Sarrazins Hetze gegen den Islam

Das Kapitel „Islamfeindlichkeit als neuer Rassismus“ aus dem Buch „Anti-Sarrazin“

Vorbemerkung: Heute stellt das SPD-Mitglied und Rechtspopulist Thilo Sarrazin sein neues Buch vor. „Feindliche Übernahme“ lautet der Titel und es ist eine Hetzschrift gegen Muslime und Muslimas und gegen den Islam. Wir veröffentlichen hier das Kapitel zum Thema Islamfeindlichkeit aus dem „Anti-Sarrazin“ von SAV-Bundessprecher Sascha Staničić, der 2011 als Antwort auf Sarrazins erstes Buch „Deutschland schafft sich ab“ geschrieben worden war.

Während Sarrazins Aussagen zum „Juden-Gen” auch von PolitikerInnen und JournalistInnen aus dem Establishment viel Widerspruch erfahren haben, erhält er für seine Thesen zur angeblichen Integrationsunwilligkeit von Muslimen aus denselben Kreisen Unterstützung. Damit treibt er nur eine Debatte voran, die ohnehin seit Jahren läuft und die das Bild des Islam und von Muslimen in der Öffentlichkeit mittlerweile nachhaltig prägt – und damit die Lebenssituation für Muslime (und Menschen aus islamisch geprägten Ländern) zum Negativen verändert hat.

Muslime und Menschen aus islamischen Ländern stehen heute unter vielfältigem Generalverdacht. Angeblich sind sie potenzielle Bombenleger, Frauenunterdrücker und Sozialschmarotzer, und die Kopftuch tragende Frau steht unter Zwang, Aufsicht und Kontrolle von Ehemann, Vater oder Bruder oder ist selber Fundamentalistin.

Sarrazin behauptet, eine „Zuwanderungs- und Integrationsproblematik” gebe es zu 95 Prozent mit MigrantInnen muslimischen Glaubens, zwei Seiten später spricht er dann von siebzig bis achtzig Prozenti. Mit Zahlen und Fakten nimmt er es ohnehin nicht so genau, aber die Botschaft seiner Aussage ist eindeutig: Die Muslime sind ein Problem, ja der wesentliche Faktor für die Probleme im Bildungswesen, auf dem Arbeitsmarkt, bei Gewaltkriminalität und bezüglich der von Sarrazin an die Wand gemalten Bedrohung von dem, was er als deutsche oder abendländische Kultur bezeichnet.

Er schreibt: „Das westliche Abendland sieht sich durch die muslimische Immigration und den wachsenden Einfluss islamistischer Glaubensrichtungen mit autoritären, vormodernen, auch antidemokratischen Tendenzen konfrontiert, die nicht nur das eigene Selbstverständnis herausfordern, sondern auch eine direkte Bedrohung unseres Lebensstils sind.”ii

Merkmale von Islamfeindlichkeit

In diesem Zitat stecken zwei wesentliche Merkmale islamfeindlicher Argumentationen. Zum einen wird der Islam von einem vermeintlich fortschrittlichen Blickwinkel kritisiert, indem er als „autoritär”, „vormodern” und „antidemokratisch” bezeichnet wird. Im Hinblick auf die Stellung der Frau gibt es eine starke und aggressive Islamfeindlichkeit aus einer bürgerlich-feministischen Richtung, für die Alice Schwarzer stellvertretend steht. Tatsächlich findet sich Kritik am Islam beziehungsweise der Lebensweise von Muslimen, die zum Teil das Ausmaß von Islamfeindlichkeit annimmt, in verschiedensten Teilen der nichtmuslimischen Bevölkerung – deutsch wie nichtdeutsch. Und inklusive der politischen Linken: als Reaktion auf eine Vorankündigung dieses Buches erhielten wir eine Email, in der die Herausgabe eines „Anti-Sarrazin” scharf kritisiert wurde – mit dem Hinweis darauf, dass in den „linken Kreisen” des Absenders viele von Sarrazins Thesen auf Unterstützung treffen. So genannte „antideutsche” Gruppen haben sich in den letzten Jahren zu militanten IslamhasserInnen entwickelt, IslamkritikerInnen wie Necla Kelek haben Thilo Sarrazins Buch auf öffentlichen Veranstaltungen propagiert. Kelek nennt Sarrazins Buch einen „Befreiungsschlag“ und unterstützt ihn in der „Unmöglichkeit, zwischen Islam und Islamismus zu unterscheiden“.

Sie schreibt: „Ich definiere den Islam nicht nur als Glauben, sondern als eine politische Ideologie und ein gesellschaftliches System: ein System, das die Trennung von Religion und Staat, also die Säkularität und die Aufklärung, verleugnet, das die vertikale Trennung von Männern und Frauen praktiziert, das heißt Frauen diskriminiert. Durch den Versuch, das System der Scharia, die religiöse Normsetzung, neben oder über das säkulare Recht zu stellen und zu leben, ergibt sich ein anderes Welt- und Menschenbild, ergeben sich andere Werte und Normen, die zu einer generellen Integrationsunwilligkeit großer Teile der muslimischen Gesellschaft geführt haben.”iii

Mina Ahadi, Vorsitzende des Zentralrats der Ex-Muslime, bezeichnet den Islam als „mit dem Faschismus vergleichbar“.iv

Zum anderen benennt Sarrazin durch die Begrifflichkeit „unser Lebensstil” eine „Wir”-Gruppe, die nicht definiert wird. Es ist aber offensichtlich, wen Sarrazin mit „Wir” meint, nämlich alle, die nicht Muslime sind und sich der deutschen Kultur, was auch immer das ist, zugehörig fühlen. Damit wird ein Keil in die in Deutschland lebende Bevölkerung getrieben, um die eigentlichen Trennlinien in der Gesellschaft zu verbergen. Man muss sich nur einmal fragen, ob der Lebensstil des deutsch-christlichen Daimler-Arbeiters oder der atheistischen Krankenpflegerin tatsächlich mehr mit dem Lebensstil des ebenso deutsch-christlichen oder atheistischen Millionärs gemeinsam hat oder nicht doch mit dem muslimischen Kollegen oder Nachbarn (siehe Kapitel 4).

Islamfeindlichkeit zeichnet sich unter anderem durch zwei Dinge aus: erstens durch die weitgehende Gleichsetzung der Religion Islam mit politischen Strömungen, dem so genannten politischen Islam oder islamischen Fundamentalismus, die die Religion für politische Zwecke instrumentalisieren. Zweitens durch ein hohes Maß an Pauschalisierungen und der Weigerung, die Vielfältigkeit und Komplexität der Lebensrealität von Muslimas und Muslimen anzuerkennen. Wenn man bedenkt, dass nur fünf Prozent der Muslime in der Bundesrepublik Mitglied einer islamischen Organisation sind, wird deutlich, dass die Religion für die große Mehrheit gar keine zentrale Rolle in ihrem Leben einnimmt.v

Sineb El Masrar hat letzteres aus der Perspektive einer Muslima so ausgedrückt: „In der Regel wird nicht mit uns geredet, sondern gerne über uns. Wenn uns dann jemand nicht wieder in Frage, sondern eine Frage stellt, dann sind das Fragen meist dieser Art: Kannst du islamisch sprechen? Würdest du deine Tochter auch beschneiden? Darfst du hier im Schwimmbad überhaupt schwimmen? Bist du schon jemandem versprochen? Wurde dein Mann von deiner Familie ausgesucht? Haben deine Eltern kein Problem damit, dass du hier im Ausland arbeitest? Oder ganz kreativ: Gehst du auch mit Kopftuch unter die Dusche? (…)

Eine andere Frage lautet, warum ausgerechnet Muslimas, deren Eltern aus den entlegensten und rückständigsten Ecken Marokkos, Pakistans oder der Türkei gekommen sind, sich Jahre später im freien Deutschland für das Tragen eines Kopftuchs oder – der absolute Horror! – einer ‘Burka’ entscheiden.

Was ist da nur in unserer Erziehung schiefgegangen? Wer hat uns das Gehirn gewaschen? Aber was ist, wenn nicht wir diejenigen sind, denen das Gehirn gewaschen worden ist? Denn wie kommt jemand auf solch brillante Fragen? Die, die solche Fragen formulieren, haben ja meist gar keinen oder nur flüchtigen und einseitigen Kontakt mit uns. Das vorherrschende Bild von uns wird von Meinungsmachern aus Politik und Medien mit schnellen Pinselstrichen auf eine Leinwand gemalt, mit Farben, die alles andere als bunt sind. (…) Diese Bilder sind mittlerweile in den Köpfen so fest verankert, dass es manchem gar nicht mehr gelingt sich davon zu trennen.“vi

Solche Bilder werden durch Medien gemalt, die Berichte über MigrantInnen mit Bildern Kopftuch tragender Frauen illustrieren, oder die, wie das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL, ihre Titelseiten zum Thema Islam in der Regel mit Bildern und Schlagzeilen versehen, welche Gewaltbereitschaft, Frauenunterdrückung und kulturelle Differenzen assoziieren. Ebenso dadurch, dass bei Berichterstattungen über Kriminalität meistens auf den migrantischen Hintergrund des Täters hingewiesen wird, wenn es denn einen solchen gibt. Als im Dezember 2010 bei einer Auseinandersetzung zweier Jugendgangs in Berlin-Wittenau ein Beteiligter getötet wurde, fiel auf, dass darauf verzichtet wurde, bei Opfer und Täter auf die Nationalität hinzuweisen. Das Opfer war Türke, der Täter Deutscher.vii

El Masrar hat in Bezug auf Sarrazin auch mit einer anderen Beobachtung Recht – denn dieser hat mit Türken nach eigener Aussage nur indirekten Kontakt, schreibt also über die Einstellungen, Denk- und Lebensweise einer Gruppe von Menschen, mit denen er nicht einmal selber spricht. Auf die Frage „Hatten Sie jemals etwas mit Türken zu tun?”, antwortete er in einem Interview mit der türkischen Tageszeitung Hürriyet: „Ich hatte indirekt etwas mit der Ausbildung von Türken zu tun. Meine Frau ist Lehrerin und übte ihren Beruf in Köln aus. Ein Großteil ihrer Schüler waren Türken.”viii

Abgesehen davon, dass es viel über die so genannten Volksvertreter in einer kapitalistischen Demokratie aussagt, wenn diese nur indirekten Kontakt zu einer wichtigen Bevölkerungsgruppe haben, gibt Sarrazin tatsächlich zu, KEINEN Kontakt zu Türken gehabt zu haben. Seine Aussage ist vergleichbar mit der berühmten Werbung der Ehefrau eines Zahnarztes für Zahnpflegeprodukte ….

Die sind anders als wir” ist die Botschaft, die allenthalben vermittelt werden soll. Dass verschiedenste Studien darauf hinweisen, dass die Unterschiede zwischen Muslimen und Nichtmuslimen in Deutschland erstens geringer und zweitens komplexer sind, wird dabei übergangen.

Muslime als Bedrohung

Vor allem wird suggeriert, dass von Muslimen eine Bedrohung ausgeht. Wenn der Berliner Innensenator Körting im Rahmen der Warnungen vor terroristischen Anschlägen im Herbst 2010 sagt, man solle Nachbarn, die sich auffällig verhalten und in arabischer oder einer anderen Sprache sprechen, die man nicht versteht, melden, so ist das ein offensichtlicher Fall von Generalverdacht gegenüber der arabischen Bevölkerung.ix Körtings Aussage wurde durch seine am nächsten Tag folgende Relativierung, er hätte vor Waffen und verdächtigen Paketen warnen wollen, nicht besser. Dass er Muslime unter Verdacht stellt, machte er auch in seiner Klarstellung deutlich: „Das gilt im Übrigen auch für die Moslems in der Hauptstadt. Wer in einer Moschee ein verdächtiges Gespräch mitbekommt, der soll sich sofort bei den Sicherheitsbehörden melden.”x

Wenn der CSU-Generalsekretär Dobrindt in einer Rede über die GegnerInnen der Atomkraft und von Stuttgart 21 mit den Worten herzieht, diese müssten sich nicht wundern, wenn morgen ein Minarett in ihrem Vorgarten steht, dann ist das zwar von einer so unfassbaren Dummheit, dass man dazu geneigt ist, verzweifelt den Kopf zu schütteln ob der Tatsache, dass solche Menschen in einer Regierungspartei hohe Posten bekleiden können (was nun wirklich Sorgen über einen intellektuellen Verfall der Deutschen berechtigt erscheinen lässt). Aber auch das sind wohlkalkulierte Schreckensbilder, die den Islam als eine überall (sogar im Vorgarten von Atomkraftgegnern!) lauernde Bedrohung darstellen sollen.xi

Achim Bühl hat in seiner Studie Islamfeindlichkeit in Deutschland ausgeführt, dass Islamfeindlichkeit kein neues Phänomen ist, sondern eine Kontinuitätslinie im Christentum seit den Kreuzzügen im elften Jahrhundert existiert. Dieser interessante Umstand hilft zweifelsohne dabei, den Charakter und die genaue Ausprägung der heutigen Islamfeindlichkeit besser zu verstehen. Trotzdem ist es gerechtfertigt, die Islamfeindlichkeit als einen neuen Rassismus zu bezeichnen, der insbesondere nach dem Wegfall des Ost-West-Gegensatzes zwischen der kapitalistischen Welt und den nichtkapitalistischen bürokratischen Staaten der Sowjetunion und Osteuropas zugenommen und nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center am 11. September 2001 eine neue Qualität erreicht hat.

In der aktuellen Debatte gibt es verschiedene Aspekte, die dominieren, auch wenn sie letztlich nur Teilbereiche der allgemeinen Islamfeindlichkeit sind. Dabei handelt es sich unter anderem um das Tragen des Kopftuchs, den Bau von Moscheen beziehungsweise Minaretten, die so genannten „Ehrenmorde” und den islamistischen Terrorismus. Auf diese Fragen gehen wir in diesem Kapitel ein. Andere von Sarrazin den Muslimen angehängten Dinge – Kriminalität, Bildungsferne, Sozialschmarotzertum etc. – wurden in Kapitel 4 behandelt.

Der Umgang mit islamischer Geschichte

Ein zusätzlicher Aspekt ist der Umgang mit islamischer Geschichte beziehungsweise der Verzicht auf einen Umgang damit. Sarrazin versucht sich in seinem Buch auch als Historiker und reitet auf sechs Seiten vom alten Ägypten in die Moderne. Islamische Geschichte kommt nur in einem Halbsatz vor. Er schreibt, das oströmische Reich sei Opfer der Islamisierung des Orients geworden. Kein Wort über die ökonomischen, sozialen und wissenschaftlichen Errungenschaften, die mit der Ausdehnung des Islams einher gingen.

Achim Bühl weist darauf hin, „dass die ‚europäische Kultur‘ zutiefst durch den islamischen Einflussbereich geprägt und ohne ihn nicht denkbar ist, dass der Islam bereits seit Jahrhunderten integraler Bestandteil ‚Europas‘ ist“, und betont die Rolle des maurischen (islamischen) Spaniens ab dem 11. Jahrhundert bei der Rettung des Erbes und der Weiterentwicklung der griechischen Philosophie, Mathematik und Medizin. Letzteres wurde auch in der populären Literatur durch Noah Gordons „Der Medicus” einem breiteren Publikum bekannt. Doch generell wird in deutschen Schulen und Universitäten kaum über große muslimische Mediziner wie Abu Bakr Muhammad ibn Zakariya ar-Razi oder Mohammed al Gafequi, den „Marco Polo Marokkos” Ibn Battuta oder den Mathematiker Al-Chwarizmi gelehrt. Von den Errungenschaften arabisch-muslimischer Wissenschaft und Kultur zeugen viele Worte, die arabischer Herkunft sind, wie Algebra, Alkohol, Konditorei, Chemie, Gitarre und viele mehr.xii

Claus Ludwig geht auf die Rolle des Islam bei der ökonomischen Weiterentwicklung der Gesellschaft ein:

Der Koran formulierte die Interessen der aufsteigenden Händlerklasse. Allah war der einzige Gott für alle Stämme und Völker, weil der Handel einen allgegenwärtigen Gott brauchte, der nicht willkürlich handelt, sondern allgemein verbindliche Regeln festlegt. Die Scharia war in dieser Phase der sozialen Entwicklung keine Ansammlung grausamer Bestrafungen, sondern ein in sich geschlossenes Rechtssystem mit, soweit dies in einer Klassengesellschaft möglich ist, rechtlichen Garantien für Alle. Große Teile der Stämme und Völker in Nordafrika und dem Nahen Osten schlossen sich der muslimischen Gemeinschaft freiwillig an. Islamische Regierung und Rechtssystem erschienen als Garantie für Handel, ökonomischen Aufschwung und sozialen Aufstieg.”xiii

Unerwähnt bleibt in der Debatte über den Islam zumeist auch, dass in der Blütezeit der islamischen Gesellschaften in diesen eine verhältnismäßig ausgeprägte offene Kultur der Debatte und des Meinungsstreits herrschte und religiöse Minderheiten, wie Christen und Juden, weitaus bessere Lebensbedingungen hatten als die religiösen Minderheiten im christlichen Mittelalter. Allein der Unterschied des Umgangs der christlichen Kreuzritter nach ihrer Eroberung Jerusalems mit den muslimischen und jüdischen BewohnerInnen mit dem Umgang der muslimischen Streitkräfte Saladins nach der Rückeroberung Jerusalems im Jahr 1187 sollte jedem, der über die vermeintlichen Vorzüge der abendländisch-christlichen Kultur spricht, zu denken geben: die Kreuzritter richteten ein schreckliches Blutbad an, während Saladins Truppen niemanden abschlachteten und sich die Christen mittels Lösegeld freikaufen konnten.xiv

Die Rolle der Frau

Sineb El Masrar schreibt in Muslim Girls:

Ja, es gibt sie. Die Muslim Girls, die von ihren Eltern schlechter als ein Hund behandelt werden. Die mit niemandem sprechen, mit niemandem Kontakt halten dürfen und am besten immerfort schweigen sollen. Es gibt Ehemänner, die ihre Braut aus dem Heimatland einfliegen lassen und wie eine unterwürfige Haussklavin halten, weil ihre Mütter ihnen das von Kindesbeinen an eingetrichtert haben und sie ihre Macht später gleich mit an dem unschuldigen Ding ausleben können.

Es gibt Frauen, die die Schläge ihrer Väter, Brüder und Ehemänner nicht mehr aushalten und Hilfe in einem Frauenhaus suchen. Mädchen, die eben noch mit ihrer Puppe Kaffeekränzchen gespielt haben und im nächsten Moment im Flieger nach Mali oder Somalia neben ihrer Mutter sitzen, um einer Genitalverstümmelung unterzogen zu werden.

Und ja, es gibt kleine Mädchen, die von ihren Eltern gezwungen werden, gegen ihren Willen ein Kopftuch zu tragen. Es gibt auch Mädchen, die zur Ehe mit einem völlig Fremden mitten in Deutschland genötigt oder im Namen der ‘Ehre’ erschossen werden.”xv

Diejenigen so genannten IslamkritikerInnen, die aus diesen von El Masrar beschriebenen Realitäten ihre pauschale Islamfeindlichkeit und ihren antimuslimischen Rassismus ableiten, werfen ihren KritikerInnen oft vor, die Augen vor diesen Dingen zu verschließen. Das ist aber nur der Versuch, einer wirklichen Debatte aus dem Weg zu gehen. Denn die Vorschläge dieser selbst ernannten FrauenrechtlerInnen helfen den real betroffenen muslimischen Frauen nicht. Denn die Realität ist komplexer. Zu ihr gehört auch eine wachsende Zahl von Muslimas, die ohne äußere Zwänge das Kopftuch anlegen – und die Tatsache, dass aus den Worten des Koran weder Kopftuchzwang noch so genannte Ehrenmorde herauszulesen sind.

El Masrar schreibt dementsprechend:

Aber: Hatten wir etwa zwei verschiedene Koranversionen? Ich kann mich nicht erinnern, dass man Menschen gegen den eigenen Willen heiraten soll oder eine Frau im Namen irgendeiner Schafherdenehre auf offener Straße erschießen darf. Werden die Heuchler nicht immerwährend im heiligen Buch der Muslime ermahnt?

Können wir tatsächlich nur selbstbewusste, moderne und glückliche Menschen sein, wenn wir uns von unserer Religion abwenden und zum Christentum konvertieren oder an gar keinen Gott glauben? Sind tatsächlich alle Muslime hinterwäldlerische, pädophile, frauenverachtende und gewaltbereite Irre, die sich in die Luft sprengen, um ins Paradies zu kommen?

Liegen die Gründe für Gewalt gegen Frauen womöglich gar nicht in der Religion, sondern in der Psychologie der Täter? Denn wie sonst kann man erklären, dass derartige Gewalttaten in jeder Kultur, in jeder Religionsgemeinschaft, in jeder sozialen Schicht, in jeder Nation, in jedem Viertel und in jeder Gemeinde existent sind?”xvi

Tatsächlich ist die Gewalt gegen und die Unterdrückung von Frauen ein Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse, so wie auch die jeweilige Religion nicht frei von den gesellschaftlichen Verhältnissen existiert, sondern ihre konkrete Ausformung und Rolle ein ebensolcher Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse ist.

Die heutige Rolle des Islams ist Produkt des ökonomischen Zurückbleibens der arabischen und muslimischen Länder gegenüber dem europäischen und später amerikanischen Kapitalismus; sie ist untrennbar verbunden mit dem Aufkommen des Imperialismus und der Aufteilung der Welt durch die führenden imperialistischen Länder.”xvii

Es ist Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse, dass der Islam heute in wirtschaftlich weniger entwickelten Gesellschaften eine größere und reaktionärere Rolle spielt. Das galt für das Christentum in früheren Zeiten auch. Nicht der Katholizismus oder der Protestantismus haben die Gesellschaft verändert, sondern beide sind aus gesellschaftlichen Veränderungen entstanden bzw. mussten sich solchen anpassen, um nicht völlig in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. In rückständigeren Gesellschaften, also solchen, in denen es keine starke Arbeiter- oder Frauenbewegung gibt, in denen die Wissenschaften keine große Rolle spielen und das allgemeine Bildungsniveau relativ niedrig ist, spielen die christlichen Religionen auch heute noch eine größere Rolle und haben eine reaktionärere Ausprägung als in Westeuropa. In Nigeria kommt es vor, dass AnhängerInnen des Katholizismus verunglückte Kinder nicht in ein Krankenhaus bringen, sondern sie in der Hoffnung auf ein Wunder Gottes in einer Kirche auf den Altar legen – und die Priester schicken die Eltern nicht ins Krankenhaus. Und an den Orten, an denen der kirchliche Einfluss auch in entwickelten Industriestaaten groß ist – in Klöstern, Kirchengemeinden, Internaten – herrschen meistens „antidemokratische, autoritäre und vormoderne Tendenzen” vor. Oder ist die katholische Kirche etwa demokratisch aufgebaut, der Papst antiautoritär und das Verhältnis der katholischen Kirche zu Verhütung, Abtreibung und Homosexualität modern?

Der rückständige Inhalt einer Religion, ob Islam oder Katholizismus, wirkt sich gesellschaftlich also entsprechend der Rückständigkeit der ökonomischen und sozialen Verhältnisse aus. Aufgrund der Diskriminierung von MigrantInnen und Muslimen und aufgrund der Tatsache, dass MigrantInnen auch durch ihre Herkunftsländer geprägt sind, werden Traditionen und Denkweisen, die Ausdruck der Rückständigkeit der Herkunftsländer sind, nach Deutschland importiert – dies liegt jedoch nicht zuletzt in der Verantwortung jahrzehntelanger imperialistischer Dominanz, für die das kapitalistische Deutschland mitverantwortlich ist.

Die Benachteiligung der Frau ist Produkt einer jahrtausendealten gesellschaftlichen Macht- und Arbeitsteilung. Sie hat verschiedenste ideologische Rechtfertigungen erfahren – religiöse unterschiedlicher Couleur, pseudowissenschaftliche, politische. Viele derjenigen IslamkritikerInnen, die sich als Verteidiger der Frauenrechte aufspielen, stützen selber an anderer Stelle die Diskriminierung der Frau – seien es CDU-Politiker, die die Rolle der Mutter als Stütze der Familie predigen und somit den Platz der Frau an Heim und Herd direkt oder indirekt propagieren, oder solche Verteidiger des Kapitalismus, die die strukturelle Lohndiskriminierung von Frauen nicht thematisieren.

Gewalt gegen Frauen und so genannte „Ehrenmorde”

Betrachtet man die Frage von Gewalt gegen Frauen, so wird schnell deutlich, dass es sich dabei um kein Problem des Islam handelt. Gewalt gegen Frauen ist weltweit allgegenwärtig. Selbst die so genannten „Ehrenmorde” sind kein islamisches Phänomen, sondern eine Erscheinung feudal-patriarchalischer Gesellschaften. Laut einem Bericht der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2000 kommt es jährlich zu circa 5.000 so genannten „Ehrenmorden”. Dies geschieht aber nicht nur in islamischen Ländern, sondern auch in Brasilien, Indien und Italien. Der gemeinsame Nenner ist hier nicht die Religion, sondern das vorherrschende Frauenbild, das natürlich auch durch Religionen bzw. deren Interpretation vermittelt wird.

In der Bundesrepublik Deutschland fanden im Jahr 2009 über 7.000 Vergewaltigungen und sexuelle Nötigungen statt; 15 Prozent aller Frauen werden in ihrem Leben Opfer von sexueller Gewalt. Über fünfzig Prozent der getöteten Frauen werden von einem Verwandten umgebracht. Generell ist für Frauen in Deutschland die eigene Wohnung der gefährlichste Ort.

Was bei Muslimen als „Ehrenmord” bezeichnet wird, ist bei nichtmuslimischen Deutschen eine „Familientragödie”. Auch wenn diese Fälle nicht gleichzusetzen sind, sind sie doch vergleichbar, denn es gibt in der Sichtweise des Täters durchaus Parallelen. Denn auch der von der Frau betrogene oder verlassene nichtmuslimische Ehemann fühlt sich erniedrigt, in seiner Ehre verletzt und sieht seine Macht oder zumindest seine Vorstellung der Rolle als Mann in Frage gestellt. Die Reaktion, die Frau zu schlagen oder gar zu töten – ob sie nun aus der traditionellen islamischen Lebensweise oder aus einer traditionellen bürgerlichen Ehe ausbrechen will – ist dieselbe.

Das Gesagte soll Gewalt gegen Frauen in muslimischen Familien nicht relativieren, sondern im Gegenteil darauf hinweisen, dass Gewalt gegen Frauen in allen Religionsgemeinschaften und Nationalitäten ein akutes Problem ist und bekämpft werden muss. Gleichzeitig muss Sarrazins Behauptung zurück gewiesen werden, dass der Mörder von Hatun Sürücü, die im Februar 2005 Opfer eines so genannten „Ehrenmordes” wurde, „Repräsentant einer breiten Meinungsrichtung unter Muslimen“ sei. Diese Aussage wird durch nichts belegt und sie kann sich nicht einmal auf islamische Rechtsvorstellungen stützen, denn selbst die Scharia sieht in so genannten „Ehrenmorden” ein Verbrechen. Denn auch nach der zweifellos rückschrittlichen islamischen Rechtsauffassung dürfen nur Gerichte Recht sprechen und nicht Väter, Brüder oder Onkel.

Eine Studie der Bertelsmann Stiftung von Dezember 2010 weist außerdem daraufhin, dass unter MigrantInnen sogar eine größere Ablehnung des traditionellen Mutterbilds besteht als unter Deutschen (unter Muslimen und Deutschen ist das Ergebnis gleich). Interessanterweise sehen 41 Prozent der Männer mit Migrationshintergrund Hausarbeit als gemeinsame Aufgabe von Mann und Frau an, während das nur 35 Prozent der Nichtmigranten so sehen.xviii

Die Kopftuchfrage

Auch die Kopftuchfrage ist weitaus komplexer, als die BefürworterInnen eines Kopftuchverbots sie darstellen. Nachdem in verschiedenen Bundesländern ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen eingeführt wurde, wird nun verstärkt ein solches Verbot auch für Schülerinnen gefordert. Das wird dann als Maßnahme gegen Frauendiskriminierung präsentiert. Hinzu kommen Forderungen nach einem generellen Verbot der Ganzkörperverschleierung in Form der Burka, welche auch das Gesicht verhüllt. Tatsächlich jedoch steckt hinter diesen Forderungen antimuslimischer Rassismus und sie führen zu keiner Verbesserung der Lebenssituation von Migrantinnen.

Für Thilo Sarrazin drückt das Tragen des Kopftuchs niemals nur Religiosität aus, sondern er sieht es als „Zeichen dafür, dass der Islam eine gesellschaftspolitische Dimension jenseits der Religion hat” und als Bekenntnis zu „einer traditionellen Interpretation des Islam.”xix

Pauschal setzt er es auch mit einer Anerkennung der Unterordnung der Frau unter den Mann gleich. Alice Schwarzer geht weiter: Sie vergleicht das Kopftuch mit dem Judenstern und rückt jede Kopftuch tragende Frau in die fundamentalistische Ecke.xx

Die Argumente der Verbotsbefürworter zeichnen sich durch Pauschalisierungen aus. Die Logik ist: Entweder werden Frauen zum Tragen des Kopftuchs gezwungen oder sie sind fundamentalistische Muslima. Damit ist die Forderung nach einem Kopftuchverbot Teil der Diskriminierung und Ausgrenzung der muslimischen Bevölkerung. Sarrazin sagt in seinem Buch unverblümt, er wolle nicht, dass die Frauen in Deutschland ein Kopftuch tragen.

Historisch betrachtet sind weder Schleier noch Kopftuch religiöse Symbole. Der Schleier ist nicht einmal eine spezifisch islamische Tradition, sondern wurde zu tragen begonnen lange bevor Mohammed den Islam begründete. Angefangen bei sumerischen Tempelpriesterinnen vor 5.000 Jahren über das vorislamische Persien bis zu jüdischen und christlichen Traditionen trugen Frauen aus verschiedenen Gründen verschiedene Arten der Verschleierung.

Ruksana Mansur von der ‚Sozialistischen Bewegung Pakistans‘ schreibt dazu: „Es ist eine historische Tatsache, dass der Schleier ein Brauch und keine religiöse Verpflichtung ist. Er ist eine jahrhundertealte Stammes- und Feudaltradition, die nun zu einem Teil einer Religion geworden ist.”xxi

Tatsächlich gab es weder zu Mohammeds Zeiten eine obligatorische Verschleierung muslimischer Frauen noch wird diese im Koran gefordert. Es gibt im Koran nur drei Verse, die die Kleidung der Frau betreffen. Sie sprechen nicht explizit von einem Kopftuch- oder Verschleierungsgebot für alle Muslima und werden von unterschiedlichen Kräften innerhalb des Islam unterschiedlich interpretiert.xxii Interessanterweise finden sich auch in der Bibel Stellen, die als eine Verpflichtung zur Verschleierung von Frauen interpretiert werden können. In der Lutherbibel (Genesis 24,65 ) muss Rebekka sich verschleiern, als sie ihrem zukünftigen Gatten Isaak begegnet.xxiii

Vielmehr übernahmen Muslime mit der Ausbreitung der Religion regionale Traditionen. Das Kopftuch war in vielen Gesellschaften ein traditionelles Kleidungsstück. Auch in Deutschland haben bis in die 1950er Jahre viele Frauen, vor allem Bäuerinnen, ein Kopftuch getragen. Meine jugoslawische Großmutter, weder gläubige Katholikin noch Muslima, sondern antifaschistische Partisanin, habe ich selten ohne Kopftuch gesehen. Bei körperlicher Arbeit auf Feldern und bei heißem Wetter hatte das Kopftuch einen praktischen Sinn.

Die Motivation, das Kopftuch anzulegen, ist heute vielfältig. Während es zweifellos Frauen gibt, die durch Väter oder Ehemänner dazu gezwungen werden, ist davon auszugehen, dass in Deutschland die Mehrzahl von ihnen diese Entscheidung freiwillig getroffen hat – wobei Freiwilligkeit nicht absolut zu verstehen ist, da sie im Rahmen von gesellschaftlichen Normen, Traditionen und mehr oder weniger direkt geäußerten Erwartungshaltungen im sozialen Umfeld stattfindet. Aber die Entscheidungen von deutschen oder christlichen Frauen, sich die Beine zu rasieren oder Diäten durchzuführen, um im Bikini eine „gute Figur“ zu machen, basieren oftmals auf einer ähnlich relativen Freiwilligkeit.

Für viele Muslima ist das Kopftuch nicht nur ein Zeichen ihrer Religiosität, sondern ein Symbol kultureller Identität, nicht selten auch für eine Abgrenzung von einer Gesellschaft, die sie als rassistisch und sexistisch wahrnehmen. Es ist für viele ein Mittel, Selbstbewusstsein als Migrantinnen zum Ausdruck zu bringen. Das Bild der Kopftuch tragenden Frau als unterdrückte und unselbstständige Muslima könnte falscher nicht sein. Gerade unter den gebildeteren Muslima ist das Kopftuch weiter verbreitet. 71 Prozent der muslimischen Kopftuchträgerinnen ist es wichtig, in ihrem Leben etwas zu erreichen.xxiv

Natürlich ist das Kopftuch auch ein Symbol für eine männerdominierte Religionsgemeinschaft, und die Ablehnung des Kopftuchs durch viele Frauen aus muslimischen Ländern ist gerechtfertigt, gerade aufgrund der Erfahrungen in frauenfeindlichen Diktaturen wie in Saudi-Arabien und im Iran, wo Schleier bzw. Kopftuch gesetzlich vorgeschrieben sind und Frauen keinerlei Wahl haben. Aber gegen das Kopftuch zu sein, bedeutet nicht automatisch, für ein Verbot einzutreten, so wie gegen das Kopftuchverbot zu sein auch nicht bedeutet, das Kopftuch in dieser Symbolik zu unterstützen. Niemand fordert das Verbot der Lederhose, weil sie als Symbol für reaktionäre Deutschtümelei oder bayrischen Separatismus interpretiert werden kann.

Ruksana Mansur weist darauf hin, dass „die politische und religiöse Rechte das Thema in ihrem eigenen Interesse ausnutzen. Die einen fordern Frauen auf, den Schleier abzulegen, während die anderen die Frauen dazu zwingen wollen, ihn zu tragen.”xxv

Als SozialistIn sollte man gegen das Kopftuch- und Burkaverbot sein, egal wo. Und für das Recht eines jeden Menschen, selber zu bestimmen, was er oder sie für eine Kleidung trägt. Das bedeutet auch, dass SozialistInnen aktiv gegen den Zwang, das Kopftuch zu tragen, eintreten und Frauen dabei helfen sollten, sich gegen entsprechende Zwänge zu organisieren und zu wehren.

Kopftuchstreit, „Ehrenmord”-Debatte und die Situation von Muslimas im allgemeinen werden von den selbst ernannten IslamkritikerInnen in einer Art und Weise geführt, die ein pauschales Bild höchster Unterdrückung von muslimischen Frauen zeichnet.

Achim Bühl zitiert in seinem Buch einen muslimischen Sketch, der das auf den Punkt bringt:

Erste Szene: Eine Frau mit Kopftuch sitzt im Auto hinten, ein Mann fährt. Ein Vertreter der so genannten Mehrheitsgesellschaft: ‘Selber fahren dürfen die wohl nicht.’ Zweite Szene: Eine Frau mit Kopftuch fährt, ein Mann sitzt daneben. Ein Vertreter der Mehrheitsgesellschaft: ‚Jetzt lassen die sich auch noch fahren’. Dritte Szene: Eine Frau mit Kopftuch sitzt vorne neben ihrem Mann, der fährt, eine Frau ohne Kopftuch sitzt hinten. Ein Vertreter der Mehrheitsgesellschaft: “Jetzt kommen die auch noch mit mehreren Frauen.’”xxvi

Dieser Sketch macht deutlich, dass die Lebensrealität muslimischer Frauen komplex ist und eine konkrete Auseinandersetzung mit Diskriminierung, Benachteiligung und Unterdrückung nötig ist – statt pauschaler Verurteilungen, die zu Forderungen nach Kopftuchverbot oder ähnlichem führen.

Hilfe für diskriminierte Frauen muss anders aussehen. Ein Kopftuch- oder Burkaverbot würde diejenigen Frauen, die zum Tragen desselben gezwungen werden, ohnehin nur weiter von der Gesellschaft isolieren. Die Frauen, die es freiwillig tragen, wären durch ein Verbot nur von ihrer Freiheit befreit, also unterdrückt und diskriminiert. Frauen, die tatsächlich häuslicher Gewalt, Zwang und Unterdrückung ausgesetzt sind, brauchen vor allem gut bezahlte Arbeitsplätze, um wirtschaftlich selbstständig zu sein, und ausreichende Angebote an Beratungsstellen und Frauenhäusern, in denen die Betreuung auch in türkischer, arabischer und anderen Sprachen stattfindet.

Moscheen und Minarette

Ein weiteres Thema, das in den letzten Jahren im Zusammenhang mit der Islamfeindlichkeit in Europa zunehmend heiß debattiert wird, ist der Bau von Moscheen und Minaretten.

In der Schweiz hat die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei (SVP) erfolgreich einen Volksentscheid zum Verbot des Baus von Minaretten angestrengt – in einem Land, in dem es ganze vier Minarette gibt! In verschiedenen deutschen Städten haben rechtspopulistische Kräfte versucht, AnwohnerInnen gegen den Bau von Moscheen aufzuhetzen, so geschehen in Berlin-Heinersdorf oder Köln-Ehrenfeld.

Jedes Bauprojekt kann in einer Nachbarschaft zu Konflikten führen, denn es verändert die Lebenssituation der AnwohnerInnen möglicherweise zum Negativen. Angefangen bei Lärm- und anderen Belästigungen in der Bauphase über möglicherweise erhöhtes Verkehrsaufkommen bis zur Veränderung der Sozial- und Mietstruktur sind viele Konfliktpotenziale denkbar. Nicht jede Kritik an einem Moscheebau muss daher antimuslimisch motiviert sein. Es kommt aber auch vor, dass solche raumbezogenen Konflikte vorgeschoben werden, um die antimuslimisch und rassistisch motivierte Ablehnung eines Moscheebaus zu kaschieren.

Die Auseinandersetzung um den Bau von Moscheen ist ein “symbolischer Anerkennungskonflikt”xxvii

Über Jahrzehnte hatten Muslime ihre Moscheen in Hinterhöfen gebaut und auf repräsentative Bauten verzichtet. Dies sicher auch, weil die meisten mit der Perspektive lebten, Deutschland wieder zu verlassen. Der Bau repräsentativer Moscheen ist ein Signal von Teilen der muslimischen Bevölkerung, dass sie gedenken, in Deutschland zu bleiben. Der Umgang damit steht also für die Akzeptanz dieses Vorhabens und ist direkter Ausdruck der so genannten Integrationsbereitschaft etablierter deutsch-christlicher Kräfte. Aus politischen oder religiösen Gründen gegen den Bau einer Moschee zu sein bedeutet, die Religionsfreiheit zu missachten und Muslime auszugrenzen.

In den Argumentationen von Moscheebau-Gegnern vermischen sich die Gleichsetzung von Islam mit politischem Islam (und letzterer oftmals mit Gewalt und Terror) und ein kulturalistischer Rassismus, der den Islam als etwas Fremdes und nicht zu Deutschland Gehörendes betrachtet. Der Schriftsteller Ralph Giordano drückt das aus, wenn er den Moscheebau in Köln-Ehrenfeld als einen sichtbaren „Machtanspruch” bezeichnet, den er mit einer „Landnahme auf fremdem Territorium” gleichsetzt. Fremdes Territorium? Seit Anfang der 1960er Jahre wurden Muslime gezielt als Arbeitskräfte nach Deutschland geholt und leben hier. Fünf Jahrzehnte! Mal ganz abgesehen davon, dass die erste Moschee schon 1924 in Berlin-Wilmersdorf errichtet wurde.

Mit dem Bau von Moscheen sollte nicht anders umgegangen werden als mit anderen privaten Bauprojekten. Soziale, ökologische, verkehrstechnische und andere Folgen müssen geprüft und im Interesse der Allgemeinheit gelöst werden. Es muss sicher gestellt werden, dass auf der Baustelle Tariflöhne gezahlt und entsprechende Arbeitsbedingungen eingehalten werden. Aber das Recht, ein Gotteshaus zu bauen, muss für AnhängerInnen aller Religionsgemeinschaften gleich gelten.

Das bedeutet wiederum nicht, dass man sich zum Fürsprecher eines Moscheebaus machen muss, wenn man das Recht auf den Bau einer Moschee verteidigt. Einige Linke und AntirassistInnen, die zum Beispiel in Köln-Ehrenfeld gegen die Anti-Moschee-Kampagne der rechtsextremen Vereinigung ProKöln aktiv waren, haben das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, als sie begannen, Parolen für den Moschee-Bau zu formulieren und diesen aktiv zu propagieren.

Ein Beispiel hierfür ist eine Erklärung des LINKE-Ortsvereins Ehrenfeld. In dieser heißt es: „Wir betrachten den Bau der Moschee an der Venloer Straße als einen städtebaulichen und menschlichen Gewinn für unseren Stadtteil, als ein Zeichen für ein weltoffenes und tolerantes Köln, ohne damit die Illusion zu verbinden, dass hiermit alle Probleme gelöst seien.”xxviii

Natürlich drückt der Bau neuer großer und repräsentativer Moscheen nicht nur Religionsfreiheit aus, sondern auch den wachsenden Einfluss der islamischen Religion unter Muslimen in Deutschland. Im konkreten Fall der Kölner Moschee betrifft dies die konservative türkische Religionsgemeinschaft DITIB, die ein Ableger der staatlichen türkischen Religionsbehörde ist und keinen fortschrittlichen Charakter hat. Dieser Umstand ist sehr wohl kritisch zu betrachten, denn er hat letztlich Folgen für das Potenzial des gemeinsamen Kampfes von Deutschen und Nichtdeutschen gegen Sozialabbau, Mieterhöhungen und Arbeitsplatzvernichtung, für die Lage der Frau in der muslimischen Bevölkerung und für die Möglichkeit, die Arbeiterklasse entlang religiöser und nationaler Linien zu spalten. Das gilt aber ebenso für das Wachstum anderer Religionen oder esoterischer Vorstellungen. Sie alle tragen dazu bei, die Trennlinien in der Bevölkerung nicht zwischen den Klassen, sondern zwischen den Religions- oder Kulturgemeinschaften zu ziehen. Sie alle fördern eine Akzeptanz der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse und die Suche nach Problemlösungen im Individuum oder im Jenseits und bremsen so den Kampf für soziale Verbesserungen und Gleichheit im Diesseits. Und es wäre völlig falsch, nur dem Islam eine politische Dimension zuzuschreiben oder nur ein Wachstum von islamischem Fundamentalismus festzustellen. Schon zu Beginn der 1990er Jahre hat der Soziologe Gilles Kepel ein Wachstum des religiösen Extremismus‘ unter verschiedenen Religionsgemeinschaften beschrieben.xxix

Ein Blick auf Israel und die ländlichen Gebiete der USA reicht, um eine Zunahme von christlichem und jüdischem Fundamentalismus zu sehen. Auch dies ist zweifelsfrei Folge der immer dramatischer werdenden gesellschaftlichen Krise und Perspektivlosigkeit.

Und auch die katholischen und evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik machen Politik, direkt oder indirekt. In den Weihnachtsmessen 2010 wurde von den Kanzeln im ganzen Land gegen die Präimplantationsdiagnostik (PID) gepredigt. Noch deutlicher wird der politische Einfluss christlicher Religionsgemeinschaften in den USA oder Brasilien, wo diese sogar wesentlichen Einfluss auf Präsidentschaftswahlen nehmen können. Trotzdem muss unterschieden werden zwischen den Religionen und den religiösen Institutionen, die in der Regel Teile der herrschenden Klassen und Eliten repräsentieren und Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen. Der Kampf gegen den reaktionären Einfluss religiöser Institutionen, gleich welcher Glaubensrichtung, darf nicht als Kampf gegen die Gläubigen und ihren Glauben geführt werden. Denn dies würde das Trennende betonen und im Zweifelsfall die Gläubigen umso mehr in die Arme religiöser Institutionen treiben.

Imperialismus und islamischer Fundamentalismus

Genau das geschah nach dem 11. September hinsichtlich der Wirkung des so genannten „Kriegs gegen den Terror“ und der weltweit von den Herrschenden betriebenen Kampagne gegen den Islam. Sineb El Masrar behauptet, dass nach dem 11. September unter vielen Muslimen eine intensivere Beschäftigung mit dem Islam eingesetzt habe, die zu der Erkenntnis führte, dass der Koran keine Gewalt und keinen Terror predigt und deren Wirkung eine Stärkung des Glaubens war. Die junge marokkanische Autorin führt keine Belege für diese These an, spricht aber wahrscheinlich aus eigener Erfahrung. Und es ist nachvollziehbar, dass Muslime angesichts einer islamfeindlichen Kampagne und der Ausweitung imperialistischer Aggression gegen ihre Heimatländer – und aufgrund des Fehlens einer starken linken politischen Alternative – mit einer Hinwendung zum Islam reagieren, als einem Mittel, sich eine gemeinsame Identität und kollektive Verteidigungsmöglichkeit gegen die Angriffe zu schaffen.

Betrachtet man das Verhältnis der herrschenden Klassen in den westlichen kapitalistischen Staaten zu islamisch-fundamentalistischen Kräften über die letzten Jahrzehnte, so stellt man schnell fest, dass es den Regierenden in den USA, Großbritannien und Deutschland nicht um Demokratie oder Frauenrechte geht, sondern um Einflusssphären, Macht, Zugang zu Rohstoffen und Profite.

Das fundamentalistische Regime in Saudi-Arabien ist seit vielen Jahrzehnten ein Partner des Imperialismus. In Saudi-Arabien gilt das islamische Recht der Scharia, demokratische Rechte gibt es nicht, Frauen sind weitgehend entrechtet.

Es ist jedoch noch keine Bombe über Riad abgeworfen worden und es gibt auch keine Pläne des CIA für einen „Regime Change” – schließlich ist das saudische Königshaus folgsam und es lassen sich mit ihm gute und sichere Geschäfte machen.

Osama bin Laden und die Taliban waren bzw. sind Monster, die die USA mit geschaffen haben. Als 1979 in Afghanistan eine linksgerichtete, an der Sowjetunion orientierte Regierung ins Amt kam und begann, die feudalen und kapitalistischen Strukturen des Landes abzuschaffen, organisierte und finanzierte die CIA zusammen mit dem pakistanischen Geheimdienst ISI den islamisch-fundamentalistischen Widerstand. Im Kampf gegen die Ausweitung des sowjetischen Einflussgebietes war ihnen jedes Mittel und jeder Bündnispartner recht. Als nach dem Zusammenbruch der bürokratischen Ein-Parteien-Regime in der Sowjetunion und anderen Staaten deutlich wurde, dass Teile der islamistischen Kräfte sich gegen die fortgesetzte Ausbeutung und Dominanz ihrer Länder durch den westlichen Imperialismus wendeten, ersetzte der Westen das Feindbild Sowjetunion und „Kommunismus” durch die „Achse des Bösen” und rückte den Islam als Quelle von Terror und Gewalt in den Mittelpunkt seiner Propaganda.

Das wiederum verstärkte einen Prozess, der spätestens seit der Iranischen Revolution von 1979 und der dortigen Machtergreifung der islamischen Theokratie eingesetzt hatte – dem Wachstum islamistischer Strömungen als Ausdruck anti-imperialistischer Stimmungen unter den arabischen und anderen muslimischen Massen.

Dieser Prozess war widersprüchlich, denn er war auch Ausdruck des bewussten Versuchs, einen rechten, pro-kapitalistischen Gegenpol gegen linke, sozialistische, antiimperialistische Bewegungen zu schaffen. Dieser Versuch ging so weit, dass der Staat Israel den Aufbau der Hamas unterstützte, um einen Gegenpol zur Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) zu schaffen und die palästinensische Bewegung zu spalten.xxx

Im Iran war die Machtergreifung der Mullahs unter Ayatollah Khomeini in Wirklichkeit keine Revolution, sondern eine pro-kapitalistische Konterrevolution gegen den Aufstand der iranischen ArbeiterInnen und verarmten Massen, der 1979 die Frage der Verstaatlichung der Wirtschaft und der Errichtung einer „Republik der Armen” auf die Tagesordnung setzte und mit der Bildung der „Schoras” (Arbeiterräte) die Möglichkeit einer sozialistischen Arbeiterrevolution real machte. Die Mullahs besiegelten zwar das Ende der Schah-Dynastie und des ungehinderten Zugriffs des US-Imperialismus auf das Land, retteten aber den Kapitalismus vor einer sozialen Revolution. Dies war ihnen nur möglich, indem sie einigen sozialen Forderungen nachgaben (wie der Verstaatlichung der Ölindustrie) und indem sie eine starke antiimperialistische Rhetorik anwandten.xxxi

Der islamische Fundamentalismus ist in den Händen arabischer Eliten ein Versuch, einerseits eine soziale Basis in der eigenen Bevölkerung zu erlangen, diese aber andererseits zu disziplinieren und so im besten Fall eine gewisse Bewegungsfreiheit gegenüber dem Imperialismus zu erlangen. Unter den verarmten Massen ist der Fundamentalismus Ausdruck der Hoffnung auf Befreiung von imperialistischer Dominanz und Ausbeutung, von Besetzung und Entwürdigung in den palästinensischen Gebieten und von einer Gesellschaft mit mehr sozialer Gleichheit. Hinzu kommt, dass islamische Institutionen in vielen Ländern einen großen Teil der Gesundheits- und Bildungsinfrastruktur übernommen haben, nachdem sich der Staat durch neoliberale Maßnahmen immer mehr daraus zurück gezogen hat. Letzteres ändert nichts am grundlegend reaktionären und arbeiterfeindlichen Charakter des rechten politischen Islam, macht aber deutlich, dass islamistische Kräfte wie die Hisbollah im Libanon sehr wohl unter einen Druck geraten können, soziale und sogar „linke” Rhetorik anzuwenden. Dies konnte man in den letzten Jahren immer wieder beobachten, wenn die Hisbollah einerseits mitverantwortlich für neoliberale Wirtschaftspolitik als Teil der libanesischen Regierung war, andererseits aber im Widerstand gegen die militärischen Angriffe der israelischen Armee sogar einen Bezug zu Ché Guevara in ihrer Propaganda herstellte.

Gleichzeitig kann es den Spielraum für die Entwicklung eines linksgerichteten politischen Islam geben, wie es ihn schon in der Vergangenheit gab oder in Lateinamerika – mit der Theologie der Befreiung im Rahmen des katholischen Glaubens – ein vergleichbares Phänomen existiert.

Der Aufstieg des rechten politischen Islam in den letzten Jahrzehnten ist ein Produkt der imperialistischen Dominanz und Ausbeutung der Länder des Nahen Ostens und anderer muslimisch geprägter Regionen. Deshalb ist der islamistische Terror eine Reaktion auf die Politik der westlichen kapitalistischen Mächte, und diese tragen selber eine wesentliche Verantwortung dafür. Der Krieg gegen den Terror verstärkt deshalb auch nur den Terror beziehungsweise die Terrorgefahr. Das kann täglich im Irak und in Afghanistan beobachtet werden. Der sofortige Abzug aller fremden Truppen aus dem Irak und Afghanistan, die Beendigung der Ausbeutung von Rohstoffvorkommen und Arbeitskräften, die Zahlung von Kompensationen für jahrzehntelange Ausbeutung, die Gewährung demokratischer und gewerkschaftlicher Rechte in den von ausländischen Firmen dominierten Bereichen und ähnliche Maßnahmen wären die einzig wirksamen Maßnahmen, um den rechten politischen Islam und den Terrorismus zurück zu drängen. Solche Maßnahmen jedoch werden die kapitalistischen Mächte, deren Interesse ausschließlich in Macht und Profit liegt, niemals ergreifen. Dazu müssen sie gestürzt und durch sozialistische Arbeiterregierungen ersetzt werden – im kapitalistischen Westen und in den arabischen und muslimischen Staaten. Um dies zu erreichen, ist der (Neu-)Aufbau einer demokratischen, multiethnischen, konfessionsübergreifenden und sozialistischen Arbeiterbewegung zwingende Voraussetzung.

Sozialismus und Religion

Das Scheitern der sozialdemokratisch und stalinistisch geprägten Arbeiterbewegungen und der bürgerlich-nationalen Befreiungsbewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war eine weitere wesentliche Voraussetzung für den Aufstieg des rechten politischen Islam. Die Geschichte dieser Bewegungen ist gleichzeitig Beleg für die Tatsache, dass weder die kulturellen Traditionen unveränderlich sind noch es andere, zum Beispiel genetische, Faktoren gibt, die auf den Charakter der muslimischen Bevölkerungen einen unveränderlichen Einfluss nehmen würden. Linke und säkular-nationalistische Bewegungen haben im 20. Jahrhundert in vielen muslimischen Ländern eine große Massenbasis erlangt und den Einfluss islamischer Traditionen und Institutionen zurück gedrängt. In Ländern wie Sudan, Irak, Iran gab es kommunistische Parteien mit Millionenanhang. Auch bürgerlich-nationalistische Kräfte wie die PLO in den Palästinensergebieten, Nassers Kräfte in Ägypten oder die Baath-Parteien in verschiedenen Ländern waren stark. Die Kommunisten hätten in verschiedenen Ländern die Macht ergreifen können, wenn sie nicht eine falsche Politik der Zusammenarbeit mit bürgerlich-kapitalistischen Kräften betrieben und auf die Durchführung einer sozialistischen Revolution verzichtet hätten. Diese Unentschlossenheit und Unfähigkeit, die dann in vielen Ländern zur Errichtung arbeiterfeindlicher Diktaturen führte, untergrub die Autorität der Kommunistischen Parteien. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und der anderen bürokratischen Staaten 1989-91 versetzte diesen Parteien dann in vielen Ländern den politischen Todesstoß. Das hinterließ ein Vakuum, in das die Islamisten vordringen konnten. Dieser Zusammenhang weist aber vor allem darauf hin, dass der von den westlichen kapitalistischen Staaten betriebene Imperialismus den Massen der neo-kolonialen Welt, zu der die muslimischen Länder gehören, keine Zukunftsperspektive bieten kann. Die täglichen Erfahrungen der breiten Mehrheit der Bevölkerung in diesen Ländern sind Elend, Unterdrückung, Ausbeutung und Krieg. Der Imperialismus produziert durch die Ausbeutung dieser Länder selber die Terroristen, die er dann mit Maßnahmen zu bekämpfen vorgibt, die nur bewirken, mehr Muslime in die Arme der Terroristen zu treiben, weil diese scheinbar die einzigen Kräfte sind, die einen konsequenten Kampf gegen den Imperialismus führen. Der rechte politische Islam kann nicht durch einen Kampf gegen den Islam als Religion zurück gedrängt werden, sondern dadurch, dass denjenigen ArbeiterInnen und Armen, die sich in den Glauben flüchten, eine Perspektive für ein würdiges Leben im Diesseits aufgezeigt wird. SozialistInnen sollten deshalb nicht einen ideologischen bzw. philosophischen Kampf gegen die Religion in den Mittelpunkt ihrer Tätigkeit gegenüber gläubigen ArbeiterInnen und Jugendlichen stellen, sondern den gemeinsamen Kampf von ArbeiterInnen und Jugendlichen unterschiedlicher und ohne Konfession für Arbeitsplätze, gute Löhne, soziale Sicherheit, würdigen Wohnraum, demokratische Rechte etc.

Karl Marx schrieb: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks: Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf.”xxxii

SozialistInnen betrachten die Religion als ein Produkt gesellschaftlicher Zustände. Sie kann nur überwunden werden, wenn die gesellschaftlichen Zustände, deren Produkt sie ist, überwunden werden. Das beinhaltet, Religion als Privatsache zu betrachten und die Abkehr vom Glauben nicht als eine Bedingung für den gemeinsamen Kampf zur Verbesserung der irdischen Zustände aufzustellen. Das beinhaltet aber auch, nicht auf die philosophische Kritik an der Religion und ihren Auswirkungen zu verzichten – und vor allem nicht auf den Kampf gegen reaktionäre, pro-kapitalistische Religionsbewegungen, wie den rechten politischen Islam oder die katholische Kirche. Sie alle drücken nur die Interessen privilegierter Eliten und Wirtschaftsmächte aus.

Lenin sagte dazu:

Unserem ganzen Programm liegt eine wissenschaftliche, und zwar die materialistische Weltanschauung zugrunde. Die Erläuterung unseres Programms schließt daher notwendigerweise auch die Klarlegung der wahren historischen und ökonomischen Quellen des religiösen Nebels ein. Es wäre unsinnig zu glauben, man könne in einer Gesellschaft, die auf schrankenloser Unterdrückung und Verrohung der Arbeitermassen aufgebaut ist, die religiösen Vorurteile auf rein propagandistischem Wege zerstreuen. Es wäre bürgerliche Beschränktheit, zu vergessen, dass der auf der Menschheit lastende Druck der Religion nur Produkt und Spiegelbild des ökonomischen Drucks innerhalb der Gesellschaft ist.”xxxiii

Das bedeutet jedoch nicht, sich reaktionären Kräften des rechten politischen Islam anzupassen, weil sie sich antiimperialistisch präsentieren. Und es bedeutet auch nicht, die Verteidigung der religiösen Rechte von Muslimen damit zu verwechseln, eine ‚pro-muslimische‘ Politik zu betreiben und dabei einen internationalistischen Klassenstandpunkt zu verlassen. Solche Fehler haben nicht wenige Linke gemacht, die aus einem falsch verstandenen Antiimperialismus heraus nicht nur keine Kritik an reaktionären islamistischen Organisationen wie der Hamas oder auch an dem iranischen Regime formulieren, sondern diese als Bündnispartner im Kampf gegen Krieg und Imperialismus betrachten. Eine solche Herangehensweise verkennt, dass es unter Muslimen und in allen Religionsgemeinschaften, auch wenn sie einer spezifischen Diskriminierung ausgesetzt sind, unterschiedliche soziale Schichten und Klassen gibt. Während SozialistInnen als konsequente GegnerInnen jeder Form von antimuslimischer Diskriminerung agieren müssen, dürfen sie nicht davor zurück schrecken, auch Konflikte mit Teilen der muslimischen Bevölkerung einzugehen, wenn es um Fragen der Frauenrechte oder um soziale Fragen geht. Vor allem aber müssen sie zu jeder Zeit versuchen, das Klassenbewusstsein zu stärken und den gemeinsamen Kampf von deutschen und nichtdeutschen, muslimischen und nichtmuslimischen ArbeiterInnen, Jugendlichen und Erwerbslosen zu propagieren und praktisch voranzutreiben.

iThilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, S. 262 und 264

iiEbd. S. 266

iiiFAZ, 30.8.2010

ivInterview in WELT Online vom 9.8.2007

vUlrike Herrmann und Alke Wierth, „Die Gene sind schuld“ in taz vom 30.08.2010

viSineb El Masrar, Muslim Girls, Seite 16/17, Frankfurt am Main, 2010, Hervorhebungen im Original

viiAls Beispiel: www.bild.de/BILD/news/2010/12/13/berlin-krieg-der-jugendgangs-schneeball/nach-messerstecherei-in-u-bahn.html

viiiHürriyet, 28.8.2010 in Sarrazin. Eine Deutsche Debatte, München, 2010

ixwww.youtube.com/watch?v=8-wBZeeBDqI

xtaz 20.11.2010

xiwww.youtube.com/watch?v=ADK1WMxfH5U

xiiAchim Bühl, Islamfeindlichkeit in Deutschland Seite 98 ff, Hamburg, 2010

xiiiClaus Ludwig, Marxismus und Islam, in Iran – Freiheit durch Sozialismus, S. 110, Berlin, 2010

xivManny Thain, A Brief History of Islam, in Socialism Today, No. 65, S 30

xvSineb El Masrar, Muslim Girls, S. 19/20

xviEbd.S. 20/21

xviiClaus Ludwig, Marxismus und Islam, in Iran-Freiheit durch Sozialismus, S. 107

xviiiAachener Nachrichten, 23.12.2010

xixThilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, S. 314

xxAchim Bühl, Islamfeindlichkeit in Deutschland, S. 164/165.

xxiwww.socialistparty.org.uk/articles/1969

xxiiClaudie Knieps – Schreibt der Koran das Kopftuch vor? In: http://www.bpb.de/themen/0S0DT8.html

xxiiiwww.die-bibel.de/online-bibeln/luther-bibel-1984/lesen-im-bibeltext//bibel/bibelstelle/1.mose%2024/cache/2d3564e8cd12c9a150e917a777030188/

xxivSineb El Masrar, Muslim Girls, S. 32

xxvwww.socialistparty.org.uk/articles/1969

xxviAchim Bühl, Islamfeindlichkeit in Deutschland, S. 180

xxviiEbd., S. 176)

xxviiiwww.die-linke-koeln.de/ueber_uns/unsere_ortsverbaende/ehrenfeld

xxixGilles Kepel ‚Die Rache Gottes‘, zitiert in: Aron Amm, Befreiungsbewegungen und islamischer Fundamentalismus, Berlin, 2002

xxxwww.upi.com/Business_News/Security-Industry/2002/06/18/Analysis-Hamas-history-tied-to-Israel/UPI-82721024445587

xxxisiehe Sascha Stanicic, Revolution und Konterrevolution 1978-1981 in Iran-Freiheit durch Sozialismus

xxxiiKarl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW Band 1, S. 378ff., Berlin, 1974

xxxiiiW.I. Lenin, Sozialismus und Religion, in Lenin Werke, Band 10, S. 70-75, Berlin, 1975