50 Jahre seit dem größten Generalstreik der Geschichte
In dem halben Jahrhundert nach den revolutionären Ereignissen des Mai 1968 in Frankreich hat sich vieles verändert. Damals herrschte noch „Kalter Krieg“ zwischen Staaten mit sehr verschiedenen Gesellschaftssystemen: Kapitalismus und Privateigentum in der Industrie im Westen und Stalinismus basierend auf bürokratisch verwaltetem Staatseigentum im Osten.
Von Clare Doyle
Doch die herrschenden Eliten auf beiden Seiten des „Eisernen Vorhangs“ fürchteten Revolutionen von unten, welche die Macht in die Hände demokratisch gewählter VertreterInnen der Arbeiterklasse legen würden.
Der größte Generalstreik in der Geschichte – als zehn Millionen Beschäftigte den „starken Staat“ von Präsident Charles de Gaulle lahm legten – zeigte, dass solch eine Revolution möglich war. Bei einem Erfolg hätte sie sich wie ein Lauffeuer in Europa und der Welt verbreitet.
Unruhen
Dem Monat der Revolution in Frankreich gingen eine Vielzahl von wichtigen Streiks und Unruhen von SchülerInnen und Studierenden an ihren Bildungseinrichtungen voraus. Zehn Jahre „bonapartistischer“ Herrschaft unter De Gaulle verspotteten die Gesellschaft. Eine Explosion wurde vorbereitet. Lebens- und Arbeitsbedingungen der Lohnabhängigen fielen hinter dem Wirtschaftswachstum zurück. Die Inflation fraß die Löhne. In einigen großen Fabriken wurden die Produktionsketten sogar von bewaffneten Handlangern bewacht, die die Bosse angestellt hatten.
Lernende in Universitäten und Schulen waren wütend auf überfüllte Klassen, die wenige Abwechslung im Unterricht und Arbeitslosigkeit unter Promovierten. Gegen Ende April 1968 wurden bewaffnete Polizeikräfte gegen ihre Besetzungen und friedlichen Demonstrationen eingesetzt. Straßenschlachten wüteten und in den Straßen von Paris wurden Barrikaden errichtet. Hunderte SchülerInnen und Studierende landeten in Polizeigewahrsam, hunderte mehr im Krankenhaus.
Die herrschende Klasse, und insbesondere die Regierung, war gespalten, ob man den Repressionskurs beibehalten oder Zugeständnisse machen sollte. Das ist ein klassisches Element jeder revolutionären Situation, sobald sich beginnt zu entfalten. Zu Beginn des Mai `68 bestärkten die Zugeständnisse der Regierung die Studierenden nur noch mehr. Mehr Demonstrationen führten zu mehr Verletzten durch die Polizei und die Unterstützung aus den Mittelschichten der Gesellschaft stieg rasant an.
Es dauerte nicht lang bis sich junge Beschäftigte den Demonstrationen anschlossen und die Gewerkschaften gezwungen wurden, zu Solidaritätsaktionen aufzurufen. Einem 24-stündigen Generalstreik am 13. Mai folgten fünf Millionen ArbeiterInnen im ganzen Land und eine Million in Paris gingen auf die Straßen. Die Führung der ihrer Größe nach beträchtlichen „Kommunistischen“ Partei (KP) hatte gehofft, dass diese Aktion wie ein Ventil in einem Dampfkochtopf wirkt und dass die Beschäftigten zufrieden zur Arbeit zurückkehren würden.
Die Streiks weiten sich aus
Niemand konnte das Tempo erahnen, mit welchem sich die Streikbewegung entfaltete. Belegschaften im ganzen Land folgten dem Beispiel der jungen Beschäftigten bei Sud-Aviation in Nantes, welche beschlossen den Streik fortzusetzen und ihre Chefs in den Büros einzusperren.
Autofabriken wurden besetzt, Häfen, Kohleschächte, Schulen, Büros, Krankenhäuser, Lagerhallen, Theater… Überall wurden Massenversammlungen einberufen, Komitees errichtet, rote Fahnen gehisst. Lohnabhängige sangen allerorts die revolutionäre Hymne – die Internationale – und diskutierten, welchen Beitrag sie zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft leisten würden.
LandarbeiterInnen begannen mit Sitzblockaden auf den Feldern und in den Lagerhallen und ihre Gewerkschaften riefen zur landesweiten Demonstration am 24. Mai. In den Staatsapparaten begannen Meutereien – Wehrpflichtige, Polizeikräfte, Matrosen und selbst die verhasste CRS-Einheit zur Aufstandsbekämpfung. Bis Freitag den 24. Mai befanden sich zehn Millionen ArbeiterInnen – über die Hälfte der gesamten Arbeitskraft Frankreichs – im Streik. Gewalttätige Schlachten erfüllten die Pariser Straßen.
Am 25. Mai begannen Drei-Parteien-Verhandlungen zwischen Regierung, Arbeitgebern und den GewerkschaftsführerInnen (welche immer noch darauf pochten, dass der Kampf unpolitisch sei!) Nach drei Tagen und Nächten, in denen hinter verschlossenen Türen gesprochen wurde, einigte man sich auf ein großzügiges Reformpaket bezüglich der Löhne, Urlaubstage, Arbeitszeiten usw. Diese Verbesserungen waren das Produkt revolutionärer Ereignisse doch stillten nicht den Durst von Millionen Beschäftigten, die ihre Arbeitsstätten besetzt hielten.
Sie lehnten die Angebote ab und sehnten sich nach etwas, was ihre traditionellen AnführerInnen nicht einmal formulieren konnten. Eine Veranstaltung am 27. Mai füllte das Pariser Charlety-Stadion mit 50.000 Menschen, die eine politische Alternative zum Gaullismus und Kapitalismus diskutierten. Der Gewerkschaftsdachverband der CGT kündigte eine Demonstration für den Abend des 29. Mai in Paris an. An jenem Tag „verschwand“ de Gaulle aus Frankreich und erklärte: „Das Spiel ist aus.“ Eine halbe Million Streikende marschierten durch die Hauptstadt doch die ArbeiterführerInnen beabsichtigten nicht, die Macht zu übernehmen. Später sagten die KP-FührerInnen, der Staat wäre „zu stark“ gewesen. Doch der Staat war bereits dabei zu zerfallen.
Revolutionäre Situation
Eine klassische revolutionäre Situation hatte sich entwickelt. Die herrschende Schicht war handlungsunfähig, die Mittelklassen standen eindeutig auf Seiten der Arbeiterklasse und orientierten auf deren Kampfmethoden. Die französische Arbeiterklasse befand sich im Kampfmodus – bereit bis ans Ende zu gehen.
ArbeiterInnen aus Nachbarstaaten weigerten sich, die Arbeit der streikenden französischen Beschäftigten zu leisten, wie zum Beispiel den Druck von Regierungsmaterialien beziehungsweise Im- oder Export von Gütern.
Um eine erfolgreiche Übernahme der Macht sicherzustellen, braucht es eine revolutionäre Führung mit Massenunterstützung. Was hätte also getan werden können, um die Revolution vollenden zu können? Die Vernetzung und Verbindung der Streikkomitees auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene zwecks Bildung einer Gegenregierung – das wäre nötig gewesen. Das wurde auch von aktiven TeilnehmerInnen der Bewegung vorgetragen, doch ihrer Stimmen waren wenige. Sie hatten keine Basis innerhalb der Arbeiterbewegung.
1968 hatte Militant – die Vorläuferorganisation der Socialist Party (Schwesterorganisation der SAV in England und Wales) – keine SympathisantInnen oder Gleichgesinnte in Frankreich. Die Organisation hatte sich 1965 politisch von den TrotzkistInnen der Vierten Internationale getrennt, welche einige Kräfte aufweisen konnten – insbesondere unter Jugendlichen.
Doch diese waren pessimistisch gegenüber der europäischen – einschließlich der französischen – Arbeiterklasse und erklärten, diese würde in den nächsten zwanzig Jahren nicht in Aktion treten. Sie konzentrierten sich auf die Studentenbewegung und die Revolte gegen den Kolonialismus.
Einer ihrer Führer, Ernest Mandel, erklärte jene Ansichten im Frühling 1968 auf einem öffentlichen Treffen in London. Peter Taaffe, Redakteur des Militant, hielt dagegen und erklärte, dass die Arbeiterklasse weiterhin in der Lage war sich zu erheben und den französischen Kapitalismus schon sehr bald herausfordern würde. Mandel bestritt das. Doch innerhalb eines Monats widerlegten Frankreichs ArbeiterInnen seine falsche Position. Mit ihren revolutionären Traditionen im Rücken schritten sie erneut zur Aktion!
In den ersten Tagen der Ereignisse wies Peter Taaffe auf einem Treffen in der London School of Economics darauf hin, dass ein sicherer Hinweis auf die in Frankreich begonnene Revolution war, dass 12- und 13-Jährige versuchten an den Demonstrationen teilzunehmen. Ihre LehrerInnen sperrten sie in ihre Klassenräume – bis sie selbst zu streiken anfingen! Zum Ende des Mai 1968 war die Situation überreif für eine revolutionäre Umwälzung.
In Nantes gründete sich zu einem frühen Zeitpunkt der Bewegung ein Komitee mit VertreterInnen von ArbeiterInnen, Studierenden und KleinbäuerInnen. Dieses übernahm die Kontrolle der Region Loire Atlantique und somit über jeden gesellschaftlichen Aspekt vor Ort – Produktion, Verteilung und Austausch. Essen brachten die KleinbäuerInnen in die Städte, Preise und Gebühren wurden niedrig gehalten, die Polizei wich Studierenden und Beschäftigten, die die Nachbarschaften patrouillierten.
Wären ähnliche Vertreterorgane in jeder Region entstanden und hätten sie Delegierte zu einem landesweiten Kongress geschickt, so hätten aus den Kampfkomitees Organe eines Arbeiterstaates werden können.
Wie in Russland im Oktober 1917 hätte eine respektierte Führung alle nötigen Maßnahmen unternommen, um die Reihen der existierenden staatlichen Kräfte auf die Seite der sozialistischen Regierung zu ziehen. Sie hätte sich direkt an die ArbeiterInnen jedes anderen Landes gewandt – mit dem Aufruf sich ihnen anzuschließen und eine potenzielle militärische Einmischung von außen zu verhindern. Doch die FührerInnen der großen Gewerkschaftsverbände und der Kommunistischen Partei Frankreichs waren die letzten, die eine erfolgreiche Revolution wollten. Sie wussten: Hätten die Lohnabhängigen einer entwickelten, industrialisierten Wirtschaft die Macht übernommen, hätten diese damit die Lohnabhängigen der Sowjetunion inspiriert, ihre parasitäre Bürokratie abzuschütteln und eine wirkliche Arbeiterdemokratie wiederaufzubauen. So verrieten sie die Revolution.
Reaktion
Es waren die FührerInnen der Beschäftigten, die de Gaulle das Selbstvertrauen gaben nach Frankreich zurückzukehren und eine unmittelbare Wahl einzuberufen, welche die Kräfte der Reaktion auf die Straßen mobilisierte. Polizei und Armee rückten gegen Streikende und linke Organisationen vor. Hunderte militanter ArbeiterInnen wurden schikaniert und entlassen. Verschiedenste linke Organisationen wurden verboten.
Während der Parlamentswahlen im Juni gewannen die Gaullisten und die KP verlor Stimmen – stand sie eben nicht für eine neue sozialistische Gesellschaft sondern für „Recht und Ordnung“. Doch innerhalb eines Jahres – nach einer Referendums-Niederlage über Erweiterungen der Verfassung – war de Gaulle verschwunden und als Präsident durch Georges Pompidou ersetzt.
Die ursprünglichen Errungenschaften durch das Drei-Parteien-Abkommen wurden, wie Militant gewarnt hatte, durch kapitalistische Ausbeutung im Allgemeinen und durch Inflation im Besonderen untergraben.
Doch die Gewerkschaften wuchsen. Verschiedene sozialdemokratische Kräfte kamen zusammen um 1972 eine neue Sozialistische Partei zu gründen – mit Francois Mitterand an der Spitze. In weniger als einem Jahrzehnt wurde er zum Präsidenten gewählt. Im selben Jahr – 1981 – wurde die Sozialistische Partei mit einem massiven Stimmenanteil von 55 Prozent in die Regierung befördert.
Ohne ein vollständiges Programm mit Verstaatlichungen und demokratischer Arbeiterkontrolle und -verwaltung wird selbst eine im Namen „sozialistische“ Regierung schlussendlich eine Politik im Interesse des einen Prozents – der Kapitalistenklasse – umsetzen. Das war nicht nur die Lehre der Mitterand-Regierungen sondern auch der schmählichen Niederlage des „sozialistischen“ Präsidenten Francois Hollande und seiner Regierung im letzten Jahr.
Frankreich heute
Heute ist Frankreich in ein neues Kräftemessen zwischen den Klassen verwickelt. Emmanuel Macron, der „Präsident der Reichen“, ist gewillt ein ganzes Programm mit gegen die Arbeiterklasse gerichteten Maßnahmen durchzudrücken. Die ArbeiterInnen und Jugendlichen Frankreichs sind entschlossen diese zu bekämpfen.
Ein neues 1968 schwebt in der Luft. Acht von zehn Menschen in Frankreich sehen die Ereignisse von vor fünfzig Jahren als positiv an. Beliebte linke Figuren wie Jean-Luc Mélenchon und Olivier Besancenot rufen zum vereinten Kampf bis zum Ende auf. Die GewerkschaftsführerInnen versagen jedoch erneut zu führen.
Die Geschichte wiederholt sich nie auf gleiche Weise. Es braucht immer noch Zeit um eine Führung aufzubauen, die eine revolutionäre Bewegung zum Sieg führen kann.
In Frankreich und international stauen sich Unmut und Wut bei SchülerInnen, Studierenden und jungen Beschäftigten auf. Ein Blick auf den größten Generalstreik der Geschichte wird eine neue Generation mit dem Selbstvertrauen inspirieren, dass Sozialismus erkämpft werden kann. Nicht nur in einem also dem Land, wo er zunächst ausbricht, sondern weltweit.
Clare Doyle ist Mitglied des Internationalen Sekretariats des Komitees für eine Arbeiterinternationale und lebt in London.
Ihr Buch über Frankreich 68 ist beim Manifest-Verlag erhältlich.