Marxismus und die nationale Frage

Einleitung zu dem Buch „Die Linke und das Recht auf Selbstbestimmung“ erschienen im Manifest Verlag. 

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Die nationale Frage ist wie ein Minenfeld. Gerade in der aktuellen Phase der kapitalistischen Entwicklung hat sie an brennender Aktualität zugenommen. An allen Ecken und Enden der Welt haben sich nationale Konflikte verschärft oder als gelöst betrachtete Konflikte sind neu aufgebrochen.

Von Sascha Staničić

Das gilt für neokoloniale Länder wie Kaschmir, Kamerun oder Sri Lanka genauso wie für die ehemals stalinistischen Staaten, die aus der Sowjetunion hervorgegangen sind, sowie für Kurdistan, Palästina oder (Ex-)Jugoslawiens und auch für entwickelte kapitalistische Staaten, siehe Schottland, Katalonien, Nordirland, das Baskenland oder die nationalen Konflikte in Belgien und Italien.

Jeder dieser nationalen Konflikte hat seinen spezifischen Charakter und bedarf der Ausarbeitung eines eigenen, konkreten Programms. Es gibt nicht auf jede nationale Frage dieselbe Antwort, sondern so viele Antworten, wie es nationale Fragen gibt. Diese Antworten sind aber nur zu finden, wenn man die marxistische Methode anwendet, die vor allem von Lenin ausgearbeitet und vom Komitee für eine Arbeiterinternationale (englische Abkürzung: CWI, internationale sozialistische Organisation, der die SAV angeschlossen ist) weiterentwickelt wurde.

Lenin hat die Losung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen ausgearbeitet und sie in endlosen Debatten innerhalb der internationalen Sozialdemokratie zu Beginn des Jahrhunderts verteidigt. Er konnte sich dabei auf Marx und Engels stützen, die zum Beispiel in der irischen Frage für die Freiheit Irlands eintraten oder auch nach der deutschen Revolution 1848 die Freiheit der von den Deutschen unterjochten Völker forderten. Marx betonte, dass das englische Volk seine Freiheit nicht erkämpfen kann, bevor nicht das irische Volk seine Freiheit erlangt hat. Und für Lenin war das das »grundlegende Prinzip des Internationalismus und des Sozialismus: Nie kann ein Volk, das andre Völker unterdrückt, frei sein«.1

Nationalstaat und Rolle der Arbeiterklasse

Trotzki sagte zur Rolle von Nationalstaaten: »Die Sprache ist das wichtigste Instrument der Verbindung zwischen Mensch und Mensch, folglich auch – der Wirtschaft. Sie wird zur nationalen Sprache gleichzeitig mit dem Siege des Warenverkehrs, der eine Nation zusammenfasst. Auf dieser Basis entsteht der nationale Staat als bequemste, vorteilhafteste und normalste Arena der kapitalistischen Beziehungen.«2

Der Nationalstaat war also eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung der Produktivkräfte in der neu entstandenen kapitalistischen Gesellschaft. Er ist die der kapitalistischen Produktionsweise entsprechende Staatsform.

Für Frankreich, Deutschland oder Italien bedeutete das die Überwindung von Kleinstaaterei und nationaler Zersplitterung, für Österreich-Ungarn, die Türkei und Russland bedeutete das aber, dass mit dem Aufkommen bürgerlich-demokratischer Bewegungen zentrifugale Kräfte entfaltet wurden. Diese Staaten waren Staaten in denen verschiedene Nationalitäten zusammen lebten, bzw. in denen bestimmte Nationen unterdrückt wurden. Die Entwicklung hin zum Erwachen der Nationen im Rahmen bürgerlich-demokratischer Bewegungen hatte zur Folge, dass es in diesen Fällen Tendenzen zur Lostrennung aus den großen Staaten gab.

Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen zu verwirklichen ist also eine Aufgabe der bürgerlichen Revolution. Aufgrund der konkreten Situation in Russland, der historischen Verspätung mit der die russische Bourgeoisie auf die Bühne der Geschichte getreten war, sah Lenin aber die Arbeiterklasse als die einzig mögliche Trägerin der Erkämpfung der nationalen Freiheiten: »Gegner der Freiheitsbestrebungen der Ukrainer ist die Klasse der großrussischen und polnischen Gutsbesitzer, sodann die Bourgeoisie ebendieser beiden Nationen. Welche gesellschaftliche Kraft ist fähig, diesen Klassen Paroli zu bieten? Das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hat eine faktische Antwort gegeben: Diese Kraft ist einzig und allein die Arbeiterklasse, die mit sich die demokratische Bauernschaft führt. (…) Bei einheitlichem Vorgehen der großrussischen und der ukrainischen Proletarier ist eine freie Ukraine möglich, ohne eine solche Einheit kann davon nicht einmal die Rede sein.«3

Lenin sah, als er dies 1913 schrieb, die Aufgabe der Arbeiterklasse Russlands noch darin die bürgerliche Revolution zu führen. Trotzki hatte mit seiner Theorie der permanenten Revolution schon darauf hingewiesen, dass die Arbeiterklasse, indem sie die Staatsmacht erobert, sofort wird darangehen müssen nicht nur die Aufgaben der bürgerlichen Revolution zu erfüllen, sondern auch daran zu gehen den Kapitalismus abzuschaffen und sozialistische Aufgaben zu erfüllen. 1939 schrieb Trotzki zur immer noch aktuellen ukrainischen Frage: »Das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung ist natürlich ein demokratisches und kein sozialistisches Prinzip. Da jedoch die Prinzipien wahrer Demokratie in unserer Epoche nur vom revolutionären Proletariat unterstützt und verwirklicht werden, sind sie mit den sozialistischen Aufgaben eng verknüpft.«4

Das Selbstbestimmungsrecht bei Lenin

Lenin ging von der Situation in Russland aus, das er als Nationalitätengefängnis bezeichnete. Hier lebte eine Mehrheit von Menschen der unterschiedlichsten Nationen unter der Herrschaft des großrussischen Zarenreiches, wobei die GroßrussInnen nur 47 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Der Kampf gegen die nationale Unterdrückung spielte für Lenin eine große Rolle. Er sah voraus, dass revolutionäre Entwicklungen im Zarenreich unweigerlich auch zu einem Erwachen des nationalen Bewusstseins der unterdrückten Völker führen müssen. Lenin wandte sich aufs Schärfste gegen jede Form nationaler Unterdrückung, nationaler Privilegien und Ungleichheiten und forderte die Gleichheit aller Nationen und Sprachen. Dies fand seinen Ausdruck in der Losung des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen, was er (und die marxistische Bewegung insgesamt) immer als das Recht auf staatliche Lostrennung verstanden hat.

Dabei betonte Lenin immer wieder, dass es darum gehe grundsätzlich für dieses Recht einzutreten und nicht automatisch in jeder Situation für die Umsetzung dieses Rechtes, also die staatliche Lostrennung, einzutreten.

In der Auseinandersetzung mit Rosa Luxemburg sagte diese, das Programm der Bolschewiki laufe auf eine Unterstützung der bürgerlich-nationalistischen Kräfte der unterdrückten Nationen heraus. Für sie waren Sozialismus und Unterstützung nationaler Bewegungen unvereinbar. Sie lehnte die Unterstützung der Bildung neuer Kleinstaaten grundsätzlich ab und sah darin ausschließlich einen gesellschaftlichen Rückschritt. Als Polin und Mitglied der polnischen revolutionären Bewegung lehnte sie die Wiederherstellung Polens ab und sah darin vor allem einen wirtschaftlichen Rückschritt.

Lenin entgegnete ihr, dass sie, wenn sie die Losung des Rechtes auf Selbstbestimmung für die Völker des Zarenreiches ablehne de facto die großrussische Bourgeoisie und den großrussischen Nationalismus und dessen Fortexistenz unterstütze.

Dabei ging er ausschließlich von den Erfordernissen des Klassenkampfes und der Notwendigkeit der internationalen Einheit der Arbeiterklasse aus und verfiel nicht in eine unkritische Unterstützung nationaler Bewegungen.

Der Kampf um die Einheit der Arbeiterklasse fand bei Lenin unter anderem den Ausdruck, dass er zwar für das Selbstbestimmungsrecht der Völker eintrat, gleichzeitig aber für die Einheit der ArbeiterInnen aller in Russland lebenden Nationalitäten in einheitlichen Parteien und Gewerkschaften kämpfte.

Um aber das Vertrauen der Arbeiterklasse einer unterdrückten Nation zu erlangen, musste die Arbeiterklasse der unterdrückenden Nation keinen Zweifel daran lassen, dass sie für die freie Selbstbestimmung der unterdrückten Nation eintritt. Dies ist eine Voraussetzung, um zur Einheit der ArbeiterInnen zu kommen. Es kann also notwendig sein, einen Umweg zu machen bzw. wie Trotzki es formulierte: einen Kompromiss.

Da wir keine positive Einstellung zu irgendeinem Nationalismus haben, ist das marxistische Programm zur nationalen Frage in erster Linie ein negatives – es richtet sich gegen Unterdrückung, gegen Entrechtung, gegen Privilegien.

Lenin legte großen Wert darauf davor zu warnen, zu weit zu gehen und auch nur irgendetwas am Nationalismus zu bejahen. Er kämpfte gegen die Losung der »nationalen Kultur« und sagte dazu: »Die Losung der nationalen Kultur ist ein bürgerlicher Betrug. Unsere Losung ist die internationale Kultur des Demokratismus und der Arbeiterbewegung der ganzen Welt.« Und: In jeder nationalen Kultur gibt es – seien es auch unentwickelte – Elemente einer demokratischen und sozialistischen Kultur, denn in jeder Nation gibt es eine werktätige und ausgebeutete Masse, deren Lebensbedingungen unvermeidlich eine demokratische und sozialistische Ideologie erzeugen. In jeder Nation gibt es aber auch eine bürgerliche (und in den meisten Fällen noch dazu erzreaktionäre und klerikale) Kultur, und zwar nicht nur in Form von »Elementen«, sondern als herrschende Kultur. Deshalb ist die »nationale Kultur« schlechthin die Kultur der Gutsbesitzer, der Pfaffen, der Bourgeoisie. (…)

Wenn wir die Losung der »internationalen Kultur des Demokratismus und der Arbeiterbewegung der ganzen Welt« aufstellen, so entnehmen wir jeder nationalen Kultur nur ihre demokratischen und ihre sozialistischen Elemente; entnehmen sie nur und unbedingt als Gegengewicht zur bürgerlichen Kultur, zum bürgerlichen Nationalismus jeder Nation. 5

Nationalismus von Unterdrückern und Unterdrückten

Lenin kämpfte gegen den Nationalismus der Unterdrückernationen genauso wie gegen den Nationalismus der Bürgerlichen der unterdrückten Nationen. In ihm sah er genauso den Versuch die Arbeiterklasse zu verwirren und vom Kampf für internationalen Sozialismus abzulenken.

In den nationalen Bewegungen unterdrückter Völker sah er aber fortschrittliche Elemente und diese waren zu unterstützen, mehr aber nicht: »Der Grundsatz der Nationalität ist in der bürgerlichen Gesellschaft unvermeidlich, und der Marxist, der mit dieser Gesellschaft rechnet, erkennt die geschichtliche Berechtigung nationaler Bewegungen durchaus an. Damit aber diese Anerkennung nicht zu einer Apologie des Nationalismus werde, muss sie sich strengstens auf das beschränken, was an diesen Bewegungen fortschrittlich ist, damit sie nicht zur Vernebelung des proletarischen Klassenbewusstseins durch die bürgerliche Ideologie führe.

Fortschrittlich ist das Erwachen der Massen aus dem feudalen Schlaf, ihr Kampf gegen jede nationale Unterdrückung, für die Souveränität des Volkes, für die Souveränität der Nation. Daher die unbedingte Pflicht des Marxisten, auf allen Teilgebieten der nationalen Frage den entschiedensten und konsequentesten Demokratismus zu verfechten. Das ist in der Hauptsache eine negative Aufgabe. Weiter aber darf das Proletariat in der Unterstützung des Nationalismus nicht gehen, denn dann beginnt die ‚positive‘ (bejahende) Tätigkeit der nach Stärkung des Nationalismus strebenden Bourgeoisie.6

Hier sehen wir schon eine andere Herangehensweise an den Nationalismus einer unterdrückten Nation und den Nationalismus einer unterdrückenden Nation. Der Nationalismus eines Deutschen ist immer reaktionär, denn er trachtet nicht nach der Aufhebung von Unterdrückung, sondern nach Expansion und weiterer imperialistischer Ausbeutung. Der Nationalismus eines Kurden hat in sich die Rebellion gegen Unterdrückung und Unfreiheit und damit ein revolutionäres Potenzial. So bezeichnete Trotzki den Nationalismus der lettischen Arbeiter und Bauern als die nationalistische Schale um einen bolschewistischen Kern.

Wobei wir auch hier zwischen dem Nationalismus eines kurdischen Arbeiters oder Bauern und eines kurdischen Großgrundbesitzers oder Bourgeois unterscheiden. Der erste hat keinerlei reaktionäre Motive bei seinen Bestrebungen zur nationalen Freiheit, wobei der zweite sich durch die nationale Befreiung zum neuen Herrscher über die kurdischen ArbeiterInnen und BäuerInnen aufschwingen will und unweigerlich auch andere nationale Minderheiten, wenn sie denn in einem möglichen Staatsgebiet existieren, unterdrücken wird und seinerseits expansive Bestrebungen entwickeln wird. Genau das erlebten wir im Fall der bürgerlichen Führung der kosovarischen Unabhängigkeitsbewegung, wo die UCK dazu übergegangen war, die serbische und romanische Minderheit zu vertreiben.

Für Lenin ist nationale Selbstbestimmung auch kein Selbstzweck oder immerwährendes Prinzip. Er ordnet sie den Erfordernissen des Klassenkampfes unter und spricht davon, dass den MarxistInnen in erster Linie die Selbstbestimmung des Proletariats innerhalb der Nationen interessiert.

Aber gerade die internationale Einheit der Arbeiterklasse kann für einen Zeitraum staatliche Lostrennung erfordern, um nämlich die Arbeiterklasse einer unterdrückten Nation davon zu überzeugen, dass die Arbeiterklasse einer unterdrückenden Nation keine unterdrückerischen Ziele verfolgt und um ihr die Möglichkeit zu geben, in der unterdrückten Nation eine Klassendifferenzierung zu ermöglichen und zum Bruch der Arbeiterklasse mit den nationalistischen Führern zu kommen.

Die Herangehensweise der Bolschewiki wird im folgenden Zitat aus dem »ABC des Kommunismus« von Nikolai Bucharin und Evgenij Preobraschenski deutlich: »Setzen wir den Fall, die Sowjetmacht sei in England und Irland verkündet, d.h. in einem unterdrückenden und einem unterdrückten Lande. Nehmen wir ferner an, die irischen Arbeiter haben kein besonderes Vertrauen zu den Arbeitern Englands, zu den Arbeitern jenes Landes, das sie jahrhundertelang unterdrückt hat. Nehmen wir an, sie wollen die vollständige Lostrennung von England. Diese Lostrennung ist wirtschaftlich schädlich. Welchen Standpunkt sollen in diesem Falle die englischen Kommunisten einnehmen? Sie dürfen auf keinen Fall gewaltsam, d.h. so wie es die englische Bourgeoisie getan hat, Irland zu einem Bund mit sich zwingen. Sie müssen Irland die volle Möglichkeit bieten sich loszutrennen.

Warum? Erstens, um ein für allemal den irischen Arbeitern zu zeigen, dass nicht die englischen Arbeiter, sondern die englische Bourgeoisie Irland unterdrückte, und sie müssen auf diese Weise das Vertrauen der irischen Arbeiter gewinnen.

Zweitens, damit die irischen Arbeiter sich durch die Erfahrung überzeugen, dass die selbständige Existenz für einen Kleinstaat nicht von Vorteil ist. Damit sie durch die Erfahrung lernen, dass sie nur in enger staatlicher und wirtschaftlicher Gemeinschaft mit dem proletarischen England und anderen proletarischen Staaten die Wirtschaft ordnen können.

Nehmen wir weiter an, irgendeine Nation mit einer bürgerlichen Regierung will sich von einer Nation mit proletarischer Ordnung lostrennen, wobei die Arbeiterschaft der Nation, die sich lostrennen will, in ihrer Mehrheit oder zum großen Teil für die Lostrennung ist. Nehmen wir an, sie sei misstrauisch nicht nur gegen die Kapitalisten, sondern auch gegen die Arbeiter jenes Landes, dessen Bourgeoisie sie unterdrückte. Am besten ist es auch in diesem Falle. es dem Proletariat zu ermöglichen, mit seiner Bourgeoisie unter vier Augen zu bleiben, damit sie ihm nicht fortwährend sagen kann: nicht ich unterdrücke dich, sondern dieses oder jenes Land. Die Arbeiterklasse wird bald merken, dass die Bourgeoisie nur darum die Selbständigkeit anstrebt, damit sie selbständig das Proletariat schinden kann. Die Arbeiterschaft wird sehen, dass das Proletariat des benachbarten Räte-Staates sie zum Bunde ruft, nicht um es auszubeuten, es zu unterdrücken, sondern zur gemeinsamen Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung.

Trotzdem also die Kommunisten gegen die Abtrennung des Proletariats eines Landes von dem eines anderen Landes sind, besonders, wenn diese Länder wirtschaftlich miteinander verknüpft sind, können sie sich doch mit einer zeitweiligen Lostrennung einverstanden erklären. So lässt eine Mutter das Kind einmal das Feuer berühren, damit es nicht zehnmal danach greife.«7

Nationalitätenpolitik der Bolschewiki

Diese Politik wandten die Bolschewiki nach der Oktoberrevolution an und sie war eine notwendige Voraussetzung für den Sieg der Revolution und vor allem den Sieg im Bürgerkrieg.

Schon im zweiten Dekret der Sowjetregierung vom 25.10.1917 spricht die neue Arbeiterregierung davon, dass den in Russland lebenden Nationen das wirkliche Recht auf Selbstbestimmung gesichert wird. Vier Prinzipien wurden beschlossen:

1. Gleichheit und Souveränität aller Völker Russlands

2. Das Recht der Völker Russlands auf freie Selbstbestimmung bis zur Lostrennung und Bildung eines selbständigen Staates

3. Abschaffung aller und jeglicher nationalen und national-religiösen Privilegien und Beschränkungen

4. Freie Entwicklung der nationalen Minderheiten und ethnographischen Gruppen, die das Territorium Russlands bevölkern

Das führte zum Beispiel zur Entlassung Finnlands in die Unabhängigkeit und auch zur Anerkennung der ukrainischen Unabhängigkeit, was in diesen Ländern erst einmal zur Errichtung bürgerlicher Regime führte, aber im Fall der Ukraine war es doch die notwendige Voraussetzung das Vertrauen der Massen zu gewinnen und die Sowjetmacht später auch dort zu etablieren.

Trotzdem ordneten die Bolschewiki das Recht auf nationale Selbstbestimmung den Interessen der proletarischen Revolution unter. Es war ein Zugeständnis an die konkrete Situation, an das Massenbewusstsein in den unterdrückten Völkern und diente dazu, das Bündnis der ArbeiterInnen der verschiedenen Völker stärken schmieden zu können. Trotzki bezeichnete dies als einen historischen Kompromiss: »Der entschiedene Kampf der bolschewistischen Partei für das Recht der unterdrückten Nationen Russlands auf Selbstbestimmung hat dem Proletariat die Machteroberung außerordentlich erleichtert. Der proletarische Umsturz löste auch die demokratischen Aufgaben, vor allem das Agrarproblem und die Nationalitätenfrage, wodurch die russische Revolution einen kombinierten Charakter erhielt. Das Proletariat hatte sich bereits sozialistische Aufgaben gestellt, doch es konnte auch die Bauernschaft und die unterdrückten Nationalitäten (in ihrer Mehrheit Bauern), die noch mit der Lösung ihrer demokratischen Aufgaben beschäftigt waren, nicht sofort auf dieses Niveau heben. Das erklärt die historisch unvermeidbaren Kompromisse in der Agrar- und in der Nationalitätenfrage. Trotz der ökonomischen Vorteile landwirtschaftlicher Großbetriebe war die Sowjetregierung gezwungen, die großen Güter aufzuteilen. Erst Jahre später ging die Regierung zur Kollektivwirtschaft über und wagte sich sofort zu weit, so dass sie nach einigen Jahren gezwungen war, den Bauern Zugeständnisse in Form von privatem Hofland zu machen, das vielerorts die Kolchosen zu überwuchern droht. (…) Der föderative Aufbau der Sowjetrepublik stellt einen Kompromiss dar zwischen den zentralistischen Bedürfnissen der Planwirtschaft und den dezentralistischen Bedürfnissen der vormals unterdrückten Nationen. Da die bolschewistische Partei den Arbeiterstaat auf einem Kompromiss – dem Föderalismus – aufgebaut hat, verankerte sie in der Verfassung das Recht der Nationalitäten auf vollständige Loslösung von Russland; die Partei gab damit zu verstehen, dass sie die nationale Frage keineswegs für endgültig gelöst hielt.«8

Als aber 1921 der Bürgerkrieg die gewaltsame Sowjetisierung Georgiens notwendig machte, stellten die Bolschewiki die Verteidigung des Arbeiterstaates vor formal-demokratische Prinzipien der nationalen Selbstbestimmung. Ein Jahr später gab es Auseinandersetzungen zwischen Stalin und Lenin bezüglich der nationalen Frage, die die grundlegende Herangehensweise Lenins verdeutlichen und Stalins bürokratisch-zentralistische Tendenzen schon zum Vorschein brachten.

Die durch die Oktoberrevolution entstandene Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR) war als ein Bundesstaat verschiedener Nationalitäten konzipiert. Die nichtrussischen Gebiete hatten jedoch kaum Gewicht, da die Revolution erst nach Jahren des Bürgerkrieges in der Ukraine, Weißrussland und in den kaukasischen und mittelasiatischen Republiken siegte. Als es dann 1922/23 um die Bildung der Sowjetunion ging, legte Stalin den sogenannten Autonomisierungsplan vor, der vorsah, dass diese Gebiete nur als autonome Gebiete in die RSFSR eintreten sollten. Lenin hingegen setzte sich für eine gleichberechtigte Struktur eigenständiger Sowjetrepubliken in einer Föderation ein und setzte sich auch durch. Der Gedanke einer Föderation beinhaltet dabei immer das Recht sich wieder loszutrennen. 9

Nationale Frage heute

In der aktuellen Phase der kapitalistischen Entwicklung sehen wir eine ungeheure Zunahme von Nationalismus und Separatismus. Außer den Wiedervereinigungen Deutschlands und Jemens, die aber vor allem spezifische Formen der sozialen Konterrevolution, als Folgen nationaler Bewegungen waren, sehen wir international das Auseinanderbrechen von Staaten und starke nationale bzw. regionalistische Bewegungen.

In den ehemaligen Kolonien, die nach dem 2. Weltkrieg ihre nationale Unabhängigkeit erlangt haben, sehen wir eine weitere Zersplitterung entlang ethnischer oder religiöser Linien.

Die Ursache für diese Entwicklung ist erstens die tiefe wirtschaftliche und soziale Krise, denn die nationale Frage ist in letzter Instanz eine Frage von Brot, und zweitens die Schwächung der Arbeiterbewegung und des Sozialismus weltweit.

In Indien oder in Afrika waren nach dem Zweiten Weltkrieg unabhängige kapitalistische Staaten auf der Basis von nationalen Befreiungsbewegungen gegen die Kolonialmächte entstanden. Die neuen kapitalistischen Staaten haben zum einen oftmals eine ethnische oder religiöse Gruppe an die Spitze der Gesellschaft gestellt und zu neuen Formen von Ungleichheit und Unterdrückung geführt, vor allem aber waren sie unfähig die sozialen Probleme der Volksmassen zu lösen. Durch den Zusammenbruch des Stalinismus und den Niedergang der Arbeiterbewegung, also dem Mangel an Alternativen, waren nationalistische, ethnische und religiöse Bewegungen in der Lage die Unzufriedenheit und Radikalisierung der Massen für sich auszunutzen.

Hinzu kommt der Zusammenbruch der stalinistischen Staaten, die vielfach Vielvölkerstaaten waren, in denen die nationale Frage nicht gelöst worden war und in denen die kapitalistische Konterrevolution mit dem Zerfall dieser Staaten und der Bildung neuer Nationalstaaten einherging. Das wirft ein Licht auf den Charakter der nationalen Bewegungen, die wir heute sehen. Mit wenigen Ausnahmen sind diese prokapitalistische und zum Teil selber extrem nationalistisch-reaktionäre Bewegungen. Das galt zum Beispiel für die islamistischen Kämpfer in Dagestan oder die UCK, die sich zum Anhängsel des Imperialismus machten. Während in den Unabhängigkeitsbewegungen nach dem 2. Weltkrieg ein stark progressives Element und sozialistische Orientierungen (meist in stalinistisch deformierter Form) vorhanden waren und diese Bewegungen einen antiimperialistischen Charakter trugen, ist dies heute kaum der Fall.

Das bedeutet aber nicht, dass MarxistInnen deshalb nicht mehr auf die nationalen Gefühle der Massen eingehen oder die Losung nach dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen aufgeben. Wir orientieren unser Programm nicht an den bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Führungen von nationalen Bewegungen, sondern an den Interessen und am Bewusstsein der Arbeiterklasse.

Entscheidend ist, einerseits zwar deutlich zu machen, dass wir GegnerInnen jeglicher nationaler Unterdrückung sind, andererseits aber vor Illusionen in die bürgerlichen Führungen zu warnen und deutlich zu machen, dass die nationale Frage in letzter Instanz eine soziale Frage ist und nationale Befreiung mit sozialer Befreiung einhergehen muss, wenn sie zu wirklicher Selbstbestimmung führen soll.

Denn von wirklicher nationaler Selbstbestimmung kann kaum die Rede sein, da die neu entstehenden Nationalstaaten in eine ökonomische und politische und oftmals auch militärische Abhängigkeit von imperialistischen Staaten geraten.

Deshalb müssen wir betonen, dass die Trägerin von wirklicher Selbstbestimmung nur die Arbeiterklasse und unter ihrer Führung die armen Bauern und Bäuerinnen sein können, wenn sie einen Kampf für eine sozialistische Veränderung der Gesellschaft führen.

Die nationale Frage kann nur als Teil des Konzeptes der permanenten Revolution gelöst werden, denn der Kapitalismus ist nicht in der Lage, die bisher nicht erfüllten Aufgaben der bürgerlichen Revolution in den neokolonialen Staaten zu lösen.

Deshalb stellen wir auch in keinem Fall einfach die Forderung nach einem unabhängigen Staat auf, sondern immer nach einem sozialistischen unabhängigen Staat und verbinden dies mit der Idee freiwilliger Föderationen in entsprechenden Regionen.

Allgemein gesprochen ist es nicht das Ziel von MarxistInnen, die Bildung von neuen Staaten voranzutreiben. Wir sind sehr vorsichtig, bevor wir von der Forderung des Rechtes auf Selbstbestimmung zur positiven Unterstützung für die Lostrennung eintreten. Dies gilt natürlich nicht für Staaten, die militärisch von einem anderen Staat besetzt werden oder noch Kolonien sind. So trat Trotzki zum Beispiel für die sofortige Unabhängigkeit der spanischen Kolonien in Marokko ein.

Wenn es um nationale Minderheiten in den Grenzen eines existierenden zentralisierten Staates geht sind wir sehr viel vorsichtiger. Hier machen wir unser Programm vom Massenbewusstsein abhängig und von unserer Einschätzung, ob ein eigenständiger Staat den Prozess der Klassendifferenzierung und des Klassenkampfes beschleunigen würde. Allgemein gesprochen kommen wir nur zu der Position eine Separation zu unterstützen, wenn die breite Mehrheit der arbeitenden Massen, bzw. des fortgeschrittenen und aktiven Teils der Massen diesen Schluss schon gezogen hat oder es, wie in Schottland und Katalonien eine soziale Massenbewegung für Unabhängigkeit gibt, selbst wenn diese nur eine Minderheit der Bevölkerung repräsentiert. Gleichzeitig bleibt dabei unsere erste Aufgabe für die internationale Einheit der Arbeiterklasse zu argumentieren.

Sri Lanka

Diese Methode anwendend hat zum Beispiel die Sektion des CWI auf Sri Lanka, die Vereinigte Sozialistische Partei, immer und auch unter schwierigsten Bedingungen von Bürgerkrieg und diktatorischer Herrschaft des Rajapakse-Regimes von 2005 bis 2015 den Kampf für das Selbstbestimmungsrecht der TamilInnen und für die Rechte der muslimischen Bevölkerungsgruppe geführt.

Das beinhaltete unter anderem, gegen die Idee zu argumentieren, dass gleiche Rechte für alle StaatsbürgerInnen ausreichen, um die berechtigten Ambitionen einer nationalen Minderheit zu erfüllen, da sie durch die Bevölkerungsmehrheit dominiert werden kann. Es beinhaltete aber auch, gegen die politische Begrenztheit und die falschen Methoden des individuellen Terrorismus der als »Tamil Tigers« bekannten nationalen Befreiungsbewegung zu argumentieren, bevor diese durch die Regierung von Sri Lanka militärisch zerschlagen wurden. Letzteres, weil diese Methoden die Spaltung zwischen der singhalesischen Bevölkerungsmehrheit und der tamilischen Minderheit nur vertiefen konnten. Ersteres, weil eine wirkliche Lösung der nationalen Frage in einem neokolonialen Land wie Sri Lanka auf kapitalistischer Basis undenkbar ist.

Die Vereinigte Sozialistische Partei vertritt das Recht auf Selbstbestimmung für die tamilische Bevölkerung und fordert weitgehende Minderheitenrechte für die muslimische Bevölkerung. Sie hat bisher nicht die Forderung nach einem unabhängigen, sozialistischen Tamil Eelam aufgestellt, weil es unter TamilInnen dafür keine deutliche Mehrheitsstimmung gibt und keine soziale Massenbewegung dafür existiert. In den Mittelpunkt rücken unsere GenossInnen auf Sri Lanka die Notwendigkeit des gemeinsamen Kampfes der Arbeiterklasse Sri Lankas über nationale und religiöse Grenzen hinweg für ihre gemeinsamen Interessen und gegen den Kapitalismus.

Kurdistan

Die Kurdinnen und Kurden sind das größte Volk ohne eigenen Staat und leben verteilt auf die vier Staaten Türkei, Syrien, Irak und Iran, in denen sie sehr weitgehender Entrechtung und Unterdrückung ausgesetzt waren bzw. sind. Es sprengt den Rahmen dieses Textes, in der nötigen Ausführlichkeit auf die kurdische Bewegung einzugehen. Dazu haben wir verschiedene Texte veröffentlicht, die auf sozialismus.info und socialistworld.net zu finden sind.

In der komplizierten Gemengelage von Kriegen, ethnischen und religiösen Konflikten und der Intervention unterschiedlicher imperialistischer Mächte, haben sich in den letzten Jahren viele komplizierte Fragen für die kurdische Bewegung gestellt.

In der Türkei war und ist diese von der PKK (Kurdische Arbeiterpartei) unter ihrem inhaftierten Vorsitzenden Abdullah Öcalan dominiert. Die PKK hatte eine lange Zeit einen marxistischen Anspruch und wendete Methoden des Guerillakampfes und des individuellen Terrors an. Öcalan hat eine ideologische und politische Wende eingeleitet, die unter anderem beinhaltete von der Forderung nach einem eigenen kurdischen Staat abzurücken und unter dem Begriff »demokratischer Konföderalismus« eine Autonomie der kurdischen Gebiete innerhalb des türkischen Staates zu fordern.

In den kurdischen Gebieten Syriens ist es der PKK-Schwesterpartei PYD gelungen, die Kontrolle zu erlangen und die autonome Region Rojava auszurufen. Deren Selbstverteidigungseinheiten YPG und YPJ haben internationale Bekanntheit durch ihren heldenhaften Kampf gegen den so genannten Islamischen Staat erlangt.

In Südkurdistan, den im Irak liegenden kurdischen Gebieten, war nach dem Ende des imperialistischen Kriegs gegen den Irak und dem Sturz Saddam Husseins eine Selbstverwaltung errichtet worden, die unter der Kontrolle der von den Familienclans der Barzanis und Talabanis kontrollierten bürgerlichen kurdischen Parteien KDP und PUK steht. In dieser ölreichen »Autonomen Region Kurdistan« entwickelten sich in den letzten Jahren verstärkt soziale Bewegungen und Arbeiterproteste aufgrund der Folgen einer Wirtschaftskrise, die die Region hart getroffen hat. Die Regierung unter dem mittlerweile zurückgetretenen Ministerpräsidenten Barzani hatte einen arbeiterfeindlichen Charakter, bereicherte sich und kooperierte mit den schlimmsten Feinden der Arbeiterklasse in der Region von den USA über den türkischen Staatspräsidenten Erdogan bis zur Regierung des Staates Israel.

Hier fand im Herbst 2017 ein Referendum zur Frage der vollständigen staatlichen Unabhängigkeit statt, das von Barzani ausgerufen wurde, um von innenpolitischen Problemen abzulenken und nach offiziellen Angaben eine übergroße Mehrheit für eine staatliche Lostrennung ergab. Nach dem Referendum rückte die irakische Armee in von der KDP und PUK beanspruchten Gebiete wie das ölreiche Kirkuk vor, in denen es keine klare kurdische Bevölkerungsmehrheit gibt und die kurdischen Peshmerga-Einheiten zogen sich zurück.

Das weist auf eine Herausforderung für die kurdische Bewegung hin. In den Gebieten, in denen sie stark ist und die Kontrolle erlangen kann, muss sie einen Umgang mit anderen ethnischen Bevölkerungsteilen finden, der diese nicht entfremdet. Die PYD hat diesen Anspruch formuliert, indem sie den multiethnischen Charakter von Rojava betont. Gleichzeitig gibt es Grund zur Annahme, dass sie diesem Anspruch nicht immer gerecht wird. Hinzu kommt, dass sie eine militärische Allianz mit den USA eingegangen ist und diese von PYD-Führern in Interviews auch mit gemeinsamen politischen Zielen begründet wurde, die die arabische Bevölkerung verunsichern muss und entfremden kann.

MarxistInnen erkennen an, dass es Situationen geben kann, in denen militärische, taktische Absprachen oder Kooperationen mit kapitalistischen Kräften nötig sind. Dies muss aber offen als Ausnahmeentscheidung erklärt werden und darf nicht dazu führen, dass der politische Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus abgeschwächt wird.

PKK und PYD haben leider faktisch eine antikapitalistische Perspektive aufgegeben und vertreten utopische Positionen einer staatenlosen Gesellschaft im Rahmen der Aufrechterhaltung der bestehenden kapitalistischen Zentralstaaten, in denen sich die kurdischen Gebiete befinden. Die Frage der Überführung der Produktionsmittel in demokratisch verwaltetes Gemeineigentum spielt in ihren Überlegungen keine oder eine untergeordnete Rolle. Die reale Selbstverwaltung in Rojava sticht angesichts von Krieg und Terror in den umliegenden Gebieten positiv heraus und stellt für viele ArbeiterInnen und Jugendlichen einen Hoffnungsschimmer dar, sie ist aber weit entfernt von den Prinzipien sozialistischer Demokratie und bietet auch keine Strategie an, diese zu erreichen. MarxistInnen verteidigen Rojava gegen die Angriffe von außen und machen gleichzeitig Vorschläge, wie der revolutionäre Prozess in Richtung wirklicher demokratischer Machtausübung der einfachen Bevölkerung und sozialistischer Demokratie weiter entwickelt werden kann.

Aus unserer Sicht sind dazu der Aufbau multiethnischer, sozialistischer Arbeiterparteien in der Region nötig, die die Perspektive einer freiwilligen sozialistischen Konföderation von Arbeiterrepubliken im Nahen und Mittleren Osten vertreten.

Der Zerfall Jugoslawiens

Eines der kompliziertesten Felder für die nationale Frage war Jugoslawien in den 1990er Jahren. Hier fiel der Prozess der kapitalistischen Konterrevolution mit dem Anwachsen nationaler Spannungen zusammen und die nationalen Bürokratien, die sich in neue Kapitalistenklassen umwandelten, propagierten den Nationalismus, um die Arbeiterklasse zu spalten und einen möglichst großen Teil des aufzuteilenden Kuchens abzubekommen.

Verkompliziert wurde die Situation noch dadurch, dass es in fast jeder der früheren jugoslawischen Teilrepubliken starke nationale Minderheiten gibt. So die SerbInnen in Kroatien, die wiederum in einem Teil von Kroatien, der Krajina die Bevölkerungsmehrheit stellten, die AlbanerInnen in Mazedonien, die UngarInnen der Vojvodina in Serbien, AlbanerInnen des Kosova in Serbien und wiederum die SerbInnen im Kosova.

Dieses Charakteristikum des Balkan führte dazu, dass Trotzki schon 1912 die Losung einer demokratischen Föderation von Balkanstaaten, als einzige Lösung für die Probleme der Region vorschlug. Damals hatte er die Theorie der permanenten Revolution nur für Russland konzipiert, später sollte er sie generell für die kolonialen und neokolonialen Ländern anwenden und hätte dann, wie wir heute, eine sozialistische Balkanföderation gefordert.

Als es 1991 zu den Referenden über Unabhängigkeit in Slowenien und Kroatien kam, haben wir uns nicht für eine Ja-Stimme für die Unabhängigkeit ausgesprochen. Zuallererst weil die Unabhängigkeit, ähnlich der deutschen Wiedervereinigung, ein entscheidender Teil der Zerschlagung des bürokratischen Arbeiterstaates war. Zum anderen weil, zumindest Kroatien betreffend, klar war, dass ohne die Lösung der serbischen Frage in Kroatien, ein unabhängiges Kroatien Ausgangspunkt für ein Ausbrechen eines Bürgerkriegs sein musste.

Die Unterstützung für die Unabhängigkeit war zwar in beiden Staaten groß, sie erwuchs aber nicht von unten durch wirkliche demokratische, emanzipatorische Bewegungen der Massen. Sie war durch die Propaganda der herrschenden nationalistischen Bürokratien geschaffen worden.

In Bosnien-Herzegowina wäre die Losung der Selbstbestimmung für SerbInnen, KroatInnen oder Muslime und Muslimas gleichbedeutend mit einer Akzeptanz der ethnischen Säuberungen gewesen, da Bosnien-Herzegowina ein nationaler Flickenteppich war und keine Volksgruppe einen eigenständiges Staatsgebiet hätte für sich in Anspruch nehmen können. Dort mussten wir die Frage der multinationalen Arbeiterselbstverteidigung und die gleichen Rechte für alle Volksgruppen in den Mittelpunkt rücken.

Hier haben wir uns immer gegen die Kräfte in der trotzkistischen Bewegung gewandt, die die serbische Bürokratie zum alleinigen Aggressor abgestempelt haben und einen bosnischen nationalen Befreiungskampf konstruierten und de facto zu einer Unterstützung für die bosnisch-nationalistische Regierung kamen, bis dahin, die Vertreibung der serbischen Bevölkerung aus der Krajina als Schlag gegen die Unterdrückernation wohlwollend in Kauf zu nehmen und Waffen für die bosnischen Muslime zu fordern.

Kosova

Die Situation im Kosova stellte sich aber etwas anders dar. Im Vergleich zu Kroatien und Slowenien 1991/92 war die kapitalistische Restauration erst 1998/99 vollzogen.

Hier haben wir die Forderung nach einem unabhängigen, sozialistischen Kosova aufgestellt. Gleichzeitig haben wir volle Minderheitenrechte für die im Kosova lebenden SerbInnen und alle anderen Minderheiten gefordert und eine freiwillige sozialistische Föderation der Balkanstaaten vorgeschlagen. Wir haben positiv die Unabhängigkeit des Kosova unterstützt, weil zum einen im Kosova mindestens achtzig Prozent AlbanerInnen lebten, die sich eindeutig für die Unabhängigkeit ausgesprochen hatten und es keine Grundlage mehr dafür gab, sich für einen Verbleib in einem serbisch dominierten Rest-Jugoslawien auszusprechen, da die Gräben zwischen AlbanerInnen und SerbInnen zu tief waren.

Die Unterdrückung der AlbanerInnen im Kosova war nichts Neues und hatte sich nicht erst in den 1990er Jahren entwickelt. 1913 wurde der Kosova von den Großmächten in Serbien eingegliedert, obwohl es eine bürgerlich-demokratische Bewegung für eine Vereinigung mit Albanien gab. Nach der Errichtung des Tito-Stalinismus wurde den KosovarInnen das Selbstbestimmungsrecht verwehrt. 1981 gab es dann die gewaltsame Niederschlagung eines Aufstandes und 1989 nahm Milošević dem Kosova den 1974 erreichten Autonomiestatus.

In den 1980ern gab es eine Bewegung für den Status einer eigenständigen Republik innerhalb Jugoslawiens. Die KosovarInnen, die die drittgrößte Nation Jugoslawiens waren, wollten dieselben Rechte, wie die SerbInnen, KroatInnen, SlowenInnen, MazedonierInnen, MontenegrinerInnen. Diese Forderung konnte aber am Ende der 1990er Jahre keine Unterstützung mehr gewinnen. Nach den schrecklichen Erfahrungen der Jahre zuvor war in den Augen der Massen die Unabhängigkeit der einzige Weg der gewaltsamen Unterdrückung zu entkommen. Es gab nicht mehr das geringste Vertrauen in ein Bündnis mit Serbien – weder mit den serbischen Herrschern, noch mit dem serbischen Volk.

Während wir hier eine sozialistische Balkanföderation forderten, mussten wir gegenüber albanischen ArbeiterInnen unsere Unterstützung für die Unabhängigkeit betonen, da sie vierzig Jahre Erfahrung mit einer sogenannten sozialistischen Föderation gemacht hatten.

Der Status des Kosova war 1998/99 auch eher mit einem besetzten Gebiet vergleichbar, als mit dem einer nationalen Minderheit, denn seit 1989 gab es reale militärische Besetzung und die Parallelstrukturen der albanischen Bevölkerungsmehrheit.

Als Argumente gegen die damalige Haltung des CWI wurden angeführt:

a. es würde Illusionen in die Überlebensfähigkeit eines eigenen kosovarischen Staates schüren, die nicht gegeben sei

b. von einem unabhängigen, kapitalistischen Kosova würde der Druck zu einem Großalbanien und neuer nationalistischer Horror ausgehen

Aber im Falle des Kosova konnte man nicht das Recht auf Selbstbestimmung einfordern, aber sich gegen Unabhängigkeit aussprechen, da das Massenbewusstsein so klar und deutlich für Unabhängigkeit war.

Wenn MarxistInnen dort den Zeigefinger erhoben und abstrakte Warnungen ausgesprochen hätten ohne gleichzeitig die Forderung nach Unabhängigkeit zu unterstützen, hätten sie sich nur von den albanischen Massen isolieren können.

Die ökonomische Überlebensfähigkeit ist für keinen kapitalistischen Staat alleine gegeben, der Kapitalismus selber ist nicht überlebensfähig, weil er den Nationalstaat nicht überwinden kann. Wenn dies ein Grund sein könnte, wäre es ein Grund in eigentlich allen anderen Fällen auch gegen Unabhängigkeit einzutreten und damit das Recht auf Selbstbestimmung zu negieren – man landet bei Rosa Luxemburg, die die Unabhängigkeit Polens ablehnte, weil diese ökonomischer Rückschritt sei.

Es wäre aber völliger Unsinn gewesen, sich gegen ein unabhängiges, sozialistisches Kosova aus diesem Grunde auszusprechen, wenn die nationale Bewegung zur sozialen Revolution auf dem Gebiet des Kosova geführt hätte. Denn auch wenn ein sozialistischer Kosova auf Dauer nicht überlebensfähig wäre, könnte er sich für eine Zeit halten, die Wirtschaft entwickeln und zum Ausgangspunkt für sozialistische Revolutionen in der gesamten Region werden.

Trotzki schrieb zur ukrainischen Frage im Jahr 1939, als er eine vereinigte, freie und unabhängige Sowjetukraine forderte: »Die Masse des ukrainischen Volkes ist mit ihrem nationalen Schicksal unzufrieden und möchte es radikal ändern. Von dieser Tatsache muss ein revolutionärer Politiker (…) ausgehen.« Und: »Im Vergleich zu einer freiwilligen und gleichberechtigten sozialistischen Föderation ist die Lostrennung der Ukraine natürlich ein Rückschritt; im Vergleich zur bürokratischen Erdrosselung des ukrainischen Volkes ist sie aber zweifellos ein Fortschritt, Um sich enger zusammenzuschließen, muss man sich zunächst trennen.«10

Es ist richtig, dass ein unabhängiges kapitalistisches Kosova, bzw. die Form von albanisch-dominiertem UNO-Protektorat, zu einem Gebilde geworden ist, das seinerseits nationale Minderheiten unterdrückt. Dies unterstützen wir nicht durch unsere Forderung nach einem unabhängigen sozialistischen Kosova. Wir hätten uns schuldig gemacht, wenn wir Illusionen in einen unabhängigen, kapitalistischen Kosova verbreitet hätten oder auf Forderungen für die Minderheitenrechte der SerbInnen verzichtet hätten. Aber aufgrund dieser Entwicklungen auf das Recht auf Selbstbestimmung zu verzichten, hieße de facto die serbische Unterdrückung decken und vorziehen. Nach der faktischen Unabhängigkeit des Kosova ging es darum, das marxistische Programm einer neuen Situation anzupassen.

Die Frage eines Großalbaniens wurde vielfach aufgeworfen. Es ist keine Frage, dass Bestrebungen ein kapitalistisches Großalbanien zu schaffen, nur gewaltsam durchzusetzen sind und zu einer neuen Stufe der Kriege auf dem Balkan führen würden. Deshalb können wir der Idee zum jetzigen Zeitpunkt keine Unterstützung oder Sympathie entgegenbringen. Grundsätzlich können wir aber auch nicht ausschließen, das wir in Zukunft die Forderung nach einem vereinigten sozialistischen Albanien aufstellen in dem die Gebiete mit albanischer Bevölkerungsmehrheit aus dem Kosova, Mazedonien und Albanien selber zusammengeschlossen werden, wenn dies der Wunsch der Massen wird und sich dieser von unten, und nicht in erster Linie durch rechte nationalistische Kräfte, artikuliert. Dann würde aber noch mehr gelten zu erklären, dass dies nur erreichbar ist, wenn die Arbeiterklassen der gesamten Region den Kapitalismus abschütteln und Arbeiterstaaten die nationale Frage nach dem Prinzip der Gleichheit und der Selbstbestimmung regeln würden.

Wir stellen den Sozialismus aber nicht als eine Bedingung für unsere Unterstützung für Unabhängigkeit auf, aber erklären, dass dies unser Programm ist und warnen vor dem Weg der kapitalistischen Unabhängigkeit. Gleichzeitig hätten wir im Falle des Kosova die Anerkennung des Referendums von 1991 fordern sollen, genauso wie wir das später im Falle von dem Referendum in Osttimor machten. Es kommt darauf an demokratische Forderungen mit sozialistischen zu verknüpfen.

Der Umgang mit der Kosova-Frage durch andere sich marxistisch verstehende Organisationen zeigt, welche Fehler man begehen kann, obwohl man sich auf die Methode Lenins und Trotzkis in der Nationalitätenpolitik beruft.

Die britische Socialist Workers‘ Party (SWP) hat die Frage der nationalen Selbstbestimmung für Kosova während des Krieges so gut wie fallengelassen. Sie haben die Hauptaufgabe im Kampf gegen den Nato-Krieg gesehen und sind dabei in die Falle getappt de facto den serbischen Imperialismus aus der Verantwortung zu lassen. MarxistInnen mussten in diesem Krieg einen unabhängigen Klassenstandpunkt einnehmen und den Nato-Angriff genauso bekämpfen wie die serbische Besetzung des Kosova. Dabei stellte die SWP die Unterstützung für ein unabhängiges Kosova mit der Unterstützung für die reaktionäre UCK und den Krieg selber gleich. Chris Harman stellte in einem Artikel den Vergleich an, Lenin habe es abgelehnt den Ersten Weltkrieg dadurch zu rechtfertigen, dass einige Großmächte behaupteten, ihn zur Befreiung Polens zu führen. Es ging aber im Falle des Kosova nicht darum den imperialistischen NATO-Krieg in irgendeiner Form zu rechtfertigen. Lenin selber gibt die Antwort zu seiner Haltung zum Selbstbestimmungsrecht der Nationen während des Ersten Weltkriegs: »Die Tatsache, dass der Kampf gegen eine imperialistische Regierung für die nationale Freiheit unter bestimmten Bedingungen von einer andern ‚Großmacht‘ für ihre ebenfalls imperialistischen Ziele ausgenutzt werden kann, kann die Sozialdemokratie ebensowenig bewegen, auf die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen zu verzichten.«11

Mit der Methode der SWP müsste man Trotzki vorwerfen, seine Unterstützung für eine unabhängige Sowjetukraine 1939 sei Unterstützung für ukrainische bürgerliche Nationalisten gewesen oder Lenin habe in irgendeiner Form die bürgerlichen Nationalisten der unterdrückten Nationen unterstützt.

Die Internationale Marxistische Tendenz (IMT, deutsche sektion: Der Funke) nahm letztlich eine abstrakte Position ein, die besagte, dass das Recht auf Selbstbestimmung ohnehin nur im Sozialismus durchsetzbar ist und daher diese Forderung auch jetzt nicht aufgestellt werden kann. Das ist, allgemein gesprochen, richtig, da auch wir der Meinung sind, dass nur die Arbeiterklasse und eine sozialistische Veränderung zu wirklicher Selbstbestimmung führen kann, aber die Funktion der Losung des Rechtes auf Selbstbestimmung und in bestimmten Fällen der Unterstützung für Separation ist ja gerade einen Weg hin zur sozialistischen Revolution aufzuschlagen und die Massen für den Sozialismus empfänglich zu machen.

Die UIT (Internationale Arbeitereinheit, eine vor allem in Lateinamerika bestehende trotzkistische Strömung aus der »morenistischen« Tradition) hingegen ist ins andere Extrem verfallen und nahm tatsächlich eine unkritische Haltung zur UCK ein, verknüpft die Frage der Unabhängigkeit des Kosova nicht mit einer sozialen Veränderung und förderte de facto den albanischen Nationalismus. Die LIT (Internationale Arbeiter-Liga), die andere Organisation des internationalen Morenismus, ging soweit Waffen für die UCK zu fordern.

Israel und Palästina

Ein anderes Beispiel für einen besonders komplexen Fall der nationalen Frage ist Israel und Palästina.

In der Linken hat sich immer mehr eine Haltung durchgesetzt, die die Verantwortung für den Israel-Palästina-Konflikt gleichermaßen den politischen Akteuren auf beiden Seiten zuschreibt und gleichzeitig wird immer häufiger jedeR mit dem Antisemitismus-Vorwurf belegt, der/die eine grundsätzliche Kritik an der Rolle des Staates Israel in der Region äußert, Das ist angesichts der Blockade Gazas und Besetzung von Palästinensergebieten, des fortgesetzten Siedlungsbaus und der aggressiven, nationalistischen und imperialistischen Politik des Netanjahu-Regimes ein schwerer politischer Fehler.

So wichtig es ist, gegen solche Positionen zu argumentieren, so wichtig ist es auch, einen positiven Lösungsvorschlag für den Nahostkonflikt aus sozialistischer Perspektive zu formulieren, der der Spaltung der Arbeiterklasse in der Region entgegenwirken kann.

In diesem Zusammenhang wird auf der Linken über die Frage nach einer »Ein-Staaten-Lösung« oder »Zwei-Staaten-Lösung«, dem so genannten »Existenzrecht Israels« und dem Charakter der israelisch-jüdischen Bevölkerung diskutiert. Gruppen wie marx21 und die International Socialist Tendency (internationale Strömung, der die britische SWP angehört und aus deren Tradition marx21 kommt) sprechen sich explizit für eine »Ein-Staaten-Lösung« und gegen das so genannte »Existenzrecht Israels« aus.

Die SAV ist der Meinung, dass diese Positionen als Absage an das Selbstbestimmungsrecht der israelisch-jüdischen Bevölkerung verstanden werden müssen und deshalb in letzter Konsequenz der nationalen Spaltung nicht entgegenwirken sondern diese sogar vertiefen können.

Wir beziehen uns dabei auf den Diskussionsbeitrag des marx21-Koordinierungskreises vom Juni 2008 mit dem Titel »Der Weg zum Frieden in Nahost« und den Artikel »Welches Israel?« von Stefan Bornost aus dem Jahr 2011 .

Wir stimmen mit den Grundaussagen, die in dem marx21-Diskussionsbeitrag zur Lage der PalästinenserInnen getätigt werden, weitgehend überein. Vor allem stimmen wir damit überein, dass »durch die fortgesetzte Siedlungspolitik jede Aussicht auf eine territoriale Einheit eines palästinensisches Staates (schwindet)« und dass »unter solchen Bedingungen (…) weder ein gleichberechtigter palästinensischer Staat neben Israel entstehen noch so die Grundlage für eine dauerhafte Beilegung des Konflikts in der Region gelegt werden (kann)« und ein möglicher palästinensischer Rumpfstaat »ökonomisch kaum überlebensfähig« wäre.

Aber von welchen Bedingungen sprechen wir? Der Text benennt als »Ursprungsproblem« die »ethnische Teilung Palästinas«, welche überwunden werden müsse, um eine Lösung des Nahostkonflikts zu erreichen. Um dann zu schlussfolgern: »Dies ist nur möglich, wenn ein gemeinsamer, weltlicher und demokratischer Staat geschaffen wird, in dem Juden, Muslime und Christen mit gleichen Rechten zusammenleben können.«

Diese Analyse ignoriert die klassenpolitische Dimension des Nahostkonflikts, die aus unserer Sicht das »Ursprungsproblem« der ethnischen Teilung determiniert. Israel ist ein Vorposten des westlichen Imperialismus im Nahen Osten zur Durchsetzung imperialistischer Interessen. Die israelische Bourgeoisie braucht die nationale Spaltung in der Region und auch die wiederkehrenden militärischen Auseinandersetzungen mit den PalästinenserInnen, um ihre eigene Herrschaft im Staat Israel gegenüber der »eigenen« Arbeiterklasse aufrechtzuerhalten.

Wenn wir über die »Bedingungen« des Nahostkonflikts sprechen, dürfen wir deshalb nicht nur die ethnische Teilung benennen, sondern müssen die dahinter liegenden Interessen offen legen. In dem gesamten marx21-Diskussionsbeitrag kommen die Begriffe »Kapitalismus«, »Imperialismus« und »Arbeiterklasse« nicht vor. Das ist kein Zufall, denn die dort formulierte Perspektive ist keine antikapitalistische bzw. Klassenperspektive. Dabei heraus kommt Wunschdenken: die Illusion, es wäre möglich einen »gemeinsamen, weltlichen und demokratischen Staat« zu schaffen, in dem »Juden, Muslime und Christen mit gleichen Rechten zusammen leben können« – ohne als Voraussetzung dafür die kapitalistischen Macht- und Eigentumsverhältnisse in Israel und den Palästinensergebieten zu überwinden.

Die SAV und ihre Schwesterorganisation in Israel und Palästina gehen davon aus, dass auf Basis der Herrschaft der israelischen Bourgeoisie, aber auch der palästinensischen Eliten aus Großgrundbesitzern, Unternehmern und PLO- und Hamas-Bürokratie eine Lösung des Nahostkonflikts unmöglich ist. Das bedeutet, dass Trägerin einer Lösung die Arbeiterklassen und die unterdrückten Schichten beider Nationen sein müssen, dass also dem Aufbau gemeinsamer Kämpfe, Bewegungen und Organisationen eine zentrale Bedeutung zukommt und dass jeder Vorschlag für eine solche Lösung Teil einer sozialistischen Perspektive sein muss.

Dass der »Lösungsvorschlag« des marx21-Koordinierungskreises unrealistisch ist, müssen die GenossInnen im nächsten Absatz ihrer Erklärung zugestehen: »Viele Gegner eines gemeinsamen Staates befürchten Übergriffe der arabischen Bevölkerung auf die jüdische Bevölkerung. Tatsächlich wird es angesichts der Erfahrungen der letzten Jahrzehnte dauern, bis die entstandenen Wunden verheilt sind und ein vertrauensvolles Zusammenleben möglich ist. Doch je früher dieser Prozess beginnt, desto größer sind die Chancen, dass er erfolgreich zu Ende geführt wird.«

Wir stimmen darin überein, dass ein Prozess beginnen muss, der ein friedliches Zusammenleben der verschiedenen Volksgruppen im Nahen Osten in Zukunft ermöglichen kann. Aber woraus soll dieser Prozess bestehen und womit soll er beginnen?

Auch diese Frage ist nur zu beantworten, wenn man eine Klassenperspektive einnimmt. Das bedeutet auch die Rolle der israelisch-jüdischen Arbeiterklasse zu erfassen. Es ist richtig, um mit Marx zu sprechen, dass die Arbeiterklasse einer unterdrückenden Nation nur selber frei werden kann, wenn sie sich gegen diese Unterdrückung stellt. Voraussetzung für eine Lösung des Nahostkonflikts ist, dass sich in der israelisch-jüdischen Arbeiterklasse die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts für die PalästinenserInnen durchsetzt. Dies zu erreichen ist jedoch schwierig, denn die israelisch-jüdische Arbeiterklasse ist zwar einerseits Opfer der Klassenherrschaft einer israelisch-jüdischen Bourgeoisie und verschärfter Angriffe auf soziale Rechte, Löhne, Arbeitsbedingungen, aber fühlt sich gleichzeitig in ihrer Sicherheit bedroht durch den nationalen Konflikt. Das Bedrohungsgefühl – verstärkt durch den regelmäßigen Abschuss von Kassam-Raketen auf israelische Städte aus dem Gazastreifen – treibt die israelisch-jüdischen ArbeiterInnen immer wieder in die Arme ihrer Regierungen, die vorgeben, ihren Schutz zu garantieren. Auch wenn die Raketenbeschüsse letztlich auch Ergebnis der Politik der israelischen Regierung sind und diese das größte Sicherheitsproblem für die israelisch-jüdische Bevölkerung darstellt, muss eine linke Strategie für eine Lösung des Nahostkonflikts dieses Bedrohungsgefühl der israelisch-jüdischen Arbeiterklasse berücksichtigen.

Eine Unterstützung des Selbstbestimmungsrechts für die PalästinenserInnen in der israelisch-jüdischen Bevölkerung kann deshalb unmöglich erreicht werden, wenn man dieser die Bildung eines »gemeinsamen« Staates, in dem sie zur Minderheit würden, vorschlägt bzw. zur Bedingung macht. Denn formal gleiche Rechte in einem gemeinsamen Staat bedeuten für eine Minderheit möglicherweise nichts anderes als Benachteiligung und faktische Entrechtung. Das Schicksal der TamilInnen auf Sri Lanka ist dafür ein gutes Beispiel.

Um also den Konflikt zu überwinden sind nach unserer Überzeugung zwei Dinge nötig: erstens die gegenseitige Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts, also auch die Anerkennung des Rechts der israelisch-jüdischen Bevölkerung, einen eigenen Staat zu bilden und zweitens die Betonung der gemeinsamen Klasseninteressen der israelisch-jüdischen und der palästinensischen ArbeiterInnen und Bäuerinnen/Bauern und der Aufbau gemeinsamer Organisationen und Bewegungen im Staat Israel. Das ist der notwendige »Prozess«, der in der Zukunft auch ein Zusammenleben in einem gemeinsamen Staat ermöglichen kann.

Bedeutet das nun, das »Existenzrecht Israels« zu unterstützen? Stefan Bornost von marx21 schreibt dazu: »Die Definition Israels als ‚jüdischer Staat‘ – statt eines weltlichen Staats, in dem Juden und Araber gleichberechtigt zusammenleben -, führt automatisch zur Diskriminierung des arabischen Teils der Bevölkerung. Das Existenzrecht Israels, das grundsätzlich als Existenzrecht des jüdischen Charakters des Staates gedacht ist, rechtfertigt diese Diskriminierung.« Und lehnt eine Zustimmung zum Existenzrecht Israels ab.

Es stimmt: der Staat Israel ist ein reaktionäres, imperialistisches und rassistisches Gebilde. Er hat eine religiös geprägte Verfasstheit und institutionalisiert die Diskriminierung der PalästinenserInnen. Aber das »Existenzrecht Israels« wird gemeinhin nicht verstanden als politische Unterstützung für diesen Staat Israel in seiner gegenwärtigen Verfasstheit und politischen Ausprägung, sondern als Recht der Jüdinnen und Juden auf einen eigenen Staat in den Grenzen Israels von 1967. Dieses Selbstbestimmungsrecht der israelischen Nation, die sich seit der Staatsgründung 1948 entwickelt hat, sollten MarxistInnen unterstützen. Dieses mit dem Hinweis darauf zu negieren, dass der israelische Staat sich als »jüdischer Staat« definiert bzw. als »kolonialer Siedler-Staat« errichtet wurde, bedeutet die seit über 65 Jahren gewachsene Realität zu negieren. Mit einem ähnlichen Argument könnte man das »Existenzrecht« der USA in Frage stellen, die ebenfalls als kolonialer Siedlerstaat begründet wurden. Die israelische Nation ist eine historisch gewachsene Realität, wie es die USA sind. Sie ist in Klassen gespalten und es ist Aufgabe von SozialistInnen, die israelisch-jüdische Arbeiterklasse zu gewinnen. Die Anerkennung ihres Selbstbestimmungsrechts ist dafür eine Voraussetzung, um ihre Unterstützung für den Kampf gegen die Besetzung und für die Rechte der PalästinenserInnen zu gewinnen.

Entscheidend hierfür ist auch im palästinensischen Widerstand auf Massenmobilisierungen zu setzen, statt auf Stellvertreterpolitik durch Hamas oder Fatah. Genauso wichtig ist es aber, den Klassenkampf in Israel voran zu treiben und hier die Voraussetzungen für einen gemeinsamen Kampf von israelischen Jüdinnen und Juden und AraberInnen zu nutzen. Tritt man an die israelisch-jüdische Arbeiterklasse mit dem Vorschlag einer »Ein-Staaten-Lösung« heran, wird es schwer fallen, Gehör für Vorschläge für gemeinsamen Widerstand zu bekommen.

Um aber gegenseitiges Vertrauen aufbauen zu können, müssen beide Seiten deutlich machen, dass sie das Recht der anderen Seite auf einen eigenen Staat akzeptieren. Das ist in der Praxis nicht von den herrschenden Eliten zu erwarten, sondern wäre nur durch den Aufbau einer sozialistischen Arbeiterbewegung zu erreichen.

Aus dieser Perspektive heraus stellt die Schwesterorganisation der SAV in Israel/Palästina folgende Forderungen auf:

  •  Stärkung der Proteste gegen die extreme Rechte und die Regierung des Kapitals und des Siedlungsbaus
  •  Für gemeinsame Demonstrationen von Jüdinnen und Juden und AraberInnen – gegen nationalistische Übergriffe
  •  Schluss mit Polizeibrutalität. Für die Entlassung rassistischer Polizeibeamter
  •  Abzug der israelischen Armee aus den Palästinensergebieten! Schluss mit der Besatzung und dem Siedlungsbau! Schluss mit der Abriegelung des Gaza-Streifens!
  •  Freilassung aller palästinensischer politischer Gefangenen! Für faire und öffentliche Gerichtsverfahren unter Aufsicht von VertreterInnen der arbeitenden Bevölkerung, beider Gemeinden und der Familien der Opfer
  •  Für einen unabhängigen, demokratischen und sozialistischen palästinensischen Staat neben einem demokratischen und sozialistischen Staat Israel. Für Jerusalem als Hauptstadt beider Länder und gleiche Rechte für alle Minderheiten. Für den Kampf für einen sozialistischen Nahen Osten und Frieden in der Region

Natürlich gibt es viele Fragen, die durch die Formel zweier sozialistischer Staaten nicht automatisch gelöst sind. Aber sie können eben nur gelöst werden, wenn die Machtverhältnisse sich ändern und die Arbeiterklassen beider Nationen in freie und demokratische Verhandlungen über diese komplizierten Fragen eintreten können. Dazu gehören unter anderem der Umgang mit den Siedlungen im Westjordanland, das Rückkehrrecht der vertriebenen PalästinenserInnen, die Frage von Minderheitenrechten – also dem Status von Jüdinnen und Juden in einem sozialistischen Palästina und von AraberInnen in einem sozialistischen Israel – in solchen Staaten, der Status von Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt. Wenn eine israelische Arbeiterregierung mit einer palästinensischen Arbeiterregierung diese Fragen verhandeln könnte, kämen sie möglicherweise zu dem Ergebnis, einen gemeinsamen Staat zu bilden. Aber das kann nicht der Ausgangspunkt in sozialistischer Propaganda für die Überwindung des Nahostkonflikts sein, sondern kann nur das Ergebnis sein, wenn eine sozialistische Arbeiterbewegung in der Region erfolgreich ist.

Der Aufbau einer sozialistischen Arbeiterbewegung mag weit weg erscheinen. Aber es ist Aufgabe von SozialistInnen zu sagen, was ist und darauf hinzuweisen, dass Konflikte wie im Nahen Osten vor allem eines deutlich machen: Der Kapitalismus ist unfähig sie zu lösen und Sozialismus damit zur dringenden Notwendigkeit geworden.

Schottland

Für einige LeserInnen wird es nachvollziehbar sein, dass wir in Fällen wie Kosova, wo es offensichtliche, brutale nationale Unterdrückung gab, für die Unabhängigkeit eintreten. Wir tun dies aber auch in Fällen, in denen die nationale Unterdrückung keine offen gewaltsame ist und die nationale Frage weniger offensichtlich ist. Beispiele hierfür sind Schottland und Katalonien.

Grundlage für das Erwachen des schottischen Nationalbewusstseins ist die tiefe und langjährige soziale Krise in ganz Großbritannien. Hinzu kommt, dass sich die SchottInnen über Jahre nicht von der Londoner Zentralregierung vertreten gefühlt haben – sie haben Labour oder SNP gewählt und in Westminster saßen die Tories oder Labour in der Regierung. Die SNP konnte Anfang der 1990er Jahre mit einem linksreformistischen Programm und der Forderung nach Unabhängigkeit ihre Basis unter den radikalisiertesten Teilen der Arbeiterklasse und der Jugend ausbauen. Um den schottischen Nationalismus zu schlagen, mussten unsere GenossInnen einerseits auf die berechtigten nationalen Gefühle der Massen eingehen und andererseits vor einer kapitalistischen Unabhängigkeit warnen und das Bündnis mit der Arbeiterklasse von England, Wales und Irland betonen.

Programmatisch haben wir zuerst weitgehende Autonomie gefordert, später eine Föderation und sind jetzt zur Losung eines unabhängigen, sozialistischen Schottlands als ein Schritt zu einer sozialistischen Allianz von Schottland, England und Wales übergegangen. Dabei beinhaltete die Forderung nach einer Föderation sowieso schon ein unabhängiges Schottland, drückte dies nur nicht so explizit aus. Da aber aufgrund der existierenden Föderationen, wie Deutschland und den USA – die ja gar keine sind – ein falsches Bild von diesem Begriff herrscht, sind Genossen zur expliziten Unterstützung der Unabhängigkeit übergegangen. Auch hier gehen wir bei der Formulierung unseres Programms eben vom Massenbewusstsein aus und nicht von der abstrakten Verteidigung irgendwelcher Staatsgrenzen oder einer grundsätzlichen Opposition zu der Schaffung neuer Staaten. Das bedeutete auch beim Unabhängigkeitsreferendum 2014 für ein Ja zu werben, aber der (klein)bürgerlich-nationalistischen Kampagne, der sich auch viele linke Kräfte angeschlossen hatten, eine sozialistische Unabhängigkeitskampagne entgegenzustellen.

Im Falle von Wales gehen wir nicht so weit, weil das Massenbewusstsein ganz anders aussieht. Dort haben wir die Bildung des walisischen Regionalparlaments unterstützt, fordern aber bisher keine Unabhängigkeit.

Katalonien

Im Jahr 2017 brach der Katalonien-Konflikt mit neuer Heftigkeit aus und erschütterte den spanischen Staat in seinen Grundfesten. Die Haltung zur katalanischen Unabhängigkeitsbewegung war und ist innerhalb der spanischen und internationalen Linken umstritten und hat viele Debatten ausgelöst. Die Bewegung löste im Oktober 2017 eine revolutionäre Krise in Katalonien aus, die geprägt war von enormen Massenmobilisierungen, einem Generalstreik und dem direkten Widerstand gegen die Unterdrückung des Referendums durch den spanischen Zentralstaat und die Regierung Rajoy. Die Linke im spanischen Staat erwies sich als unfähig, das revolutionäre Potenzial dieser Bewegung zu erkennen und zu versuchen, um ihre Führung zu kämpfen. Das wäre möglich gewesen, wenn sie einerseits unmissverständlich den Kampf für eine unabhängige katalanische Republik aufgenommen hätte, andererseits aber diesen mit einem sozialen und sozialistischen Programm gegen Austerität, Erwerbslosigkeit, Zwangsräumungen etc. verbunden hätte. So hätte sie die berechtigte Skepsis gegenüber der bürgerlichen und prokapitalistischen Führung der Bewegung um den katalanischen Regierungschef Puigdemont in Teilen der Arbeiterklasse Kataloniens nutzen und die Brücke zur Arbeiterklasse im Rest des spanischen Staates schlagen können – indem sie zum gemeinsamen Kampf für soziale Rechte, Demokratie und Sozialismus und zum Sturz der Rajoy-Regierung aufgerufen hätte. Da dies nicht geschah, erreichte die Unabhängigkeitsbewegung bestimmte Teile der Arbeiterklasse, vor allem solche spanischen Ursprungs, nicht und konnten die bürgerlichen und sozialdemokratischen Kräfte des katalanischen Nationalismus die Wahlen vom 21. Dezember gewinnen.

Katalonien ist ein gutes Beispiel dafür, dass die nationale Frage gelöst erscheinen kann bzw. nationale Bewegungen und Stimmungen vorübergehend sehr schwach sein können, aber ohne eine Lösung der sozialen Lage der Massen immer wieder wachsen und explodieren können.

Die Benachteiligung und Unterdrückung der katalanischen Nation ist hunderte Jahre alt. Ihr politischer Ausdruck war nicht immer die Forderung nach staatlicher Unabhängigkeit, aber die Herrschenden im spanischen Staat handelten nach der Maxime, alles zu unterdrücken, was ihre uneingeschränkte Macht und die »Einheit Spaniens« gefährden könnte. Höhepunkt der Unterdrückung war die Franco-Diktatur, die von 1939 bis zum Tod des Diktators im Jahr 1975 den spanischen Staat beherrschte und jede Regung von katalanischem Nationalismus unterdrückte – aber nicht ausradieren konnte. Nach dem Ende der Diktatur kam die nationale Frage wieder zum Vorschein (nicht nur in Katalonien, sondern auch im Baskenland und Galizien) und führte zu einem System eingeschränkter Autonomie für 16 Regionen im spanischen Staat. Das Recht auf Loslösung aus diesem Staat wurde jedoch in der Verfassung von 1978 ausgeschlossen. Der Versuch, die Autonomierechte auszuweiten, der 2005 im katalanischen Parlament beschlossen wurde, führte zu heftigen Reaktionen der spanischen Rechten inklusive des Boykotts katalanischer Waren. Dieser Gesetzesentwurf wurde 2010 vom Verfassungsgericht einkassiert, was den KatalanInnen einmal mehr deutlich machte, dass mit Zugeständnissen aus Madrid hinsichtlich größerer finanzieller Autonomie für Katalonien nicht zu rechnen war. Diese Entwicklung fiel zusammen mit der schwersten Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren, die für Millionen von KatalanInnen und SpanierInnen zu Arbeitsplatzverlust, Verlust des Eigenheims, Zwangsräumungen, Verarmung führte. Es ist keine Frage, dass Wirtschaftskrise und Austeritätspolitik die entscheidenden Faktoren waren, die die Unabhängigkeitsbewegung anfachten und die Unterstützung für eine katalanische Republik massiv anwachsen ließen.

1977 hatten zwar 75 Prozent der KatalanInnen für Parteien gestimmt, die die weitgehendere Autonomie aus dem Jahr 1932 wieder einführen wollten, aber nur fünf Prozent unterstützten die Idee der Unabhängigkeit. Im Jahr 2005 waren dies auch nur 13,6 Prozent. 2010 war die Zahl schon auf vierzig Prozent gestiegen. Nach den Erfahrungen mit der brutalen Unterdrückung des Unabhängigkeitsreferendums am 2. Oktober 2017, die an die schlimmsten Zeiten der Franco-Ära erinnerte, ist die Unterstützung für Unabhängigkeit weiter angewachsen, was den Pro-Unabhängigkeitsparteien bei der Wahl zum Regionalparlament am 21. Dezember wieder eine absolute Mehrheit der Sitze (wenn auch nicht der absoluten Stimmen) einbrachte.

Aus dieser sich rasant verändernden Stimmungslage zum Thema Unabhängigkeit, ergibt sich auch, dass MarxistInnen zur Frage der Lostrennung ihre Position anpassen mussten, während sie immer unmissverständlich für das Recht auf Selbstbestimmung, also auch auf staatliche Lostrennung, eingetreten sind. Das galt umso mehr, da es in Katalonien einen nicht unerheblichen Teil der Arbeiterklasse gibt, der spanischer Herkunft ist, und dem Thema Unabhängigkeit mit Skepsis und Sorgen gegenübersteht. Die Izquierda Revolucionaria (Revolutionäre Linke, Schwesterorganisation der SAV im spanischen Staat) hat im Verlauf des Jahres 2017 eine klare Haltung für eine unabhängige sozialistische Republik Katalonien entwickelt und gleichzeitig darauf hingewiesen, dass zum einen die Rechte der nicht-katalanischen Bevölkerung darin gewährt sein müssen und zum anderen der gemeinsame Kampf mit der Arbeiterklasse im Rest des spanischen Staates gegen den Kapitalismus nötig ist. Diese Haltung haben die GenossInnen eingenommen, obwohl es weiterhin nicht ausgeschlossen ist, dass die UnabhängigkeitsbefürworterInnen, ähnlich wie in Schottland, keine Mehrheit bei einem Referendum erringen könnten. Aber diese repräsentieren zur Zeit eindeutig den fortgeschrittenen und kämpferischen Teil der Arbeiterklasse und der Jugend und haben eine dynamische Massenbewegung entwickelt, die das Potenzial zu gesellschaftlicher Veränderung in sich trägt.

Auf der Linken gibt es viele Argumente gegen die Unabhängigkeit Kataloniens, die sie faktisch die spanische Dominanz über das katalanische Volk akzeptieren lassen und leider die Wirkung haben, dass die bürgerliche Führung der Unabhängigkeitsbewegung nicht herausgefordert wird.

Podemos und andere akzeptieren zwar in Worten das Recht auf Selbstbestimmung, machen aber einen »legalen Prozess« zur Vorbedingung für eine katalanische Unabhängigkeit, das heißt konkret die Zustimmung aus Madrid. Angesichts der historisch tief verwurzelten extrem nationalistischen Haltung der spanischen herrschenden Klasse und ihres Staatsapparates kommt diese Haltung einer Vertröstung der Unabhängigkeitsbewegung auf den St. Nimmerleinstag gleich. Eine Lostrennung Kataloniens wäre für die spanischen Kapitalisten eine Katastrophe, deshalb ist nicht zu erwarten, dass sie dem jemals zustimmen werden. Der Gedanke, durch die Wahl einer Linksregierung im spanischen Zentralstaat die Voraussetzungen für eine einvernehmliche Unabhängigkeit Kataloniens zu schaffen, klingt zwar charmant, hat aber nichts mit der realen Dynamik des derzeitigen Kampfes um Unabhängigkeit zu tun.

Selbstbestimmung ist per Definition nicht von der Zustimmung einer anderen Instanz abhängig. Das darf beim Scheidungsrecht so wenig gelten, wie bei der Frage der Selbstbestimmung der Nationen.

Die LINKE-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen hat in einer Erklärung vom 4. Oktober betont, dass die Gründung neuer Nationalstaaten in Europa »jedenfalls kein progressives Element per se (ist), sondern eher dazu angehalten (ist), die Arbeiterklasse nationalistisch zu spalten.« Sie betont auch, dass solche Unabhängigkeitserklärungen gegen das Völkerrecht verstoßen, fordert Verhandlungen zwischen Zentral- und Regionalregierung und den Einsatz von OSZE-BeobachterInnen. Diese Haltung ist völlig in den bestehenden kapitalistischen und institutionellen Verhältnissen verfangen. Abgesehen davon, dass man über das »ob« einer Scheidung nicht verhandeln kann, sollte das so genannte Völkerrecht keine Instanz für Linke und SozialistInnen sein. Dieses wurde nicht von den Völkern selbst, sondern von ihren Regierungen ausgehandelt, die nicht die Interessen der arbeitenden Bevölkerungen, sondern der herrschenden Klassen vertreten. Es mag legitim sein, aus propagandistischen Gründen darauf hinzuweisen, wenn die Herrschenden dieses Völkerrecht brechen, um ihre Interessen, zum Beispiel militärisch, durchzusetzen. Wenn dieses Völkerrecht aber zur Fessel für die Durchsetzung demokratischer und sozialer Interessen der Massen wird, darf es von der Linken nicht akzeptiert werden – so wie zum Beispiel das Streikverbot durch die Arbeiterbewegung nicht akzeptiert wurde, sondern durch das Brechen dieses Verbots ein Streikrecht erkämpft wurde.

Was an der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung progressiv ist und ob sie die Arbeiterklasse im spanischen Staat spaltet, ist da schon eine andere, ernst zu nehmende Frage. Wir wollen an dieser Stelle nicht Lenins grundsätzliche Erwägungen wiederholen. Von einem rein ökonomischen Blickwinkel ist jeder Nationalstaat ein weiterer Widerspruch zur globalen, gesellschaftlichen Produktion. Wie sehr die ökonomische Substanz Kataloniens durch eine Unabhängigkeit jedoch geschwächt würde oder ob die Hoffnung mancher UnabhängigkeitsbefürworterInnen Realität würde, dass die Wirtschaft unter eigener Regie besser entwickelt werden kann, würde vor allem von vielen politischen Faktoren abhängen, nicht zuletzt von der Entwicklung im Klassenkampf in Katalonien, dem spanischen Staat und Europa, aber auch der Haltung der Europäischen Union, der Entwicklung von Handelsbeziehungen etc.

Eines ist jedoch sicher: auf kapitalistischer Basis kann auch ein unabhängiges Katalonien der Krisenhaftigkeit des Systems nicht entrinnen. Für MarxistInnen gilt in dieser Frage jedoch ohnehin, dass staatliche Lostrennungen ein möglicherweise notwendiger und vorübergehender Kompromiss auf dem Weg zu einer sozialistischen Welt ohne Grenzen, welche die Wirtschaft harmonisch entwickeln könnte, sind. Das gilt auch für die Frage der Spaltung der Arbeiterklasse. Diese Spaltung existiert ja bereits aufgrund der Verweigerung der nationalen Rechte der KatalanInnen durch den spanischen Staat. Sie hängt nicht von der staatlichen Verfasstheit Kataloniens und Spaniens ab, sondern vom Bewusstsein und der Organisation der Arbeiterklassen in Katalonien und Spanien. Eine Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts durch die Organisationen der Arbeiterbewegung im spanischen Staat vertieft diese Spaltung und treibt die KatalanInnen in die Arme ihrer bürgerlichen, nationalistischen FührerInnen. Voraussetzung, diese Spaltung zu überwinden, ist die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der unterdrückten Nation durch die Arbeiterklasse der unterdrückenden Nation.

Katalonien hat jedenfalls gezeigt, mit welcher Wucht eine nationale Frage die gesamte politische Situation auch in einem der stärksten kapitalistischen Staaten Europas dominieren kann und welche Potenzial für Massenbewegungen sie in sich tragen kann. SozialistInnen dürfen dabei nicht am Rande stehen oder abstrakte Weisheiten von sich geben, sondern müssen ein konkretes Kampfprogramm entwickeln, das den Kampf für Unabhängigkeit mit dem Kampf für die sozisalen Rechte und gegen den Kapitalismus verbindet.

Fazit

Man kann sagen, dass das CWI in der Herangehensweise an die nationale Frage einen herausragenden Beitrag zur Weiterentwicklung des Marxismus geleistet hat und wir uns von allen anderen Strömungen der Arbeiterbewegung deutlich unterscheiden, vor allem, was die konkreten Antworten auf einige nationale Konflikte angeht, die wir geben und die niemand sonst gibt.

Letztlich gibt es, grob gesagt, von zwei Seiten grundlegende Kritik bzw. Abweichung von unserer Methode. Die eine Seite negiert die nationale Frage mehr oder weniger und nimmt eine krude Position ein, die die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht für Völker als reaktionär zurückweist und die für national-demokratische Forderungen keinen Platz in einer Strategie für die Erkämpfung des Sozialismus sieht. Dies war der Inhalt der Auseinandersetzung zwischen Lenin und Luxemburg, die einen solchen abstrakten Internationalismus vertrat. Ohne den revolutionären Inhalt von Luxemburgs Denken, konnten wir eine solche Haltung bei vielen Linken zum Beispiel in Bezug auf den im Jahr 2017 eine revolutionäre Krise auslösenden Katalonien-Konflikt sehen.

Heute gibt es auf der Seite ultralinker Gruppen auch Kräfte, die die Existenz von Nationen im allgemeinen in Frage stellen oder diese als Konstruktion betrachten, wobei diese durch die tagtäglichen Entwicklungen und das Aufkommen nationaler Bewegungen der verschiedensten Arten eines Besseren belehrt werden.

Die andere Tendenz, gerade auch in der trotzkistischen Bewegung, ist eine Anpassung an nationale Bewegungen unterdrückter Völker und die Aufgabe einer unabhängigen Klassenposition, die mit dem Vorwurf an uns einher geht, die Verteidigung der Interessen der unterdrückten Völker in einem abstrakten Internationalismus ein abstraktem Eintreten für Arbeitereinheit zu vergessen.

Das Gegenteil ist der Fall. Ohne eine korrekte Politik zur nationalen Frage wird eine revolutionäre Internationale keinen Massenanhang finden können und ohne eine korrekte Politik zur nationalen Frage während der Revolution und nach der Errichtung der Arbeitermacht wird der Erfolg der sozialistischen Revolution aufs Spiel gesetzt werden. Nationale Gefühle sitzen sehr tief und es gibt eine große Sensibilität der Massen bezüglich der Frage, in welchem Staat sie leben. Gerade in Zeiten von ökonomischen Krisen und einer Verschlechterung der Lebenssituation der Massen bricht sie immer wieder neu auf. Die Revolution wird diese Fragen nicht automatisch lösen, sondern auch nach der erfolgreichen Errichtung der Arbeitermacht wird ein sensibler Umgang mit nationalen Minderheiten und unterdrückten Nationen von entscheidender Bedeutung sein, um zu einer weltweiten sozialistischen Gesellschaft ohne Staaten und Grenzen zu kommen.

Dieser Text ist basiert auf einem Vortrag aus dem Jahr 1999 und wurde für diese Ausgabe von Lenins Schriften zur nationalen Frage aktualisiert und erweitert. Sascha Staničić ist Bundessprecher der Sozialistischen Alternative (SAV) und aktiv in der Partei DIE LINKE. Im Manifest-Verlag sind von ihm Bücher und Broschüren zu den Themen Rechtspopulismus und Islamfeindlichkeit, Rojava und deutsche Novemberrevolution 1918/19 erschienen.[divider]

 

1) siehe Seite 125
2) Geschichte der russischen Revolution, Band 2,2, Seite 721
3) Siehe Seite 139
4) Leo Trotzki: Die Unabhängigkeit der Ukraine und die sektiererischen Wirrköpfe, in Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur 1936-1949, Seite 160
5) Siehe Seite 38
6) Siehe Seite 46
7) ABC des Kommunismus, Seite 348-350
8) Leo Trotzki – Die Unabhängigkeit der Ukraine und die sektiererischen Wirrköpfe; in Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur 1936-40, Band 1.2, Seite 1240
9) Zur Auseinandersetzung zu dieser Frage zwischen Stalin und Lenin kurz vor seinem Tod siehe Anhang ab Seite 168
10) ebd. Seite 1244
11) Siehe S 162