Vor 90 Jahren Revolution in Deutschland

November RevolutionIm November 1918 stürzten die kriegsmüde deutsche Arbeiterklasse und meuternde Soldaten Kaiser Wilhelm II. und bildeten im ganzen Land Arbeiter- und Soldatenräte, die eine neue politische Macht darstellten.

Der Sozialismus stand auf der Tagesordnung und keine politische Kraft traute sich gegen die Räte oder gegen Sozialismus aufzutreten, so überwältigend war die Macht der revolutionären Bewegung. Und doch markiert die Novemberrevolution nicht den Sieg des Sozialismus und die Machtergreifung durch die Arbeiter- und Soldatenräte, sondern den Auftakt für eine fünf Jahre währende Periode von Revolution und Konterrevolution, die mit der vorübergehenden Erringung gewisser demokratischer und sozialer Rechte, aber auch der Festigung der Macht der Kapitalisten endete und den Weg für den Aufstieg und die Machteroberung der Nazis ebnete. Warum scheiterte diese Revolution? Hätte die Geschichte anders verlaufen können? Welche Lehren sind zu ziehen?

Von Sascha Stanicic

Man kann den Verlauf der Revolution von 1918/19 nicht verstehen, ohne die Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung in den Jahren zuvor zu untersuchen. Deutschland war keine bürgerlich-parlamentarische Demokratie, sondern ein Kaiserreich, in dem für das mit eingeschränkten Rechten und dem Kaiser statt dem Volk verantwortlichen Parlament ein Drei-Klassen-Wahlrecht bestand. Die Stimmen der Arbeiter (Frauen hatten ohnehin kein Wahlrecht) zählten weniger als die Stimmen des Bürgertums, der Großgrundbesitzer (Junker) und des Adels. Die deutsche Bourgeoisie (Kapitalistenklasse) war in der Revolution von 1848 zu zögerlich und zu feige gewesen, eine demokratische Republik zu erkämpfen – vor allem weil sie aus Angst vor der zu eigenständigem Klassenbewusstsein erwachenden Arbeiterschaft das Bündnis mit den alten Mächten vorzog. Die kapitalistische Entwicklung Deutschlands fand also in einem Staat statt, der weiterhin Elemente des Mittelalters trug. Diese Entwicklung von großer Industrie vollzog sich im Vergleich zu anderen kapitalistischen Mächten, vor allem England und Frankreich, verspätet, zum Ende des 19. Jahrhunderts aber sehr dynamisch.

Deutsche Industrieproduktion

1867-1902 (1913=100)

1867-1875: 20

1876-1886: 27

1887-1893: 39

1893-1902: 57

SPD vor dem Krieg

Im Schoße dieser kapitalistischen Entwicklung entstand in Deutschland die stärkste Arbeiterbewegung aller Länder – SPD und Gewerkschaften. Der Versuch, die Sozialdemokratie durch ein Verbot („Sozialistengesetz“) unter Bismarck von 1878 bis 1890 vom Aufbau abzuhalten, schlug fehl. Die illegale Partei und ihre vielfältigen Vorfeldorganisationen wuchsen rapide an und sozialdemokratische Kandidaten erhielten von Wahl zu Wahl mehr Stimmen. Dies war Ausdruck des starken Wirtschaftsaufschwungs, der die Reihen der Arbeiterklasse wachsen ließ und ihr Selbstbewusstsen steigerte, aber auch der unerschrockenen und kämpferischen Tätigkeit der SPD.

Die Partei galt als Modell und leuchtendes Vorbild für ihre Bruderparteien in der 1889 gegründeten Sozialistischen Internationale. Sie berief sich auf den Marxismus, verstand sich als revolutionär und hatte sich die Erkämpfung einer sozialistischen Gesellschaft auf die Fahnen geschrieben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab die SPD 90 Tageszeitungen heraus, die zusammen 1,4 Millionen Abonnenten hatten. Sie hatte insgesamt wahrscheinlich bis zu 15.000 hauptamtliche Mitarbeiter. Sie leitete starke Arbeitersport-, Frauen- und Jugendbewegungen. In den Worten der späteren KPD-Führerin Ruth Fischer war die Sozialdemokratie für Millionen ArbeiterInnen eine „Art zu Leben“.

Doch die kontinuierlichen Fortschritte im Aufbau der Partei, die Erfolge bei der Verbesserung der Lage der arbeitenden Bevölkerung während des langen Wirtschaftsaufschwungs, die Herausbildung einer besser gestellten Schicht von Facharbeitern (so genannte Arbeiteraristokratie) und die Entwicklung eines materiell privilegierten und abgehobenen Parteiapparats ließen in der Sozialdemokratie eine reformistische Praxis entstehen, die sich ganz auf die unmittelbaren Tagesaufgaben konzentrierte und den Sozialismus nur noch als Fernziel propagierte. Das Programm der Partei unterteilte sich schematisch in ein Minimal- und ein Maximalprogramm. Eine Verbindung zwischen Lohnkämpfen oder dem Kampf gegen das Drei-Klassen-Wahlrecht mit dem Kampf für Sozialismus fand praktisch nicht statt. Es entwickelte sich die Illusion, dass der Sozialismus „automatisch“ am Ende des stetigen Wachstums der Sozialdemokratie erreicht würde. Diese Praxis fand ihren Ausdruck in der Theorie des Revisionismus, wie sie von Eduard Bernstein formuliert wurde. Dieser wollte den Marxismus revidieren. Seine Anschauungen spitzte er in der Aussage zu „Die Bewegung ist alles, das Ziel ist nichts.“

In der Partei führte das zum sogenannten Revisionsmusstreit, in dessen Verlauf sich drei Flügel heraus bildeten: die Revisionisten (rechter Flügel), das marxistische Zentrum um Karl Kautsky und die Linksradikalen um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Das marxistische Zentrum hielt in Worten am Marxismus fest, akzeptierte aber die reformistische Praxis der Partei. Kautsky war der international anerkannte Theoretiker des Marxismus nach dem Tode von Friedrich Engels und auch die russischen Bolschewiki um Lenin verstanden sich bis zum Jahr 1914 als Unterstützer Kautskys. Während Revisionisten und Zentrum im hauptamtlichen Parteiapparat und den Parlamentsfraktionen ein starkes organisiertes Rückgrat hatten, standen die Linksradikalen nur in lockerer Verbindung zueinander. Auch wenn die Partei auf ihren Kongressen 1901 und 1903 den Revisionismus zurück wies, änderte das nichts an ihrer reformistischen Praxis. Der SPD Sekretär Ignaz Auer drückte das in einem Brief an Bernstein mit den Worten aus, man sage solche Dinge, wie Bernstein sie vorschlage nicht, man mache sie einfach! Kautsky war der Meinung, die SPD sei zwar eine revolutionäre, aber keine revolutionmachende Partei.

Erster Weltkrieg

Der deutsche Kapitalismus war bei der Aufteilung der Welt unter die Kolonialmächte zu spät gekommen. Mit der Macht der Großkonzerne aus der Eisen-, Stahl- und Chemieindustrie und den Schiffswerften war auch deren Drang nach Expansion gewachsen. Aufrüstung und Krieg versprachen einen Absatzmarkt für Rüstungsprodukte. Landeroberungen sollten den Zugang zu Rohstoffen, Absatzmärkten und billigen Arbeitskäften sichern. Der Erste Weltkrieg stand vor der Tür.

Bis zum Ausbruch des Krieges dominierte in der Arbeiterbewegung die Opposition gegen diesen. Noch am 25. Juli 1914 schrieb das SPD-Organ ‚Vorwärts‘: „Der Weltkrieg droht! Die herrschenden Klassen, die Euch im Frieden knebeln, verachten, ausnutzen, wollen Euch als Kanonenfutter missbrauchen. Überall muss den Gewalthabern in den Ohren klingen: Wir wollen keinen Krieg! (…) Hoch die internationale Völkerverbrüderung.“ Die Sozialistische Internationale hatte Beschlüsse gefasst, die ihre Mitgliedsparteien zur Opposition gegen den Krieg verpflichten sollten. Massendemonstrationen wurden organisiert. Doch als es so weit war, handelte die SPD- und Gewerkschaftsführung nach dem Motto ‚was schert mich mein Geschwätz von gestern‘ und reihte sich in die Reihen der Kriegsbefürworter und Vaterlandsverteidiger ein – in Deutschland und allen Ländern der Sozialistischen Internationale mit der Ausnahme von Russland, wo Lenins Bolschewiki dem Zarenreich die Unterstützung versagten, Serbien und Bulgarien. Am 4. August 1914 stimmte die sozialdemokratische Reichstagsfraktion den Kriegskrediten zu. In der Fraktionssitzung hatten noch 14 Abgeordnete gegen eine Zustimmung votiert. Aber sie alle, auch Karl Liebknecht, beugten sich bei dieser ersten Abstimmung der Fraktionsdisziplin und stimmten im Reichstag entgegen ihrer Überzeugung. Liebknecht wertete das später als schweren Fehler. Die Führungen der Gewerkschaften hatten schon am 2. August ihren Verzicht auf selbständige gewerkschaftliche Aktionen während des Krieges („Burgfrieden“) erklärt. Der Schock für die internationalistischen Kräfte der Arbeiterbewegung war groß. Selbst Lenin wollte die Nachricht aus Berlin nicht glauben und dachte, die entsprechende Ausgabe des ‚Vorwärts‘ sei eine Fälschung.

Diese Politik der SPD-Führung war logische Konsequenz aus der Preisgabe ihres revolutionären Charakters und ihrer Anpassung an den Kapitalismus. Die Bürokraten und Abgeordneten hatten in ihrer großen Mehrheit Frieden mit dem Kapitalismus geschlossen und die Perspektive einer Machtergreifung durch die Arbeiterklasse aufgegeben. Um ihre gut dotierten Pöstchen nicht zu verlieren, durften sie auch die herrschende Ordnung nicht gefährden.

Linke in der SPD

Diese Politik ihrer Führung ließ in der Arbeiterklasse ein hohes Maß an Verwirrung entstehen. Die einen ließen sich von der Kriegsbegeisterung und den Versprechen auf einen raschen Sieg mitreißen, andere waren geschockt.

Der russische Revolutionär Leo Trotzki, der bei Kriegsbeginn im Wiener Exil lebte, erklärt in seiner Autobiographie die Begeisterung für den Krieg unter den einfachen Leuten wie dem Halbtschechen Pospischl, so: „Solche Menschen, deren ganzes Leben, tagaus, tagein, in monotoner Hoffnungslosigkeit verläuft, gibt es viele auf der Welt. Auf ihnen beruht die heutige Gesellschaft. Die Alarmglocke der Mobilisierung dringt in ihr Leben ein wie eine Verheißung. Alles Gewohnte, das man tausendmal zum Teufel gewünscht hat, wird umgeworfen, es tritt etwas Neues, Ungewöhnliches auf. Und in der Ferne müssen noch unübersehbarere Veränderungen geschehen. Zum Besseren? Oder zum Schlimmeren? Selbstverständlich zum Besseren: kann es den Pospischl schlimmer ergehen als zu ‚normalen‘ Zeiten?

Ich wanderte durch die Hauptstraßen des mir so gut bekannten Wien und beobachtete die für den prunkvollen Ring so ungewöhnliche Menschenmenge, in der Hoffnungen lebendig wurden. Und hatte sich ein Teilchen dieser Hoffnungen nicht schon heute verwirklicht? Hätten sich zu einer anderen Zeit die Gepäckträger, Waschfrauen, Schuhmacher, Gehilfen und die Halbwüchsigen der Vorstadt auf der Ringstraße als Herren der Lage fühlen können? Der Krieg erfasst alle, und folglich fühlen sich die Unterdrückten, vom Leben betrogenen mit den Reichen und Mächtigen auf gleichem Fuße. (…) Wie die Revolution wirft auch der Krieg das ganze Leben, von oben bis unten, aus dem Geleise. Aber die Revolution richtet ihre Schläge gegen die bestehende Macht. Der Krieg dagegen festigt in der ersten Zeit die Staatsmacht, die in dem durch den Krieg entstandenen Chaos als die einzige sichere Stütze erscheint … bis derselbe Krieg sie untergräbt.“

In der SPD gab es von Anfang an Opposition gegen den Krieg, aber die BasisaktivistInnen, die ihre internationalistischen und sozialistischen Überzeugungen nicht über Bord werfen wollten waren konfrontiert mit einer Welle des Patriotismus, mit der Propaganda und der Einforderung von Disziplin durch ihre Führung und mit staatlicher Repression bzw. Einberufung zum Militär. Vor allem aber waren die KriegsgegnerInnen überhaupt nicht organisiert. Nun rächte sich, dass Luxemburg, Liebknecht und andere des linken Parteiflügels keine organisierte marxistische Fraktion aufgebaut hatten, wie Lenin es mit der bolschewistischen Fraktion in der russischen Sozialdemokratie seit 1903 gemacht hatte. Verbindungen mussten oftmals neu und mühsam aufgebaut werden. Es gab kein zentrales Organ der KriegsgegnerInnen, mit dem sie Gleichgesinnte hätten politisch und organisatorisch zusammen halten können.

Im September 1914 gaben Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, der Marx-Biograph Franz Mehring und die bedeutendste Führerin der proletarischen Frauenbewegung Clara Zetkin eine gemeinsame Erklärung in Opposition zur Politik der SPD-Führung ab. Am 22. Oktober forderten die sozialdemokratischen Abgeordneten im Preußischen Abgeordnetenhaus Frieden zu schließen und die fünf oppositionellen SPD-Abgeordneten verließen den Parlamentssaal in einem Akt des Protests vor der Schlussrede des Präsidenten. Und schließlich stellte sich Karl Liebknecht am 2. Dezember alleine im Reichstag gegen die Kriegstreiber und Sozialpatrioten (so nannten die Linken die sozialdemokratischen Kriegsbefürworter) und votierte als einziger gegen die Kriegskredite. Mit diesem Akt der Verweigerung wurde er für die Mehrheitssozialdemokraten und Kriegstreiber zum Vaterlandsverräter, für die wachsende Zahl der sich nach Frieden sehnenden ArbeiterInnen und Soldaten in Deutschland und international wurde er durch seinen einsamen Widerstand im Reichtstag zur Symbolfigur des Kampfes gegen den Krieg und für Sozialismus. In seiner schriftlichen Begründung erklärte er: „Dieser Krieg, den keines der beteiligten Völker selbst gewollt hat, ist nicht für die Wohlfahrt des deutschen oder eines anderen Volkes entbrannt. Es handelt sich um einen imperialistischen Krieg. (…) Der Krieg ist kein deutscher Verteidigungskrieg. (…) Ein schleuniger, für keinen Teil demütigender Friede, ein Friede ohne Eroberungen ist zu fordern (…) Nur ein auf dem Boden der internationalen Solidarität der Arbeiterklasse und der Freiheit aller Völker erwachsener Friede kann ein gesicherter sein. So gilt es für das Proletariat aller Länder, auch heute im Kriege gemeinsame sozialistische Arbeit für den Frieden zu leisten.“

Die Opposition gegen den Krieg wuchs in dem Maße, wie deutlich wurde, dass er länger dauern würde und wie sich die Lage der Massen unter den Kriegsbedingungen verschlechterte. In der SPD waren es nicht nur die Revolutionäre um Liebknecht und Luxemburg, die sich mehr und mehr gegen den Krieg äußerten, sondern auch Mitglieder des Zentrums. Im März 1915 stimmte neben Liebknecht auch Otto Rühle gegen die Kriegskredite und 30 weitere SPD-Abgeordnete verließen den Saal, um an der Abstimmung nicht teilzunehmen. Im Juni 1915 unterschrieben eintausend SPD-Funktionäre verschiedener Strömungen einen Protestbrief gegen die Politik der Parteiführung. Im April desselben Jahres hatten Rosa Luxemburg und Franz Mehring die erste und einzige Ausgabe der Zeitschrift ‚Die Internationale‘ herausgebracht. Sie sollte dazu dienen eine klare marxistische Analyse der Situation zu liefern und die marxistischen Kräfte zu sammeln. Diese nannten sich fortan ‚Gruppe Internationale‘. Die meisten AutorInnen, darunter auch Clara Zetkin, Käte Duncker und August Thalheimer, gehörten zu den späteren GründerInnen der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Rosa Luxemburg brachte die Haltung der revolutionären MarxistInnen auf den Punkt, indem sie argumentierte, dass nur der Weg zur Macht der Arbeiterklasse auch der Weg zu Frieden und zum Wiederaufbau der Sozialistischen Internationale sei. Diese Einschätzung bestätigte sich in den darauffolgenden Jahren, denn dem Weltkrieg wurde ein Ende bereitet durch die sozialistische Oktoberrevolution in Russland und endgültig durch die deutsche Revolution im November 1918.

Doch die Gruppe Internationale blieb ein loser Zusammenschluss, was auch damit zusammen hing, dass Rosa Luxemburg und andere aus dem bürokratischen Charakter der SPD zu weitgehende Schlussfolgerungen in die andere Richtung, gegen verbindliche Organisationsstrukturen und -disziplin, zogen. Hinzu kam staatliche Repression. Aufgrund der Zensur konnte ‚Die Internationale‘ nicht weiter erscheinen. Karl Liebknecht war im Februar 1915 zur Front eingezogen worden und Rosa Luxemburg wurde im selben Monat ins Gefängnis gesteckt.

So konnte keine dieser beiden wichtigsten Führungspersonen der marxistischen Linken in Deutschland an der ersten internationalen Zusammenkunft sozialistischer KriegsgegnerInnen im September 1915 im schweizerischen Zimmerwald teilnehmen.

Nach einer Konferenz der Gruppe Internationale im Januar 1916, auf der das Bekenntnis zum Sozialismus und Kampf gegen den Krieg genauso bestätigt wurde, wie die Bedeutung der Internationale als entscheidender Organisation für die Arbeiterklasse, kam es zu einem deutlicheren Bruch zwischen den revolutionären MarxistInnen und den schwankenden Kräften des Zentrums. Auf dieser Konferenz wurde auch beschlossen, eigenes Material regelmäßig heraus zu bringen. Dieses illegale Material wurde mit ‚Spartacus‘, in Anlehnung an den heroischen Führer der Sklavenaufstände im Römischen Reich, unterzeichnet. Fortan wurde die Gruppe Internationale als Spartakusgruppe bekannt.

Der Widerstand wächst

Im Jahr 1916 wuchs die Kriegsmüdigkeit in der Arbeiterklasse. Angesichts von 250.000 getöteten deutschen Soldaten vor Verdun und wachsender Lebensmittelknappheit entlud sich die Unzufriedenheit in ersten Protesten und Streiks. Am 1. Mai hatte die Spartakusgruppe zu einer Demonstration am Potsdamer Platz in Berlin aufgerufen. Liebknecht sprach zu 10.000 DemonstrantInnen und forderte ein Ende des Krieges und den Sturz der Regierung, woraufhin er verhaftet wurde. Am Tag seines Gerichtsprozesses kam es zu einem Proteststreik von über 50.000 ArbeiterInnen in Berlin und Demonstrationen in Stuttgart, Bremen und Braunschweig. Liebknecht wurde durch sein mutiges und entschlossenes Handeln gegen den Krieg zur internationalen Symbolfigur für Sozialismus, Internationalismus und den Kampf gegen den Weltkrieg. Seine Losung ‚Der Hauptfeind steht im eigenen Land‘ brachte die zentrale Aufgabe der Arbeiterklasse und der sozialistischen Kräfte in jedem kriegführenden imperialistischen Land zum Ausdruck: den Kampf gegen die ‚eigene‘ Kapitalistenklasse und für die internationale Macht der Arbeiterklasse führen, als einziges Mittel den Weltkrieg zu beenden.

Der Druck aus der Arbeiterklasse wirkte sich in der SPD aus und die Opposition gegen den Krieg wuchs sowohl unter den Abgeordneten, als auch in der gesamten Partei. Im Reichstag hatten die Kriegsgner in der SPD-Fraktion die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft gegründet. Diese wurde nach ihrer ersten Konferenz im Jahr 1917 aus der SPD ausgeschlossen und gründete dann die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD). Die Februarrevolution in Russland, die den Zaren stürzte, hatte große Auswirkungen auf Deutschland und heizte die Opposition gegen den Krieg weiter an. Der despotische Zar, der von den Kriegstreibern als Hauptfeind präsentiert worden war, war nicht mehr, aber der Krieg gegen Russland wurde trotzdem weiter geführt. Die USPD wuchs schnell zu einer Massenpartei, die mit 120.000 Mitgliedern fast die Hälfte der 1917 noch bestehenden SPD-Mitgliedschaft mit nahm. Sie war eine breite Partei, die unterschiedlichste Kräfte und Strömungen aus der Arbeiterklasse umfasste, selbst der Begründer des Revisionismus, Eduard Bernstein, fand sich aufgrund seiner pazifistisch motivierten Kriegsgenerschaft in der USPD wieder. Die zentristischen Führer, wie Hugo Haase und Karl Kautsky, wurden von den Ereignissen und dem Druck der Massen getrieben und bildeten die Partei eher widerwillig. Mit ihnen trat auch die Spartakusgruppe in die USPD ein und hielt darin eine selbständige Existenz als Zusammenschluss revolutionärer MarxistInnen aufrecht und setzte die eigenständige Publikationstätigkeit fort. Auch die Berliner revolutionären Obleute traten der neuen Partei bei. Diese waren ein klandestiner (geheimer) Zusammenschluss von ca. 80 sozialistischen und gewerkschaftlichen Vertrauensleuten, die eine breite Basis in den Berliner Industriebetrieben hatten und neben Spartakus den linken Flügel der USPD bildeten. Die USPD war eine neue Massenpartei der deutschen Arbeiterklasse, ohne klare marxistische Programmatik, Strategie und Taktik, aber mit der Möglichkeit für revolutionäre Strömungen offen zu agieren und mit einer sich radikalisierenden Entwicklungsdynamik. Als Massenabspaltung aus der traditionellen Arbeiterpartei SPD hatte sie von Beginn an eine breite Massenbasis und tiefe Verankerung in der Arbeiterklasse. Manche Kräfte in der heutigen Partei DIE LINKE ziehen schon einmal den Vergleich mit der USPD. Doch damit würde man der LINKEn zu viel der Ehre antun. Bei allem Wankelmut ihrer Führer – Zentrismus definiert sich als ‚revolutionär in Worten, reformistisch in Taten‘ – war die USPD doch von ihrem Selbstverständnis eine klar sozialistische Partei, die für die Sozialisierung (Verstaatlichung) der großen Industrien und Banken und für die Machtergreifung durch die Arbeiterklasse eintrat. Und sie hatte eine tiefe Verankerung unter betrieblichen und gewerkschaftlichen AktivistInnen. DIE LINKE hat noch einen weiten Weg vor sich, um das zu erreichen und die dominierenden Teile ihrer Führung verteidigen die Marktwirtschaft und orientieren die Partei in eine andere Richtung.

Nur in einigen Städten, vor allem Bremen, Hamburg und Dresden, bildeten sich links von der USPD revolutionäre Oganisationen, die sich ‚Links-Radikale‘ nannten, mit einem gewissen Einfluss in der Arbeiterklasse. Diese bildeten im November 1918 die Internationalen Kommunisten Deutschlands und nahmen im Dezember an der Gründung der KPD teil. 1917 sahen die Führer der Spartakusgruppe noch die Notwendigkeit in der USPD zu agieren, um die sich radikalisierenden Massen, die in die USPD strömten oder sich an ihr orientierten zu erreichen und sich nicht zu isolieren.

Im Verlauf des Jahres 1917 verschlechterten sich die Lebensbedingungen der deutschen Arbeiterklasse dramatisch. In der Kälte des Winters 1917/18 starben tausende Kinder. Die Kindersterblichkeitsrate war seit 1913 um 50 Prozent gestiegen. Die Lebensmittelrationen wurden gekürzt. Im April 1917 streikten 300.000 ArbeiterInnen in Berlin und Leipzig. An der Front hatten die Soldaten die Nase voll vom Krieg, es kam zu einer ersten Meuterei von Matrosen.

Der Sieg der russischen Arbeiter- und Soldatenräte in der Oktoberrevolution 1917 hatte enorme Auswirkungen in Deutschland und verstäkte die Hoffnungen auf ein Ende des Kriegs. Die ersten Dekrete der neuen russischen Regierung unter Führung von Lenin und Trotzki enthielten ein Angebot zu einem sofortigen Waffenstillstand und einem demokratischen Frieden ohne Annexionen und unter Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Dann veröffentlichte die Arbeiterregierung die Geheimverträge der Vorgängerregierungen mit der Entente (den mit Russland verbündeten Mächten) und erklärte, dass sie auf alle in diesen Verträgen Russland versprochenen Gebiete verzichte. Im Januar entwickelten sich dann die bis dahin größten Massenstreiks in Deutschland, als über eine Million Streikende gegen die schrecklichen Bedingungen, die Deutschland dem russischen Arbeiterstaat im Frieden von Brest-Litowsk aufzwang, protestierten.

Reformen von oben

Unzufriedenheit und Unruhe in der Arbeiterklasse und unter Soldaten nahmen zu. Mit dem Eintritt der USA in den Krieg wurde immer deutlicher, dass Deutschland diesen nur verlieren konnte. Desertionen nahmen zu. Die Herrschenden ergriff Panik und sie versuchten, die sich entwickelnde Revolution von unten durch Reformen von oben zu verhindern. So wurde am 4. Oktober eine neue Regierung mit dem Prinzen Max von Baden als Kanzler eingesetzt, an der erstmals auch zwei Sozialdemokraten teilnahmen, Scheidemann und Bauer, und die erstmals dem Parlament gegenüber verantwortlich war. Eine Amnestie für politische Gefangene wurde erlassen, die Liebknecht die Freiheit brachte. Rosa Luxemburg wurde weiter in ‚Schutzhaft‘ fest gehalten. Doch diese Maßnahmen waren zu wenig und erfolgten zu spät. Als das deutsche Oberkommando der Hochseeflotte befahl, zu einer Seeschlacht mit der englischen Flotte auszufahren, die an der deutschen Niederlage nichts mehr hätte ändern können, aber den sicheren Tod von 80.000 Matrosen bedeutet hätte, revoltierten diese und weigerten sich auszufahren. Das war am 3. November der eigentliche Beginn der Revolution.

Es ist kein Zufall, dass der erste Widerstand in der Armee sich in der Marine entwickelte, wo es schon zuvor zu einer Meuterei gekommen war. In der ‚Illustrierten Geschichte der deutschen Revolution‘ heißt es dazu: „Die Bedienung eines so komplizierten Werkes der Technik, wie es ein modernes Kriegsschiff ist, erfordert entsprechend qualifizierte Mannschaften. Die Matrosen rekrutieren sich deshalb vorwiegend aus der Industriearbeiterschaft. Auch der Gegensatz zwischen dem Wohlleben der Offizier und dem Elend und der Rechtlosigkeit der Mannschaften trat nirgends so krass in Erscheinung wie auf den Kriegsschiffen.“

Die Meuterei begann in Kiel. Ein Arbeiter- und Soldatenrat übernahm die Kontrolle über die Stadt. Dieser entsandte Botschafter der Revolution in andere Städte und die Revolution breitete sich innerhalb weniger Tage auf das ganze Land aus. Am 4. November war die gesamte Flotte erfasst. Dann folgten Lübeck, Bremen, Hamburg und in den folgenden Tagen viele andere Städte von Leipzig bis Köln und von Frankfurt bis München.

In Berlin, wie auch in anderen Städten, hatten revolutionäre Arbeiter und Soldaten schon illegale Räte gebildet. Liebknecht nahm an den Sitzungen des Vollzugsausschuss genannten Leitungsgremiums dieser Räte teil. Hier wurde am 2. November diskutiert für den 4. November eine bewaffnete Demonstration durchzuführen, die den revolutionären Aufstand einleiten sollte. Kurze Zeit später, bei einer Vollversammlung der revolutionären Obleute, wurden Zweifel geäußert, ob die Arbeiter dafür bereit und eine solche Aktion ausreichend vorbereitet sei. Die Aktion wurde auf den 11. November vertagt. Liebknecht kritisierte in diesen Tagen die Haltung vieler USPD-Vertreter und revolutionärer Obleute, die ein zu großes Gewicht auf die technische Seite des Aufstandes legten und mit der Losung „alles oder nichts“ sich gegen Massendemonstrationen aussprachen. In seinen Aufzeichnungen sind folgende Notizen zu finden: „Unsere Auffassung, dass es zwischen den bisher üblichen Demonstrationen und dem revolutionären Endkampf Möglichkeiten, Zwischenstufen gäbe, in denen sich das Heranreifen für den Endkampf beschleunigen kann, wird wiederum, wie auch bei anderen Beratungen als revolutionäre Gymnastik ironisiert und abgelehnt. (…) Die Massenbewegung ist das allein Wesentliche. Große Massen auf den Straßen sind auch gegen Militär und Polizei das Stärkste, selbst wenn unbewaffnet. Sie erschweren den polizeilichen oder militärischen Waffengebrauch und sind der stärkste Druck zur Fraternisierung (Verbrüderung) oder doch Demoralisation der bewaffneten Macht.“

Revolution!

Letztlich überholte die in Kiel einsetzende Revolution die revolutionären Obleute, die dann unter dem Druck der Massen und aufgrund der Sorge, die Mehrheits-Sozialdemokratie könne Initiativen ergreifen, um eine Bewegung unter ihre Kontrolle zu bekommen, am 8. November den Entschluss fassten für den darauffolgenden 9. November zur Aktion aufzurufen. Und an diesem Tag nahmen die Arbeiter und Soldaten die Hauptstadt des Kaiserreichs ein und Kaiser Wilhelm II. dankte ab. Liest man Berichte über die letzten Tage und Stunden des Kaiserreichs, über die Weigerung des Kaisers abzudanken und den Entschluss des Prinzen Max von Baden dies ohne die Zustimmung Wilhelms II. zu verkünden und den SPD-Führer Friedrich Ebert zum Reichskanzler zu ernennen, bekommt man eine Vorstellung von der Machtlosigkeit der Mächtigen, wenn die Massen der Arbeiterklasse entschlossen in Aktion treten. Aus diesen Beratungen der SPD-Führer mit den Vertretern des Kapitalismus stammt der berühmte Ausspruch Eberts: „Wenn der Kaiser nicht abdankt, dann ist die soziale Revolution unvermeidlich. Ich aber will sie nicht, ja ich hasse sie wie die Sünde.“ Die Annahme des Kanzleramtes aus den Händen des scheidenden Kaisers durch Ebert drückt aus, dass die SPD-Führung nicht nur die Revolution hasste, sondern es auch vorgezogen hätte, die Monarchie zu bewahren. Im Kampf gegen die Revolution bildete Ebert ein Bündnis mit dem Generalquartierhauptmeister Groener, zu dem er eine geheime Telefonverbindung unterhielt. Groener selber nannte es ein Bündnis „gegen die Gefahr der Bolschewiken und gegen das Rätesystem“.

Als Scheidemann um 14 Uhr vom Balkon des Reichstagsgebäudes vor demonstrierenden Arbeitermassen spontan, weil die Stimmung der Massen erfassend, die ‚deutsche Republik‘ ausrief, schlug Ebert mit der Faust auf den Tisch und schrie ihn an: „Du hast kein Recht die Republik auszurufen!“ Darin drückte sich aus, dass Ebert mit General Groener in Geheimabsprachen die Möglichkeit offen gehalten hatte, die Monarchie zu retten.

Zwei Stunden später proklamierte Karl Liebknecht vom Balkon des Berliner Schlosses ebenfalls die Republik – aber die sozialistische! Liebknecht wird mit diesen Worten zitiert: „Ich proklamiere die freie sozialistische Republik Deutschland, die alle Stämme umfassen soll, in der es keine Knechte mehr geben wird, in der jeder ehrliche Arbeiter den ehrlichen Lohn seiner Arbeit finden wird. Die Herrschaft des Kapitalismus, der Europa in ein Leichenfeld verwandelt hat, ist gebrochen. (…) Wenn auch das Alte niedergerissen ist, dürfen wir doch nicht glauben, dass unsere Aufgabe getan sei. Wir müssen alle Kräfte anspannen, um die Regierung der Arbeiter und Soldaten aufzubauen, um eine neue staatliche Ordnung des Proletariats zu schaffen, eine Ordnung des Friedens, des Glücks und der Freiheit unserer deutschen Brüder und unserer Brüder in der ganzen Welt. Wir reichen ihnen die Hände und rufen sie zur Vollendung der Weltrevolution auf. Wer von euch die freie sozialistische Republik Deutschland und die Weltrevolution erfüllt sehen will, erhebe seine Hand zum Schwur.“ Nicht ein Demonstrant erhob keine Hand. Der Ruf ‚Hoch die Republik‘ erschütterte den Schlossplatz.

Am 10. November schrieb ein Theodor Wolff im ‚Berliner Tageblatt‘ über die Revolution: „Die größte aller Revolutionen hat wie ein plötzlich losbrechender Sturmwind das kaiserliche Regime mit allem, was oben und unten dazu gehörte, gestürzt. Man kann sie die größte aller Revolutionen nennen, weil niemals eine so fest gebaute, mit soliden Mauern umgebene Bastille so in einem Anlauf genommen worden ist. Es gab noch vor einer Woche einen militärischen und zivilen Verwaltungsapparat, der so verzweigt, so ineinander verfädelt, so tief eingewurzelt war, dass er über den Wechsel der Zeiten hinaus seine Herrschaft gesichert zu haben schien. Durch die Straßen von Berlin jagten die grauen Autos der Offiziere, auf den Plätzen standen wie Säulen der Macht die Schutzleute, eine riesige Militärorganisation schien alles zu umfassen, in den Ämtern und Ministerien thronte eine scheinbar unbesiegbare Bureaukratie. Gestern früh war, in Berlin wenigstens, das alles noch da. Gestern nachmittag existierte nichts mehr davon …“

Doch Liebknecht sollte Recht behalten, die Aufgabe war noch nicht vollendet, auch wenn die alte Ordnung zusammen gebrochen war. Die überall entstehenden Räte der ArbeiterInnen und Soldaten waren die tatsächliche Machtinstanz in den Tagen der Revolution. Aber die ArbeiterInnen und Soldaten waren sich weder ihrer Macht bewusst, noch hatten sie ein Programm bzw. eine Vorstellung, wie der Sozialismus – den alle wollten – erreicht werden könnte. Sie hatten auch keine revolutionäre Führung in Form einer revolutionären Partei mit Massenbasis, die für ein solches Progamm in den Räten hätte eine Mehrheit gewinnen können, wie es die Bolschewiki ein Jahr zuvor in Russland getan hatten.

Der marxistische Historiker Pierre Broué, der die deutsche Revolution intensiv untersucht hat, schreibt: „Die Bewegung war so mächtig, dass sich ihr niemand offen entgegenzustellen versuchte: nicht nur gaben die Mehrheitssozialdemokraten ihre Zustimmung zu den Räten, sondern sogar die Führer des Generalstabs, an ihrer Spitze Hindenburg, akzeptierten sie. Die einzige Frage war, ob die Räte das bleiben würden, was sie praktisch am 9. November waren: die einzige Machtquelle, die alleinige Autorität, oder ob sie, nur als Übergangsgebilde geduldet, auf kurze oder lange Sicht durch eine andere Herrschaftsform abgelöst werden sollten, nämlich durch den mittels Wahl einer Nationalversammlung wieder hergestellten alten bürgerlichen Staat. Um die Räte und die Nationalversammlung ging der wahre Kampf – der des Staates: Arbeiterstaat oder bürgerlicher Staat, Rätestaat, Sowjetrepublik oder bürgerlich-parlamentarische Republik … Der revolutionäre Aufschwung, die unmittelbare Initiative der Massen war so stark, dass die Räte sich überall gebildet hatten, und in ihrem Schoße mussten die Vertreter der bürgerlichen Ordnung den Kampf führen, um sie zu beseitigen, indem sie sich in den Rahmen der Räteherrschaft, die sie vorab nicht zurückweisen konnten, erst einmal fügten, um sie dann von innen umso radikaler zu zerstören.“

Tatsächlich führten alle Feinde des Sozialismus den Sozialismus im Munde, um die Massen zu täuschen und zu lähmen. Selbst der Direktor der Nationalbank, ein gewisser Herr Goldschmidt, sagte: „Der wirtschaftliche Sozialismus, in vernünftigen Formen angewandt, wird heute auch von den führenden Stellen des Wirtschaftslebens als durchaus berechtigt angesehen.“ Zur Speerspitze der Konterrevolution wurde die Führung der Sozialdemokratischen Partei, zum größten Hindernis der Revolution aber die Führung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei.

weiter zum zweiten Teil