Nicaragua: Massen in Bewegung gegen Ortega

By TUBS [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0) or GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html)], from Wikimedia Commons
Die Linke muss sich auf die Seite der Proteste stellen!

Mit bereits vierhundert ums Leben gekommenen Menschen, Tausenden von verletzten, inhaftierten und vermissten Personen muss Nicaragua seit April dieses Jahres als lebensgefährlicher Ort eingestuft werden.

Von Andre Ferrari

Auslöser für diese Entwicklung war eine Massenbewegung, der man ihre Berechtigung kaum absprechen kann. Sie richtete sich gegen den Versuch der Regierung unter Daniel Ortega, in Übereinstimmung mit dem IWF eine Reform des Sozialstaats durchzuführen, in deren Zuge die Renten abgesenkt und die Beitragssätze angehoben worden wären.

Von der Regierung, die dabei sowohl den Staatsapparat als auch paramilitärische Strukturen einsetzte, ist diese Massenbewegung mit schweren Mitteln ins Visier genommen worden. Die zum Einsatz gekommenen Methoden ließen Erinnerungen an die Zeit der Somoza-Diktatur wach werden.

Die Gewalt der Regierung hat dann zur Radikalisierung des Widerstands der Massen geführt und ihn zu einer wahren Rebellion gegen die Regierung werden lassen, an der sich Studierende, Bäuerinnen und Bauern, UreinwohnerInnen, ArbeiterInnen und die verarmten Schichten aus den urbanen Zentren beteiligen. Charakteristisch für diese Bewegung war ein starkes Moment an Spontaneität und Selbst-Organisation, ohne ausgebildete und zentralisierte Führung.

Wenige Tage später sah die Regierung sich gezwungen, in der Rentenfrage zurück zu rudern, doch da war es schon zu spät. Diese soziale Eruption war der Ausbruch einer jahrelang angestauten Unzufriedenheit und sozialer Spannungen sowie des Widerstands gegenüber der neoliberalen, pro-kapitalistischen Politik der Regierung Ortega.

Degeneration der FSLN

Die FSLN (Sandinistische Nationale Befreiungsfront) unter der Führung von Daniel Ortega, der das Land seit 2007 regiert, ist bis auf ein Maß degeneriert, dass sie als weiteres Instrument im Dienste des Großkapitals – und der persönlichen Interessen von Ortega, des stellv. Vorsitzenden Rosario Murillo sowie der „neureichen“ pseudo-sandinistischen Oligarchen verstanden werden muss.

Es ist buchstäblich nichts mehr von dem vorhanden, was diese Organisation ausgemacht hat, als sie 1979 die Revolution anführte, an deren Ende der Sturz des Diktators Somoza stand. Damals war die FSLN in der Lage, Millionen von ArbeiterInnen, Bäuerinnen und Bauern in ganz Südamerika zu beflügeln. Das tragische Schicksal der Sandinistischen Revolution hält zahlreiche Lehren für die Linke in Lateinamerika und weltweit bereit.

Nachdem Somoza zu Fall gebracht worden war, machte die Regierung unter der Führung von Ortega und der FSLN bei den Tagesaufgaben zur Vervollständigung der Revolution auf halbem Wege Halt. Im Gegensatz zu den Entwicklungen auf Kuba vermied man es, sämtliche Großunternehmen zu enteignen und ein planwirtschaftliches System einzuführen. Die Illusionen in eine „Misch-Wirtschaft“ öffneten der internen Sabotage durch den US-Imperialismus Tür und Tor. Dazu zählte auch die Formierung der bewaffneten reaktionären Kräfte der „Contras“.

Die imperialistische Offensive und die Fehler Ortegas und der Sandinistas führten – in Kombination mit der Übernahme einer zunehmend „pragmatischen“ Wirtschaftspolitik, die sich immer weiter von den Ideen der Revolution entfernte – zur Niederlage der FSLN und der Rückkehr der politischen Rechten an die Macht. Das war bei den Wahlen im Jahr 1990.

Seitdem sind Ortega und die FSLN immer stärker nach rechts gerückt. Das gilt sowohl auf politisch-programmatischer Ebene als auch hinsichtlich der praktischen Arbeit. Sie gingen Bündnisse mit Teilen der alten Oligarchie und rechten Kräften wie dem korrupten ehemaligen Präsidenten Arnoldo Alemán ein. Ortega knüpfte auch Bande zum reaktionären Establishment der katholischen Kirche, söhnte sich mit dem alten Feind der Sandinistas, Cardinal Miguel Obando y Bravo, aus und unterstützte das Gesetz zum ausnahmslosen Abtreibungsverbot im Land.

Niederlage von 1990

Nach der Niederlage von 1990 verlor Ortega auch die Wahlen der Jahre 1996 und 2001. Als er dann 2006 gewinnen konnte, hatten Ortega und die Führung der FSLN ihren Rechtsruck und ihre Allianzen mit der alten nicaraguanischen Oligarchie bereits konsolidiert.

Das ökonomische Modell, das Ortega durchsetzte, basierte auf neoliberalen Ansätzen wie Privatisierungen und der Öffnung des Agrarsektors, der Bergbau- und Fischereibranche für ausländisches Kapital usw. Auf diese Weise wurde die Abhängigkeit und Unterwürfigkeit des nicaraguanischen Kapitalismus in dessen Verhältnis zum Imperialismus verstärkt, während gleichzeitig den Oligarchen vor Ort wie auch den mit dem Sandinismus in Verbindung stehenden Neureichen Profite und Wohlstand garantiert wurden.

Beispielhaft für diese Politik war das Bauprojekt Nicaragua-Kanal, der Atlantik und Pazifik miteinander verbindet und von einem chinesischen Konsortium ausgehoben worden ist. Am Ende steht ein monumentales ökologisches Desaster mit schwerwiegenden Folgen für die betroffenen Regionen. Abgesehen von der Kontaminierung des Nacaragua-Sees sind auch 25.000 Menschen umgesiedelt worden.

Seit 2014 haben sowohl Bäuerinnen und Bauern als auch UreinwohnerInnen gegen dieses Projekt protestiert, um die Umwelt zu schützen und somit auch die politische und die gesellschaftliche Lage ins Wanken zu bringen. Der Bau des Kanals begann 2015, musste aufgrund des Bankrotts des verantwortlichen chinesischen Konzern jedoch ausgesetzt werden.

Wie auch in anderen Ländern Lateinamerikas gründet das Wirtschaftswachstum auf einem zuerst auf Export basierendem Modell, durch das weder die soziale Ungleichheit noch die Armut eliminiert werden konnten. Stattdessen kam es dadurch zu noch stärkeren Widersprüchen und politischer Instabilität.

Nicaragua bleibt der zweitärmste Staat Lateinamerikas, mit fünfzig Prozent der Bevölkerung, die unterhalb der Armutsgrenze lebt. Was die Landbevölkerung betrifft, so leben hier sogar 68 Prozent in Armut.

Ein berechtigter Kampf

Vor diesem Hintergrund ist der Widerstand aus der Bevölkerung gänzlich berechtigt, der sich gegen die Konter-Reformen von Ortega auf dem Gebiet der Renten, seine neoliberale Politik und den autoritären Charakter seiner repressiven Regierung richtet. Dieser Widerstand verdient die Unterstützung der konsequent auftretenden politischen Linken in ganz Lateinamerika und weltweit.

Trotz der Tatsache, dass sie immer noch ein gewisses Maß an linker oder anti-imperialistischer Rhetorik an den Tag legt, um die Erinnerung an die historische Revolution von 1979 zu manipulieren, spielt die Regierung Ortega das Spiel der rechten Flügels und des Imperialismus. Zahllose frühere Führungspersonen des authentischen Sandinismus haben Ortega zweifelsfrei enttarnt.

Und dennoch gibt es einige Gruppierungen auf der Linken, die die Zerrbilder von Ortega wiederkäuen. Vor kurzem hat Monica Valente, Generalsekretärin für internationale Beziehungen der brasilianischen PT (sozialdemokratische Arbeiterpartei), den Konflikt in Nicaragua mit den Demonstrationen vom Juni 2013 in Brasilien verglichen. Sie sagte, dass es in beiden Fällen um Aktionen von „kleinen studentischen Gruppen, vor allem von privaten Hochschulen, finanziert von den USA“ gehe.

Diese Erklärung verdeutlicht nur, dass die Führung der PT nichts von den Juni-Protesten von 2013 in Brasilien verstanden hat und genauso wenig von den heutigen Ereignissen in Nicaragua zu begreifen scheint. Im Juni 2013 hatte es keine rechts ausgerichtete Bewegung gegeben, sondern eine Rebellion aus dem Volk heraus, mit großartigem Potential für den Wandel. Dieses Potential konnte allerdings nicht ausgeschöpft werden, weil die traditionelle Linke in Brasilien die Bewegung verriet und die neuen linken Kräfte, die sich noch im Aufbau befanden, zu schwach waren.

Im Falle Nicaraguas stellt sich angesichts des Blutbads die Frage nicht, ob man sich noch an die Seite von Ortega stellen kann. Er muss bekämpft und eine linke Alternative für die Arbeiterklasse muss aufgebaut werden.

Es ist offensichtlich, dass Teile der politischen Rechten und der imperialistische Kräfte (die bisher großen Nutzen hatten durch die Regierung Ortega und deren Fähigkeit, soziale Kämpfe einzudämmen) aufgrund der ernsten Lage nun erkennen, dass die Regierung nicht länger in der Lage ist, ihren Interessen zu dienen. Sie versuchen, sich ihm zu entledigen und die Situation in einem für sie angenehmeren Maße zu klären.

Im Zuge dieser Entwicklungen ist dies ein ganz natürliches Element. Es bedeutet sicherlich nicht, dass die Linke Ortega wegen der reaktionären Intention, die Teile der Rechten und des Imperialismus, hegen, verteidigen sollte.

Unabhängiger Klassenkampf

Die Rolle der Linken besteht darin, zur unabhängigen Organisation und zum Kampf der ArbeiterInnen und verarmten Schichten zu ermutigen, damit diese für ihre Rechte und Interessen eintreten. Die Bewegung muss jede Allianz mit den Arbeitgebern, rechten Kräften, dem Imperialismus oder der Kirche zurückweisen. Die Arbeiterklasse, Studierende, Bäuerinnen, Bauern, UreinwohnerInnen und Frauen können sich nur auf ihre eigene unabhängige und organisierte Kraft verlassen. Der Kampf sollte demokratisch von unten organisiert werden, mit Aktionskomitees, die aus VertreterInnen bestehen, die demokratisch gewählt werden müssen, und die auf Landesebene miteinander koordiniert sind.

Nur auf dieser Grundlage kann eine echte Alternative zu Ortega, der traditionellen Rechten und dem Imperialismus aufgebaut werden. Ohne dies wird es – mit oder ohne Ortega – zu weiteren Niederlagen kommen.

André Ferrari ist führendes Mitglied der LSR (Freiheit-Sozialismus-Revolution), der brasilianischen Sektion des Komitees für eine Arbeiterinternationale. Er lebt in Sao Paulo.