Bewegung von unten – Reformen von oben
Fünfzig Jahre nach 1968 hat die damalige Zeit für viele Menschen nichts an ihrer Faszination verloren: Eine Zeit weltweiter Massenproteste und revolutionärer Bewegungen, welche die Herrschenden in Angst und Schrecken versetzten. 1968 kam sowohl im Westen als auch im sogenannten Ostblock etwas in Gang, was das Potenzial hatte, die herrschenden Systeme über Bord zu werfen.
Von Christine Lehnert, Rostock und Angelika Teweleit, Berlin
Das Jahr 1968 steht im Kontext der Bewegungen in den 50iger und 60iger Jahren. In den USA entwickelte sich damals vor dem Hintergrund von Armut, Perspektivlosigkeit und Polizeigewalt gegen Afro-AmerikanerInnen eine breite Rebellion gegen Rassismus. Während im 2. Weltkrieg tausende schwarze Soldaten in den Tod geschickt wurden und dies mit dem „Kampf gegen den Rassismus der Nazis“ begründet wurde, stand im eigenen Land staatlich geförderter Rassismus auf der Tagesordnung. Dieser Widerspruch führte zu immer mehr Widerstand. Ein Ausdruck davon war die Black Panther Bewegung, die der damalige Chef des FBI, J. Edgar Hoover, auf dem Höhepunkt ihres Einflusses als „die größte Bedrohung für die innere Sicherheit der USA“ bezeichnete. Martin Luther King beschrieb den Charakter der Aufstände zu Recht als „Klassenrevolte der Unterprivilegierten gegen die Privilegierten“. 1967 erklärte er: „Wir sind in eine Ära eingetreten, die eine Ära der Revolution sein muss […] was nutzen einem Mann gemischte Speiselokale, wenn er sich keinen Hamburger leisten kann?“
Anti-Kriegsproteste
Diese Proteste kamen zusammen mit der Bewegung gegen den Vietnamkrieg. Dies war eine Klammer der weltweiten Proteste. Die Menschen empörten sich angesichts der Verbrechen des US-Militärs in Vietnam. Auch in Deutschland kam es zu Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg sowie zu einem Aufbegehren vor allem der Jugend gegen die Zustände im Land. Die Wirtschaft brach 1967 erstmals seit den sogenannten Wirtschaftswunderjahren nach dem 2. Weltkrieg ein. Die Folge waren eine Million Arbeitslose. Dazu kam die fehlende Aufarbeitung der deutschen Geschichte. In den Amtsstuben, Unis und Gerichten saßen Alt-Nazis, es gab keinen gleichberechtigen Zugang zur Bildung für Arbeiterkinder, der Platz der Frau war am Herd und im Rang klar unter dem Mann. Zudem beschäftigte das Thema Wiederaufrüstung die Gemüter. Dies führte besonders unter jungen Menschen zu einem Aufbegehren. „Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren“ war ein vielzitierter Spruch und dies galt es zu ändern.
„Das Spiel ist aus“
Die größte Bewegung im Jahr 1968 gab es in Frankreich, als auf dem Höhepunkt der Bewegung zehn Millionen in einem Generalstreik das Land lahm legten. Die Fabriken waren besetzt, rote Fahnen wurden gehisst und die Betriebe standen unter Kontrolle der ArbeiterInnen. Die StudentInnen gingen in die Betriebe und hielten Vorlesungen für die KollegInnen. Präsident Charles de Gaulle floh und meinte „Das Spiel ist aus.“ Doch anstatt die Streikkomitees zu vernetzen und die politische Macht zu übernehmen, vertröstete die an Moskau orientierte Kommunistische Partei die Massen auf die Wahlen. Dieser Verrat an der revolutionären Bewegung diente nur dazu, die Macht der Stalinisten in den Ostblockstaaten zu sichern.
Im Osten nichts Neues?
Die Bewegung des Prager Frühlings knüpfte auch an vorherige Protestbewegungen gegen die bürokratische Herrschaft im so genannten Ostblock an. In der DDR fand mit dem Arbeiteraufstand 1953 ein Versuch statt, sich gegen die allmächtige Parteiriege und deren Jahrespläne und Ziele zu wehren. Es war nicht der Ruf nach Kapitalismus, sondern das Bedürfnis nach demokratischen Rechten und einem besseren Lebensstandard, das die Menschen umtrieb. 1956 kam es in Ungarn zu Unruhen und einem Aufstand gegen die repressive Politik der stalinistischen Bürokratie sowie die Besatzung durch die russischen Truppen. Sie erfassten das ganze Land und führten zunächst zu Zugeständnissen und einer Regierungsumbildung. Die UdSSR, der „große Bruder“, schickte daraufhin Truppen und in blutigen Kämpfen wurde der Aufstand bis zum 15. November niedergeschlagen.
Ausgangssituation in der ČSSR
Doch trotz der Niederlage war Ungarn 1956 auch eine Inspiration für die Menschen in anderen Ländern des Ostens und mit dem Prager Frühling fand 1968 eine weitere starke Bewegung gegen den Stalinismus statt. Es war ein revolutionärer Prozess, der begann, weil Anspruch und Wirklichkeit im propagierten „Arbeiter- und Bauernstaat“ weit auseinander klafften, die Menschen jedoch ihre Idee von Sozialismus nicht begruben. Die Lebensumstände in der CSSR („Tschechoslowakische Sozialistische Republik“) waren alles andere als rosig. Die Konzentration der Wirtschaft auf Schwerindustrie und die Vernachlässigung des Konsumsektors führte zu Mangel an allen Ecken und Enden. Die Planwirtschaften der stalinistischen Länder waren größtenteils den Industrialisierungsbestrebungen der Bürokratenriege der UdSSR untergeordnet und auch dies führte in der CSSR dazu, dass die Pläne nicht am Bedürfnis der Bevölkerung ausgerichtet waren. Dazu kamen Fehlplanungen, Zick-Zack-Kurse und Bereicherung seitens der Bürokratie, die das Land weiter ruinierten. Die Menschen bekamen in den 1960ern bestimmte Lebensmittel nur noch über persönliche Beziehungen zu FunktionsträgerInnen oder standen vor leeren Regalen. Dass der damalige Partei- und Staatspräsident öffentlich versprechen musste, dass es wieder Fleisch geben würde, zeigt das Ausmaß der Krise. Spannungen zwischen dem tschechischen und slowakischen Teil der ČSSR kamen verschärfend hinzu. Seit der Befreiung durch die Sowjetunion und die Gründung der ČSSR nach dem 2. Weltkrieg wurde die nationale Frage der SlowakInnen nicht gelöst. Die historische Unterdrückung der wirtschaftlich schwächeren Slowakei, wie sie auch mit der Gründung der Tschechoslowakei nach dem 1. Weltkrieg bestand, wurde nicht wirklich aufgehoben. Es gab zwei „kommunistische“ Parteien, nämlich die tschechoslowakische KPC und die slowakische KSS. Die slowakische KPS durfte keinen Beschluss fassen oder veröffentlichen, bevor er nicht in Prag genehmigt wurde.
Repression statt Freiheit
Im gesamten Leben der Menschen war die Diktatur der Bürokratenriege zu spüren. Mangel, fehlende Rechte und dann auch noch Säuberungen und Verfolgung von Andersdenkenden. Besonders die 50iger Jahre waren geprägt von Repression und Schauprozessen. Abweichler wurden aus der KP ausgeschlossen und vor Gericht gezerrt. Bibliotheken wurden auf feindliche Literatur durchkämmt und Romane mit Cowboys ebenso wie trotzkistische Literatur verboten.
Die Repressionen und Säuberungen waren keine einmalige Aktion, auch nach dem Tod von Stalin wurden sie fortgesetzt – nur waren diesmal andere die Opfer. Angesichts der Zensur, fehlender Pressefreiheit und Beschneidung der Literatur war es nicht überraschend, dass 1964 auf dem 4. Kongress der tschechoslowakischen SchriftstellerInnen „offene Kritik an der Kulturpolitik der KPC“ aufkam. Und genau dieser Schriftstellerkongress war es auch, der im Jahre 1967 den Auftakt für die Ereignisse um den Prager Frühling gab.
Prager Frühling
„In zwanzig Jahren wurde kein menschliches Problem gelöst“ äußerte der in der ČSSR sehr bekannte Schriftsteller Vaculík am 2. Juni 1967. „Dieser Paukenschlag hallte im ganzen Land wider. Am 30. Oktober fielen Licht und Heizung im StudentInnenwohnheim von Strahov in Prag aus. Die Studierenden demonstrierten in der Innenstadt mit Kerzen in der Hand und riefen: „Wir wollen Licht.“ Nicht nur das elektrische Licht, versteht sich: Licht in die Verhältnisse! Die Polizei verfolgte sie prügelnd bis in ihre Zimmer.“
Und nun bedingten sich die Proteste auf der Straße und die Entwicklungen in der Staatsführung gegenseitig. Die Bewegung führte zu großer Unruhe in der KP. Das stalinistische Regime unter Antonín Novotný geriet zunehmend ins Wanken. Ein Machtkampf zwischen einer konservativen Strömung, die auf Repression setzte, und einem gemäßigten reformorientierten Flügel entfaltete sich. Der gemäßigte Flügel suchte nach Wegen, die Unzufriedenheit der Massen zu kanalisieren und wirtschaftliche Probleme durch Reformen zu lösen. Im Januar wurde Novotný zum Rücktritt gezwungen. Der Sprecher des Reformflügels, Alexander Dubcek wurde sein Nachfoger. Mit seiner (im Vergleich zu den starrsinnigen Altstalinisten) enthusiastischen Art begeisterte er viele und wurde zu einer Vertrauensfigur für die Massen. Dies wiederum ermutigte die Protestierenden, die neue und weitreichendere Forderungen stellten. Die Stimmung dabei war eindeutig, so befürworteten im Juli 1968 laut einer Umfrage 86 Prozent einen sozialistischen Weg und nur fünf Prozent einen kapitalistischen.
„Es herrschte eine neue Stimmung in der Partei und vor allem in ihrer Jugendabteilung. Letztgenannte hatte begonnen, ihren Horizont zu erweitern. Isaac Deutschers Schriften wurden ins Tschechische übersetzt und auf den Seiten der offiziellen kommunistischen Zeitschriften veröffentlicht. Einstmals verachtete Zeitungen waren jetzt besonders begehrt, weil die Journalisten ihre schmutzigen Hemden ausgezogen hatten und die Wahrheit veröffentlichten. (…) All das führte schließlich dazu, dass die Welt der Bürokratie auf den Kopf gestellt wurde.“
„Der Weg der Tschechoslowakei zum Sozialismus“
Die KPC gab sich im April ein über sechzigseitiges Aktionsprogramm, welches als das wichtigste politische Dokument des Prager Frühlings angesehen wurde. Darin hieß es, dass „die bisherigen Methoden der Leitung und Organisation der Volkswirtschaft überlebt“ seien. Das Reformprogramm forderte weiterhin Meinungs- und Pressefreiheit. Ein weiterer Meilenstein war die Einführung von Reisefreiheit: „Die gesetzmäßige Freizügigkeit der Bürger muss garantiert werden, besonders Reisen ins Ausland, wobei vor allem gelten soll, dass der Bürger Rechtsanspruch aus langfristigen oder dauernden Aufenthalt im Ausland hat und dass niemand grundlos als Emigrant betrachtet wird.“ Weiterhin ging es um die Trennung von Partei und Staat sowie eine Selbstständigkeit der Gewerkschaften. In Puncto der nationalen Frage zwischen Tschechien und Slowakei sollte es eine „endgültige föderative Regelung“ geben.
Auch auf wirtschaftlicher Ebene sollte ein neuer „dritter Weg“ eingeschlagen werden: „Das Programm der Demokratisierung der Wirtschaft umfasst vor allem die Herstellung der Selbstständigkeit der Unternehmen und von Unternehmensgruppierungen sowie ihre relative Unabhängigkeit von den Staatsorganen, die völlige und reale Gültigkeit der Rechte des Verbrauchers, seinen Konsum und Lebensstil zu bestimmen, es umfasst das Recht auf freie Wahl der Arbeitstätigkeit […].“ Maßgeblich dafür verantwortlich zeichnete sich der Ökonom Ota Šik, der die Idee einer sozialistischen Marktwirtschaft vertrat. Die Betriebe sollten gesellschaftliches Eigentum bleiben und durch demokratisch gewählte Werktätige geleitet werden. Šiks Programm ging nicht mehr von einem gesamtgesellschaftlichen Plan aus, da er diesen und nicht die Bürokratie für das wirtschaftliche Scheitern verantwortlich machte. So sollte nun also das Unternehmertum eines jeden Betriebes mit Anreizen für die Beschäftigten eingeführt werden und so die Effektivität erhöht werden. Teil des Konzepts beinhaltete auch die Bildung von Arbeiterräten in den Betrieben. Ihre Funktion sollte letztlich darauf beschränkt bleiben, auf betrieblicher Ebene mehr Effizienz zu schaffen. Keinesfalls wollten die Reformer die politische Macht in die Hände der Arbeiterräte legen.
Die Bewegung radikalisiert sich – „Manifest der 2000 Worte“
Die weitreichenden Reformvorschläge der KPC sahen viele Menschen als Erfolg und knüpften große Hoffnungen daran sowie an den neuen Parteivorsitzenden Dubcek. Auch wenn es schon vorher Aktivitäten gegeben hatte, so führte die Einführung der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit, aber auch die Diskussionen über ArbeiterInnenselbstverwaltung zu einem ungeheuren Aufschwung der politischen Partizipation der Bevölkerung. Interessensgruppen und Bürgerrechtsbewegungen entstanden und die freie Presse wurde ein bedeutender gesellschaftlicher Faktor. In Betrieben wurden bereits im Frühjahr 1968 ArbeiterInnenkomitees zur Verteidigung der Pressefreiheit gebildet, die auch mit Studierenden zusammenarbeiteten. Bis zum Einmarsch stieg ihre Zahl auf 77 an. Neue Schichten traten in die KP ein. Demokratische Prozesse wurden in Gang gesetzt: lebendige Versammlungen mit ehrlichen Diskussionen und offener Kritik fanden in den KP-Gliederungen statt. Überall auf örtlicher Ebene gab es nun öffentliche und lautstarke Konferenzen, in denen bis in den August hinein die alte Bürokratie abgesetzt wurde und die Umsetzung der Reformen gefordert wurde. Die in den Betrieben gebildeten Räte wollten mehr als nur eine beratende Funktion haben.
Im Juni dann veröffentlichte der Schriftsteller Vaculík das „Manifest der 2000 Worte“. Es war ein emotionaler und lebhafter Appell an die Menschen des Landes, nicht müde zu werden. So heißt es: „In die nächsten Tage müssen wir jedoch mit eigener Initiative und mit eigenen Entschlüssen gehen.“.
Das Manifest übte klare Kritik an der Bürokratie: „Die Kommunistische Partei, die nach dem Krieg das große Vertrauen der Menschen genoss, tauschte dieses Vertrauen allmählich gegen Ämter ein, bis sie alle bekam und nichts anderes mehr hatte (…) Fordern wir den Abgang der Leute, die ihre Macht missbraucht, das öffentliche Eigentum geschädigt, ehrlos oder grausam gehandelt haben. Man muss Methoden ausfindig machen, um sie zum Abgang zu veranlassen. Zum Beispiel: Öffentliche Kritik, Resolutionen, Demonstrationen, demonstrative Arbeitsbrigaden. Spendensammlung für ihren Abgang in den Ruhestand, Streik, Boykott ihrer Türen.“ Während dieser Aufruf große Unterstützung in der Bevölkerung bekam, distanzierte sich die KP-Führung davon und war alarmiert. Die radikale Kritik an der Parteibürokratie gefiel auch den ReformerInnen nicht, die nicht an einer grundsätzlichen Änderung der Machtstrukturen interessiert waren. Nach der Abschaffung der Pressezensur, der Rehabilitation der Opfer der Schauprozesse und anderer demokratischer Prozesse, wurde nun deutlich, dass es hier um die Frage politische Revolution oder Machterhalt durch Reformen ging. Die Massen wollten eine wirkliche Demokratisierung des Landes mit Selbstbestimmung und wirklicher politischer Einflussnahme. „Von neuem haben wir die Möglichkeit, unsere gemeinsame Sache in die Hände zu nehmen, die den Arbeitstitel Sozialismus trägt.“
Drohungen vom „großen Bruder“
All das blieb nicht unbeobachtet von der UdSSR und den anderen stalinistischen Staaten. Schon im März bildete sich eine Allianz der „fünf Bruderstaaten“ UdSSR, DDR, Polen, Ungarn und Bulgarien, welche die „konterrevolutionären“ Entwicklungen in der CSSR kritisierten. Im Mai mussten sich die tschechoslowakischen Reformkräfte in Moskau für die politischen Ereignisse rechtfertigen und als Warnung wurden sowjetische Einheiten zu Manövern in die CSSR geschickt. Die Truppen verließen die CSSR auch nach dem Ende des Manövers nicht wieder. Die Ahnung aus dem „Manifest der 2000 Worte“ wurde wahr: „Große Beunruhigung geht in letzter Zeit von der Möglichkeit aus, dass ausländische Kräfte in unsere Entwicklung eingreifen könnten. Angesichts jeglicher Übermacht können wir einzig und allein anständig auf unserem Standpunkt beharren und mit niemandem Streit vom Zaun brechen. Unserer Regierung können wir zu verstehen geben, dass wir notfalls mit der Waffe hinter ihr stehen werden, solange sie das tun wird, wofür wir ihr unser Mandat geben werden […].“
Im Juli sandten die stalinistischen Mächte einen warnenden Brief an die CSSR (Warschauer Brief), der die Prozesse im Land als „vom Imperialismus unterstützte Offensive der Reaktion gegen Ihre Partei und gegen die Grundlagen der Gesellschaftsordnung der CSSR“ bezeichnet. Sie schrieben: „Nach unserer Überzeugung ist eine Situation entstanden, in welcher die Bedrohung der Grundlagen des Sozialismus in der Tschechoslowakei die gemeinsamen Lebensinteressen der übrigen sozialistischen Länder gefährdet. Die Völker unserer Länder würden uns ein gleichgültiges und sorgloses Verhalten zu einer solchen Gefahr niemals verzeihen […]. Deshalb meinen wir, dass die entschiedene Zurückweisung der Angriffe der antikommunistischen Kräfte und die entschlossene Verteidigung der sozialistischen Ordnung in der Tschechoslowakei nicht nur Ihre, sondern auch unsere Aufgabe ist.“
Einmarsch der Truppen der „Fünf“
Nach weiteren Treffen der „Fünf“ und Versuchen, Dubcek zur Rücknahme der Reformen zu zwingen, kam es am 21.8.1968 zum Einmarsch der Truppen des „Warschauer Paktes“ in die CSSR. Dubcek und andere führende Vertreter wurden direkt nach Moskau entführt, wo sie zur Unterzeichnung einer Erklärung gezwungen wurden.
Dubcek selbst hatte die Bevölkerung im Vorfeld im Unklaren gelassen über die konkrete Gefahr, indem er von Kompromissen mit den Staaten des Warschauer Paktes sprach. Der, einen Tag nach der Invasion, einberufene Sonderparteitag der KPC rief zu einem einstündigen Proteststreik auf, dem vollständig gefolgt wurde. Ein Aufruf zum Generalstreik und zur Verteidigung der Errungenschaften blieb jedoch aus. Die KP Führung betonte auch nach dem Einmarsch immer wieder, dass die Menschen Ruhe bewahren sollen, statt den Kampf gegen die Besetzer zu organisieren. Die Massen in der ČSSR jedoch waren nicht bereit, sich kampflos besetzen zu lassen. Es entstand ein gemeinsamer Widerstand.
Widerstand gegen die Besetzung
Besonders in den großen Zentren Prag und Bratislava gab es Protestzüge mit hunderttausenden TeilnehmerInnen. Die Menschen versuchten in ihrer Verzweiflung mit Sitzstreiks die Panzer zu behindern, es wurden Barrikaden gebaut und die Straßenschilder zur Behinderung der Aktionen der Besatzer entfernt. Die Menschen verteilten Flugblätter in russischer Sprache an die Soldaten, um sie aufzuklären, dass es sich hier nicht, wie von der UdSSR-Staatsspitze behauptet, um einen faschistischen Putsch in der CSSR handelt. Daraufhin mussten tatsächlich Einheiten ausgetauscht werden, da diese mit den Protestierenden sympathisierten.
Auch international kam es zu Protesten gegen den Einmarsch, so protestierten zum Beispiel in London 5000, in der DDR 4000, in Jugoslawien 200.000 Menschen. Doch es gab keine organisierte Kraft, die den Widerstand entschieden anführte. Der Staatspräsident Svoboda flog nach Moskau und forderte die Freilassung von Dubcek und Co. Dies geschah dann auch – nach der Unterzeichnung des Moskauer Protokolls. In diesem wurde das Ende des Reformkurses beschlossen, die Wiedereinführung der Pressezensur und Säuberungen der Partei von Radikal-ReformerInnen. Es war die politische Kapitulation. „Im Grunde verpflichteten sich Dubcek und die anderen Politiker dazu, den bereits eine Woche dauernden Widerstand in der Tschechoslowakei zu bändigen. So sollte in gewisser Weise die Zensur eingeführt werden. Schweigend akzeptierten sie auch die Besatzungstruppen im Land.“
Nachdem ein Putschversuch der Moskau-Treuen im KP-Präsidium scheiterte und weiterhin die Reform-Kräfte die Mehrheit stellten, war auch für den Letzten sichtbar, dass der Einmarsch keine gewünschte Hilfe sondern Okkupation war. Umso wichtiger war nun gewesen, dass Dubcek das Moskauer Protokoll unterzeichnete. Hier drückte sich seine Angst vor Machtverlust als Teil der herrschenden Bürokratie und das fehlende Vertrauen in die Arbeiterklasse als eigenständiger politischer Akteur aus. Als Getriebener der Revolution wurde er zu deren Verräter.Die Rückkehr von Dubcek und seinen KP-GenossInnen wurde zunächst freudig von den Menschen gefeiert. „Es war erst einmal eine Genugtuung, dass die Sowjets nachgeben mussten und dem tschechoslowakischen Volk die Gefangenen zurückgaben. Aber Breschnew gab sie nur zurück, damit sie die sowjetische Politik mit eigenhändig umsetzen.“
Die Begeisterung verflog schnell, als die Massen die Folgen spürten. Die vom „großen Bruder“ geforderte sogenannte Normalisierung führte dazu, dass die erkämpften Reformen wieder zurückgenommen wurden. Es begann eine neue Zeit der Repression und die Menschen, die kurz zuvor noch voller Enthusiasmus und Initiative waren, zogen sich nun frustriert zurück. Die selbstständige Arbeit der Gewerkschaften wurde behindert und wieder dem Diktat der Partei unterworfen. Die Arbeiterräte wurden nach und nach aufgelöst, da sie die Arbeit in den Betrieben behindern würde. AktivistInnen wurden verhaftet und verfolgt. Als Zeichen des Protestes verbrannte sich im Januar 1969 der Student Jan Palach auf dem Wenzelsplatz in Prag. Seine Tat löste eine Welle von Protesten aus, die von der KP-Regierung unter Androhung von Gewalt erstickt wurde. Im April 1969 verlor auch Alexander Dubček sein Amt als Parteivorsitzender und wurde später aus der KPC ausgeschlossen.
Nach der Invasion kursierte der bittere Witz: „Gegen jedes der 2000 Worte haben Sie einen Panzer geschickt.“ Die politische Revolution war gescheitert. Frei nach Trotzki hat der Beamte den Arbeiterstaat aufgefressen. Was zum Sieg fehlte, war nicht die Einsatzbereitschaft der Massen, sondern eine revolutionäre Partei mit klarem Programm und Initiative. Die Reformer hatten nie vor, das Zepter der Macht aus der Hand zu geben. Ihnen mangelte es an Vertrauen in die Kraft der Arbeiterklasse und sie wollten keine Veränderungen, die ihre eigenen Privilegien in Frage stellten. Die ArbeiterInnen und Jugendlichen sind in den Wochen und Monaten der Bewegung nach vorn gegangen, politisch erwacht und gewachsen, aber es hat die bewusste Organisierung um ein klares Programm für die Errichtung einer Arbeiterdemokratie gefehlt. Es fehlte die revolutionäre Partei, welche die Kräfte bündelt und die passenden Vorschläge für die weiteren Schritte unterbreitet.
Doch trotz der Niederlage ist der Prager Frühling ein Beispiel dafür, wofür es sich lohnt zu kämpfen. Eine Gesellschaft, in der die Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Der Prager Frühling zeigt die Verbrechen des Stalinismus und wie wenig Sozialismus damit zu tun hat. Dem Frühling folgten eisige Zeiten, aber neue Kämpfe stehen uns heute bevor. Im Mai 1968 hieß es: „Ihre Albträume sind unsere Träume“. Tun wir das unsrige, um die Nacht über diesem System aufziehen zu lassen.
Christine Lehnert ist SAV-Mitglied in Rostock. Angelika Teweleit ist Mitglied der SAV-Bundesleitung.