Indien: Iquilab Zindabad – 70 Jahre nach der Unabhängigkeit

Mahatma Gandhi Foto: https://www.flickr.com/photos/the-wanderers-eye/ CC BY-NC-SA 2.0
Mahatma Gandhi Foto: https://www.flickr.com/photos/the-wanderers-eye/ CC BY-NC-SA 2.0

Der lange Kampf für die indische Unabhängigkeit und die gar nicht positive Rolle von Gandhi & Co.

von Sonja Grusch

Am 15. August 1947 wurde Indien von der britischen Kolonialmacht in die Unabhängigkeit entlassen. Ein riesiges Land, fast schon ein Kontinent, mit himmelschreiender Armut, Kasten(un)wesen und Frauenunterdrückung. Doch wo steht Indien heute, nach Jahrzehnten der Unabhängigkeit? Die Armut ist immer noch Indiens drückendstes Problemen, jedes Jahr sterben allein 1,7 Millionen Kinder an Unterernährung. An der massiv ungleichen Landverteilung hat sich nichts geändert, 80% des Landes stehen im Besitz von wenigen Großgrundbesitzern. Das Kastenwesen ist, auch wenn offiziell abgeschafft, immer noch zentrales Zuordnungs- und Diskriminierungskriterium für Menschen und die Serie von bekannt gewordenen (Massen-)Vergewaltigungen sind nur die Spitze des Eisberges von Frauenunterdrückung und -Misshandlung. Zusätzlich gibt es seit Jahrzehnten nationale Konflikte mit den früher zu Indien gehörenden Gebieten des heutigen Pakistan, Kaschmir und Bangladesh sowie die bewusst zur Spaltung der Gesellschaft eingesetzten religiösen Konflikte zwischen Hindus und Moslems. Der Grund dafür, das keines der Probleme gelöst, aber weitere hinzugekommen sind liegt in der Art und Weise, wie die Unabhängigkeit erreicht wurde.

In Indien wird spätestens seit dem 19. Jahrhundert eine enorm rückständige Landwirtschaft mit industrieller Entwicklung kombiniert. Dadurch entsteht auch eine zahlenmäßig nicht zu vernachlässigende Arbeiterklasse die immer wieder zu zehn- und hunderttausenden in Kämpfe eintritt. Das Jahr 1905 sah Massenstreiks gegen die Teilung Bengalens, verbunden mit den Protesten Studierender, bewaffneten Aufständen und Steuerboykotten. Nach dem 1. Weltkrieg erschütterte eine Streikwelle das Land. Unzählige indische Soldaten starben für den britischen Imperialismus – man hatte sich für diese Opfer nun zumindest einige demokratische Zugeständnisse erwartet, vergeblich allerdings. 125.000 TextilarbeiterInnen streikten in Mumbai, 1921 beteiligten sich 500.000 an Streiks in der Industrie, und über 20.000 an Streiks in den Häfen. In der ersten Hälfte der 1920er Jahre gab es rund 200 Streiks mit 1,5 Millionen TeilnehmerInnen. Die Gewerkschaften wuchsen, die Arbeiterklasse gewann an Selbstvertrauen und Militanz. Eine Entwicklung, die Gandhi alles andere als Recht war, sein Konzept des „Hartal“ hatte ein de-aktivierendes Element, setzte auf Beten und Einkehr, aber nicht auf gemeinsame Proteste. In Folge zog er sich aus der Bewegung auch zurück, als sie nicht seinen Konzepten entsprach.

Unabhängigkeitsbewegung wird von bürgerlichen Kräften dominiert

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gab es immer wieder Aktionen für mehr Unabhängigkeit vom britischen Empire. Der erste größere Aufstand war der „Sepoy-Aufstand“ von 1857-59. Indische Soldaten die in der britischen Armee dienten meuterten und wurden dabei von städtischen Armen sowie der armen Landbevölkerung unterstützt. Ein Warnsignal für die Kolonialmacht Britannien. Mit dem Ziel, die Bewegung zu kontrollieren wurde dann auch 1885 von einem Vertreter Britanniens der Indische Nationalkongress (INC) als Instrument zur Vermittlung zwischen den Massen und der britischen Regierung bzw. Verwaltung gegründet. Dieser war in Folge alles andere als homogen, hatte auch einen linken Flügel, ging unter dem Druck von unten immer wieder nach links. Und blieb durch seine bürgerliche Führung doch ein wichtiges Instrument um die Interessen des britischen Kapitals zu sichern. Aufgrund der hinduistisch-chauvinistisch Herangehensweise der INC-Führung kam es 1906 zur Gründung der Muslimliga, einer Organisation die in Folge auch vom Imperialismus zur Spaltung der Unabhängigkeitsbewegung verwendet werden konnte. Die vorherrschende Taktik und Strategie des INC, geprägt von Gandhi, war dominiert von der bürgerlichen Führung und ihren Zielen. Ein Teil der heutigen herrschenden kapitalistischen Klasse in Indien machte sein Vermögen durch die Boykottpolitik gegen britische Waren (so z.B. Tata), so gut wie alle großen indischen Unternehmen wurden durch die Kooperation mit der Kolonialmacht reich. Sie profitierten also von der wechselnden bzw. letztlich stets kooperationsbereiten Politik des INC.

Die Ineffizienz von Gandhis Strategie

Gandhi ist in der bürgerlichen Geschichtsschreibung ein Held. Seine Politik des passiven Widerstandes wird als Vorbild in Schulen und politischen Bewegungen gepriesen. Man könnte also argumentieren, das Gandhi zwar kein Sozialist war, also kein sozialistisches Indien erkämpfen wollte (und das auch nicht tat), dass er aber auf seine Weise erfolgreich war. Doch das Gegenteil ist der Fall. Durch seine Strategie wurde die Unabhängigkeit spät und blutig erreicht, viele Millionen Menschen mussten den „passiven Widerstand“ mit ihrem Leben bezahlen. Und langfristig wurden die gesellschaftlichen Mechanismen, die verantwortlich sind für Unterdrückung und Massenarmut, gefestigt.

Undemokratisch

Beginnen wir bei der Frage von Demokratie. Kampagnen des INC wurden nicht demokratisch beschlossen, waren häufig mehr die Initiative von Gandhi, bzw. wurden ohne Rücksprache mit der Basis einfach abgebrochen. Als der „Salz-Kampf“ von 1930 nicht die von ihm gewünschte Form beibehielt, es zur Besetzung von Salzfabriken, regionalen Generalstreiks etc. kam stoppte der INC die Bewegung (was sie dann hilflos gegenüber der folgenden Verhaftungswelle machte, als 80.000 in die Gefängnisse wanderten und damit die Unabhängigkeitsbewegung insgesamt schwächte) und trat in Geheimverhandlungen mit der britischen Regierung ein. Das Ergebnis war eine Wahlrechtsreform (es durfte dann einer von sechs wählen) die den INC zur stärksten Partei machte. Eben dieser verwehrte in Folge der Moslem Liga Einfluss und verstärkte damit die Spaltung in INC und Liga. Einen Keil, denn der britische Kolonialismus nur zu gerne aufgriff und sich über die verstärkten Kontakte zur Moslem Liga freute. Diese wurde zu einem zentralen Bündnispartner und war im 2. Weltkrieg loyaler zur britischen Regierung als der INC, der ab 1942 auf die „Quit India“ Kampagne setzte.

Gandhi selbst sprach sich gegen die Befehlsverweigerung von Soldaten aus – wohl wissend, dass er diese Unterdrückungsinstrument später selbst benötigen könnte: “Wenn ein Soldat sich weigert, zu schießen, ist er schuldig, seinen Eid gebrochen zu haben. Ich kann Soldaten nicht dazu raten, Befehle von Offizieren zu missachten, weil ich, wenn ich morgen eine Regierung bilde, die selben Soldaten und Offiziere benützen muss. Wenn ich sie heute zu irgendeiner Art von Befehlsverweigerung ermutige, dann werden sie sich morgen weigern, mir zu gehorchen.”(1922)

Blutig

Wurde die Unabhängigkeit durch die Strategie des passiven Widerstandes (Satyagraha) friedlich erreicht? Mitnichten. Gandhi selbst trat im 2. Burenkrieg und im 1. Weltkrieg als Werber für die britische Arme auf. Er erhoffte sich im Abtausch für das Dienen von indischen Soldaten in der britischen Armee mehr Rechte für die InderInnen. Mag sein, dass er später davon abgekommen ist, doch auch seine spätere Taktik war nicht friedlicher. Wer einmal den Film „Gandhi“ gesehen hat, kann sich an die endlosen Reihen von Menschen erinnern, die in dieser Form des Widerstandes niedergeschlagen und ermordet wurden. Das Ergebnis der erreichten Form von Unabhängigkeit war auch die Teilung in Indien und Pakistan (und später Bangladesch). Eine blutige Teilung, die unmittelbar einer Million Menschen das Leben kostete und Millionen aus ihrer Heimat vertrieb. Der britische Imperialismus hatte mit der Teilung und dem bewusst unklaren Status von Kaschmir künftige Konflikte provoziert um sich so den Einfluss in der Region zu sichern.

Doch auch sozialer Friede bzw. der Aufbau einer Gesellschaft und Wirtschaft, in der Armut beseitigt wäre, war nicht sein Ziel. Im Gegenteil war Gandhi erklärter Gegner von technischem Fortschritt und Industrialisierung. Spitäler seinen „Instrumente des Teufels“ und sein erklärtes Ziel war es das „Eisenbahn, Telegraph, Krankenhäuser, Medizin“ aber auch die gesamte „moderne Zivilisation“ und die dazugehörenden (?) sexuellen Laster verschwinden. Die Reichen sollten überzeugt werden, ihr Glück in der Einfachheit zu finden. Sein Ansatz war also im besten Fall idealistisch, tatsächlich aber zynisch, angesichts von Millionen Menschen, die in Indien brutal unterdrückt, erniedrigt und ausgebeutet werden. Sie rief er zur Demut, zum Dienen und Dulden auf und dazu, ihren zugewiesenen Platz (also auch im Rahmen des Kastenwesens) zu akzeptieren um so ein friedliches Miteinander zu ermöglichen. Klassenkampf und Revolution lehnte er ganz bewusst ab und erreichte damit eine Verlängerung der brutalen Kolonialherrschaft und des ausbeuterischen Kapitalismus. Das mag zwar friedlicher für die herrschende Klasse sein, für die Ausgebeuteten und Unterdrückten war es das ganz sicher nicht! Millionen Menschen sind in Folge das Opfer von Hunger und religiösen Konflikten geworden.

Verspätete Unabhängigkeit

Nicht einmal für das Erreichen der Unabhängigkeit war Gandhis Methode erfolgreich. Fast 50 Jahre wurde diese Taktik verfolgt bis Indien unabhängig wurde. Doch auch wenn es die Geschichtsschreibung so darstellen möchte: das der britische Imperialismus Indien 1947 in die Unabhängigkeit entließ war nicht das Ergebnis von Gandhis Kampf sondern der revolutionären Welle, die nach dem 2. Weltkrieg die koloniale Welt erschütterte. 1946 kam es – wie schon 1857 und 1918/19 – zu Meutereien und Aufständen der indischen Soldaten, die in der britischen Armee gedient hatten. Begleitet von einer Welle von Massenstreiks bei Post, Eisenbahnen, Industrie und sogar Teilen der Polizei war das der eigentliche Grund dafür, dass die Kolonialmacht Britannien zum Rückzug ansetzte.

Tatsächlich wurde also durch die Taktik von INC und Gandhi die Kolonialherrschaft Britanniens um Jahrzehnte verlängert was unzählige Opfer zur Folge hatte. Wäre die revolutionäre Welle z.B. nach dem 1. Weltkrieg aufgegriffen und ausgebaut worden, so wäre eine frühere Unabhängigkeit und v.a. auch eine Alternative zum Kapitalismus möglich geworden. Denn durch die so erreichte Unabhängigkeit wurden die britischen Imperialisten durch eine nationale herrschende Klasse ersetzt (die weiterhin gut mit den ehemaligen Kolonialherren bzw. anderen imperialistischen Mächten zusammenarbeiteten) und an den Ausbeutungsstrukturen nichts änderten. Gandhi war also viel weniger der Stachel im Fleisch des Imperialismus, als der er uns heute gerne verkauft wird, sondern im Gegenteil ein wichtiger Faktor gegen die indische Arbeiterklasse und ihre Organisationen.

Das Versagen der Kommunistischen Partei

Das der INC, Gandhi und die bürgerliche Klasse die treibende Kraft in der Unabhängigkeitsbewegung spielen konnten (was keineswegs so sein musste, wie das Beispiel Sri Lanka/Ceylon zeigt) liegt v.a. auch in der Schwäche und den Fehlern der Kommunistischen Partei Indiens (CPI). Diese war 1920 in Taschkent auf dem Boden der Sowjetunion gegründet worden, bzw. dann 1925 in Indien selbst. Führend war in den ersten Jahren v.a. der aus einer bürgerlichen Tradition kommende Manabendra Nath Roy. Er setzte sich Anfangs für eine militärische Lösung (also quasi eine militärische „Befreiung“ Indiens durch die Sowjetunion vom Kolonialismus) ein und spielte in der Kommunistischen Internationale (Komintern) eine führende Rolle. Die Entwicklung der Komintern selbst ist entscheidend für die Positionen der CPI. Zentrale Fragen war das Verhältnis zu den bürgerlichen und reformistischen Kräften der Unabhängigkeitsbewegung (wie dem INC bzw.. der Congress Socialist Party CSP).

Insgesamt ist die Frage, wieviel Ressourcen die Komintern tatsächlich für die Unterstützung der kolonialen Befreiungsbewegungen aufwenden konnte. Zwar war die Gründung selbst und auch die Dokumente der ersten Kongresse ein klares Zeichen dafür, dass die Frage sehr ernst genommen wurde. Doch fehlte es teilweise an Mitteln und Möglichkeiten (die Sowjetunion selbst stand in einem Verteidigungskrieg) und Kontakten in die jeweiligen Länder (damals gab es kein Internet, die Kommunikation war mühsam und die Informationen spärlich). Hinzu kam auch, dass die KPn der entwickelten kapitalistischen Länder (v.a. die KP-Britanniens, die lange zuständig war für die CPI) nicht frei von nationalem Chauvinismus war und meinte, das die GenossInnen in Indien noch nicht „reif“ wären. Doch das zentrale Hindernis war der Deformationsprozess, denn die Komintern selbst im Gefolge der Etablierung des Stalinismus in der Sowjetunion durchlief. Sie wurde immer weniger zu einem Instrument, dass die Weltrevolution antreiben sollte um so eine Isolierung der Sowjetunion zu verhindern und immer mehr zu einem Instrument der sowjetischen Außenpolitik, der alles untergeordnet wurde. Der Zick-Zack-Kurs, den die Komintern seit Mitte der 1920er Jahre durchlief nahm in der indischen Praxis absurde Formen an.

1927 wurden Gandhi und der INC mit dem Imperialismus gleichgesetzt und der linke Flügel der nationalen Bourgeoisie (rund um Nehru und Bose) wurden zum Hauptfeind erklärt. Eine Zusammenarbeit mit dem INC und eine Beteiligung an den Massenkampagnen war damit unmöglich, die CPI isoliert. In ihrer ultralinken Phase proklamierte die Komintern den angeblich unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch des Kapitalismus und rief quasi ein „Sowjet-Indien“ aus.

1935 auf dem 7. Komintern-Kongress kam es zum Kurswechsel, es wurde die Notwendigkeit von Einheitsfronten gegen den Faschismus ausgerufen und der Aufbau von anti-imperialistischen Bündnissen. Das passte gut zum Verbot der CPI 1934 die über eine verstärkte Zusammenarbeit, ev. sogar eine Fusion mit der CSP diskutierte. Als im August 1939 der Hitler-Stalin-Pakt unterzeichnet wurde, bedeutete dass für die CPI eine Intensivierung dieser Politik: Der britische Imperialismus wurde zum Hauptfeind erklärt, eine Schwächung Britanniens als willkommene Unterstützung für die Sowjetunion betrachtet. Nach dem Angriff Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion 1941 kam die 180 Grad Wende: Die Periode der Volksfronten wurde ausgerufen, Britannien wurde zum Bündnispartner, der Unabhängigkeitskampf letztlich als Schwächung der Sowjetunion umgedeutet. Der INC wurde rechts überholt und die CPI erklärte sich zum loyalen Bündnispartner der britischen Kolonialherren in Indien. Eine Möglichkeit um in den Massenprotesten der Arbeiterklasse eine starke Basis aufzubauen, eine klare Strategie vorzubringen und der bürgerlichen Führung der Unabhängigkeitsbewegung eine echte Alternative entgegen zu stellen war der Zick-Zack-Kurs von Komintern und CPI sicherlich nicht. Und so konnte der katastrophale Kurs von INC und Gandhi den Unabhängigkeitskampf um Jahrzehnte verzögern. Errungeb wurde so bestenfalls eine formale Unabhängigkeit, da die Abhängigkeit vom internationalen und nationalen Kapitalismus bis heute Bestehen geblieben ist. Mit all seinen Ungerechtigkeiten und Opfern. Eine echte Unabhängigkeit würde aber auch eine von der kapitalistischen Ausbeutung bedeuten – und eine solche muss noch erkämpft werden!