophezeien Experten, dass – abgesehen von der Tatsache, dass der Rubel auch weiterhin gestützt werden muss – jedes Jahr 50 Milliarden Dollar benötigt werden, um das Haushaltsdefizit auszugleichen. Demnach bedarf es auch größerer Summen, um Banken und möglicherweise auch von der Pleite bedrohte Unternehmen zu retten. Außerdem werden die Oligarchen, da sie die Sanktionen zu spüren bekommen, Ausgleichszahlungen verlangen. Das Land hat zwar Währungsreserven, fängt es aber erst einmal damit an diese anzuzapfen, so ist es möglich, dass Panik einsetzt. In diesem Fall könnte es sein, dass die Prophezeiungen einiger ÖkonomInnen Realität werden, die davon ausgehen, dass Russland zu einem bestimmten Zeitpunkt vor dem Zahlungsausfall steht.

Die Krim

Auch auf der Krim laufen die Dinge nicht gerade rund. Weil das ukrainische Stromnetz nicht stark genug ist, kommt es auf der Halbinsel immer wieder zu flächendeckenden Stromausfällen. Indem sie „Sicherheitsbedenken“ geltend machen, haben die ukrainischen Behörden sämtliche Bus- und Zugverbindungen sowie Frachttransporte auf die Krim unterbrochen. Weil die russischen Luftfahrtunternehmen aufgrund mangelnder Profitabilität zudem alle Flugverbindungen auf die Krim gestrichen haben, kommt es dort zu ganz realen Problemen. Einige Berichte deuten darüber hinaus darauf hin, dass den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes (LehrerInnen, KollegInnen im Gesundheitssektor etc.) gesagt worden ist, sie hätten die Kosten für die langen Neujahrsferien „selbst zu tragen“. Das bedeutet eine Lohnkürzung um 30 Prozent allein für den Monat Januar. Diese wirtschaftlichen Probleme verschärfen die Lage noch, die ohnehin von einer Einschränkung der demokratischen Rechte gekennzeichnet ist. Und damit ist noch gar nichts gesagt über den „Import“ der heftigen Gesetze Russlands, die nun auch auf der Krim gegen sogenannte „Extremisten“ und Homosexuelle Anwendung finden. Lediglich 83 der 3.000 Presse- und Medienhäuser, die es auf der Krim gibt, erfüllen die Maßstäbe, die die restriktiven Medien-Gesetze Russlands gesetzt haben.

Dass das Referendum, das letztes Jahr auf der Krim durchgeführt worden ist, zur Eingliederung nach Russland geführt hat, hat die Popularität von Putin in Russland selbst enorm gesteigert. Er führt die Sorgen, die Russland hat, weiterhin auf einen vermeintlichen ausländischen Einfluss zurück und macht die Sanktionen für alles Schlechte verantwortlich. Als Reaktion auf die Versuche der westlichen Mächte, die Isolation Russlands zu verstärken und die Aktivitäten der NATO näher an seine Landesgrenzen zu verlagern, hat Putin seinerseits versucht, den russischen Einfluss auf andere Teile der Welt auszuweiten. Weil die sogenannten BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China) aber auch andere Länder – wie z.B. das ölproduzierende Venezuela – selbst in Schwierigkeiten stecken, sorgt Putins Außenpolitik nicht gerade dafür, dass die Hoffnungen auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage Russlands größer werden. Dass er die pro-russischen Separatisten in der Ost-Ukraine dermaßen unterstützt, hat bei traditionellen Partnern wie Weißrussland oder Kasachstan außerdem die Alarmglocken läuten lassen. Die Staatschefs dieser beiden Länder, Lukaschenko und Nasarbajew, haben sich offen gegen das Eingreifen Russlands positioniert.

Die Opposition in Russland

Zuhause hat Putin diese Phase genutzt, um die beschränkten Zugeständnisse, die er nach den Protesten von 2012/-13 versprechen musste, wieder zu verleugnen. Die liberale und pro-kapitalistische Opposition ist durch die Ereignisse des vergangenen Jahres spürbar geschwächt worden. Ein Teil von ihnen hat – genau wie alle anderen offiziellen Parteien in Russland – die Ukraine-Politik Putins unterstützt. Die Großdemonstration, die für den 15. Januar, den Tag, an dem das Urteil gegen Alexei Navalny (den bekanntesten unter den liberalen Führungspersönlichkeiten) erwartet wurde, angesetzt war, wurde wieder abgesagt, weil der Richter drei Wochen vorher schon sein Urteil gefällt und das zuvor verhängte Urteil von dreiundhalb Jahren Haft wieder einkassiert hatte. Einige hundert Menschen versuchten zwar dennoch zu protestieren. Sie wurden von der Polizei aber schnell abtransportiert. Die Strategie der Liberalen basiert nicht etwa auf dem bewusst durchgeführten Versuch, die Bevölkerung gegen die Regierung zu mobilisieren, sondern vielmehr auf der Hoffnung, dass eine Krise in der amtierenden Regierung zu einer russischen Version des ukrainischen „Euromaidan“ führen könnte. Eine Protestbewegung dieses Charakters wäre allerdings höchstens in der Lage, die herrschenden Eliten auszutauschen. Was sie hingegen nicht tun würde, wäre, den Kampf gegen Armut und Korruption an erste Stelle setzen. Putin macht sich diese sehr negativen Vorzeichen zunutze, unter denen die Entwicklungen in der Ukraine aus seiner Perspektive stehen, um die Menschen in Russland davor zu warnen, die Opposition überhaupt zu unterstützen. Nur eine Massenbewegung, an deren Spitze eine echte Partei der Arbeiterklasse steht, kann die autoritären Regime der Region zum Abdanken zwingen und eine Arbeiterregierung aufstellen, die eine sozialistische Politik verfolgt, mit der das Leben der Bevölkerungsmehrheit verbessert wird.

Es kommen aber noch weitere Aspekte hinzu, die es zunehmend schwerer machen, Proteste auch künftig zu verhindern. In diesem Zusammenhang ist zuallererst die Frage der Haushaltskürzungen zu nennen. Vergangenen Herbst war angekündigt worden, dass bis zur Hälfte aller Krankenhäuser in Moskau entweder schließen oder mit anderen zusammengelegt werden sollen. Am 14. Januar wurde dann eine 10-prozentige Pauschalkürzung für alle Bereiche angekündigt – ausgenommen, natürlich, die Bereiche Verteidigung und Sicherheit. Ende letzten Jahres war es zu einer Reihe wütender Demonstrationen gekommen. Unterdessen geraten auch die industriellen Aushängeschilder in Schwierigkeiten. Angesichts der Tatsache, dass der Markt für Neuwagen voraussichtlich um jährlich ein Viertel zurückgehen wird, prophezeit der Vorstandsvorsitzende von „Renault Nissan“ bereits ein „Blutbad, das alle treffen wird“.

Die Frage lautet nun, ob koordinierter Widerstand gegen die Angriffe organisiert werden kann, die sich gegen die Lebensstandards der ArbeiterInnen richten. Dabei besteht jedoch die Gefahr, dass unabhängige Gewerkschaften nicht die führende Rolle übernehmen können, die nötig wäre, um etwaige Schließungen zu verhindern. Es ist eine breit angelegte Kampagne nötig, an der die KollegInnen, die im öffentlichen Dienst arbeiten, genauso beteiligt sind wie diejenigen, die diese Dienste in Anspruch nehmen – egal, ob es sich um Studierende oder PatientInnen handelt. Dasselbe gilt für die Menschen, die in den betroffenen Regionen leben: Sie müssen gegen alle Schließungsvorhaben und geplanten Einschnitte Widerstand leisten und gleichzeitig mit für diejenigen einen Kampf führen, die ihre Arbeit bereits verloren haben. Letztere brauchen neue Arbeitsplätze, ohne dabei auf Lohn zu verzichten oder ihren alten Status zu verlieren.