Regierungskrise ohne Ende?

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Deutschland stehen Zeiten neuer Instabilität bevor

Wer glaubt, es gehe bei dem Streit zwischen Merkel und Seehofer darum eine mehr oder weniger restriktive Politik gegenüber Geflüchteten durchzusetzen, liegt falsch. Kanzlerin und Bundesinnenminister streiten lediglich über die Mittel, möglichst vielen Geflüchteten den Aufenthalt in Deutschland unmöglich zu machen. Doch dieser Streit birgt das Potenzial die Koalition zu zerreißen.

Von Sascha Staničić

„Ich kann mit dieser Frau nicht mehr arbeiten“ – so wird Horst Seehofer in den Medien zitiert. Gleichzeitig hatte er zwischenzeitlich mit einseitigen Ministerbeschlüssen zur direkten Zurückweisung von Geflüchteten an den deutschen Grenzen gedroht. „Diese Frau“ – Angela Merkel – droht wiederum damit ihre kanzlerinnenbedingte Richtlinienkompetenz einzusetzen. Die Koalition hängt an einem seidenen Faden, weil ein tiefer Riss durch die Union geht.

Mehr als Wahlkampf

Keine Frage: Horst Seehofer und die CSU sind im Wahlkampfmodus. Am 14. Oktober 2018 wird der Landtag in Bayern gewählt und die CSU ist auf dem besten Weg ihre absolute Mehrheit zu verlieren. Die rechtspopulistische AfD liegt in Umfragen mittlerweile bei 13,5 Prozent und damit sogar vor den SozialdemokratInnen. Söder und Seehofer wollen die AfD mit ihren eigenen Waffen schlagen – mehr Rassismus und Rechtspopulismus. Dass das schief gehen wird, wissen eigentlich alle, die sich ein wenig mit dem Wahlverhalten von Menschen auskennen: in der Regel wird lieber das Original als die Kopie gewählt. Jeder Tag, an dem der „Asylstreit“ die Schlagzeilen dominiert, ist ein Geschenk für Gauland und Weidel. Der CSU bleibt aber nichts anderes übrig, als den Weg der Anpassung an die Rechtspopulisten zu gehen, denn erstens kann sie sich nicht anders profilieren als mit einer Politik rechts von Merkel und zweitens geht es tatsächlich um mehr als nur um die bayrische Landtagswahl.

Der Gottvater der CSU und der bayrischen Sonderprivilegien in der Bundesrepublik, Franz-Josef Strauß, hat einmal gesagt, es dürfe rechts von der CSU keine demokratisch legitimierte Partei geben. Nun gibt es die AfD, die zwar wenig mit Demokratie am Hut hat, aber genau diesen Alptraum des bayrischen Langzeit-Ministerpräsidenten Strauß hat Wirklichkeit werden lassen. Die besondere Macht der bayrischen Regionalpartei CSU auf Bundesebene hat sich über Jahrzehnte aus ihrer politischen Dominanz im Freistaat ergeben. Geht diese verloren, bröckelt auch die Macht der Seehofers, Söders und Dobrindts. Es ist ein Überlebenskampf.

Doch es ist nicht nur ein aus CSU-Parteiegoismus und Machtgeilheit gespeister Streit. Darin drücken sich tatsächlich weitgehende unterschiedliche Politikkonzepte aus, die mehr berühren als die Migrationspolitik und die auch in der CDU existieren, auch wenn diese gerade den Anschein erwecken will, weitgehend hinter Merkel zu stehen.

Wie gesagt, es geht ja nicht darum, ob Geflüchtete von Deutschland fern gehalten werden sollen, sondern wie das erreicht werden soll. Angeblich gibt es zu 62 von 63 Punkten aus Seehofers Masterplan zur Flüchtlingspolitik Einigkeit. Seit Sommer 2015 wurden die Asylgesetze mehrmals verschärft und hat Merkel den schmutzigen Deal mit Erdogan geschlossen, der dazu führte, dass deutlich weniger Geflüchtete es bis an die deutsche Grenze schafften. Für eine humane Politik gegenüber MigrantInnen und Geflüchteten steht niemand in der Union.

Merkel steht für eine „europäische Lösung“ (im Interesse Deutschlands), Seehofer für einen nationalen Alleingang. Das gilt aber nicht nur für diese Frage, sondern steht sinnbildlich für die in der Union, und zwar auch innerhalb der CDU, bestehenden Differenzen zur Europapolitik – und damit zu einer grundlegenden Frage der Außenpolitik und Herrschaftsstrategie für die Zukunft. Schon auf dem Höhepunkt der Euro-Krise verlief ein tiefer Riss durch CDU und CSU und auch jetzt hat die Übereinkunft von Merkel und Macron bei ihrem Treffen in Meseberg zu einer Reform des Eurozonen-Budgets zu heftiger Kritik aus dem Lager der CSU geführt.

Europa

Angesichts der Bildung einer rechtspopulistischen und EU-feindlichen Regierung in Italien hängt das Damoklesschwert einer Neuauflage der Euro-Krise wieder über den Herrschenden der EU und der Eurozone. Der Brexit hatte schon die Frage aufgeworfen, ob andere Länder, wie eben Italien, dem Beispiel der BritInnen folgen könnten. Teile des deutschen Bürgertums befürchten, dass EU und Euro in einer neuerlichen Krisenspirale zu einer zu finanziellen Belastung und damit zu einem Wettbewerbsnachteil für deutsche Banken und Konzerne werden könnten. Andere sehen angesichts einer aggressiveren und protektionistischen US-Außen- und Wirtschaftspolitik den Weg darin, die EU im internationalen Konkurrenzkampf als Block beizubehalten und zu stärken. Angesichts der großen Exportabhängigkeit der deutschen Wirtschaft ist das sicher weiterhin die Mehrheitsposition unter deutschen Kapitalisten, die aber umstritten ist. Das nicht zuletzt, weil die AfD die öffentliche Meinung von rechts gegen die EU anheizt. Angesichts der im nächsten Jahr ebenfalls anstehenden Europawahl verbirgt sich hinter dem derzeitigen Streit um die Zurückweisung von Geflüchteten an deutschen Grenzen vor allem der Streit um die Europapolitik der Bundesregierung, wie auch die kürzlichen migrationspolitischen Maßnahmen der rechten Regierungen in Italien und Ungarn vor allem einen Angriff auf die EU und eine Positionierung für mehr nationale Eigenständigkeit dieser Regierungen und Staaten ausdrückt.

Diese Entwicklungen gehen in Deutschland einher mit einem Ausbau staatlicher Repression, wie zum Beispiel durch die neuen Polizeiaufgabengesetze (PAGs) in Bayern, NRW und weiteren Bundesländern und einer verbalen Aufrüstung rechter Unionskreise (Söders „Asyltourismus“ etc.). Im Einklang mit den Medien wird massiv daran gearbeitet, die gesellschaftlichen Debatten und die so genannte öffentliche Meinung nach rechts zu verschieben. Das auch, weil es sehr wohl auch Widerstand aus der Arbeiterklasse und Jugend gibt, der sich nach links entwickelt: die größte MiterInnendemonstration in Berlin seit Jahrzehnten, die Ausdehnung von Streiks und Protesten des Krankenhauspersonals einschließlich der bundesweiten Demonstration von 4000 KollegInnen am 20. Juni in Düsseldorf, die Mobilisierung von 80.000 gegen die AfD in Berlin im Mai diesen Jahres, die Proteste gegen das PAG in Bayern und bald auch in NRW und einiges mehr. Und auch DIE LINKE gewinnt – trotz ihrer massiven internen Konflikte – weiter Mitglieder und legt in Meinungsumfragen in Westdeutschland weiter zu. Die Asyldebatte ist, einmal mehr, auch ein groß angelegtes Ablenkungsmanöver, um die eigentlichen sozialen Probleme der arbeitenden und erwerbslosen Menschen aus dem Blickfeld zu rücken bzw. die Debatten darüber ethnisch aufzuladen. So gab es zum Beispiel an dem Tag, wo Bundesgesundheitsminister Jens Spahn von 4000 streikenden und protestierenden KollegInnen aus der Pflege ausgebuht wurde und obwohl er immer mehr unter Druck gerät und weitere Zugeständnisse wie die Refinanzierung von 80.000 neuen Stellen in der Pflege machen muss, in der Tagesschau vor allem ein Thema: Migration.

Aussichten

Dass all das in Zeiten relativer wirtschaftlicher Stabilität und von großen Haushaltsüberschüssen geschieht, ist bemerkenswert. Das zeigt zum einen, wie tief die strukturelle Krise des Kapitalismus wirkt und wie sehr die internationale Destabilisierung das Bewusstsein der Massen beeinflusst. Zum anderen ist es ein Hinweis darauf, wie sehr diese Prozesse sich potenzieren werden, wenn aus Wirtschaftswachstum Stagnation, Rückgang und Krise werden – ein Prozess, der im Kapitalismus so sicher ist, wie das Amen in der Kirche.

Auf eine solche Rückkehr wirtschaftlicher Turbulenzen ist die herrschende Klasse in der Bundesrepublik denkbar schlecht vorbereitet, weil die soziale Basis ihrer traditionellen Parteien erodiert – auch die SPD erweckt nicht den Eindruck aus ihrem historischen Tief in absehbarer Zeit wieder herauszukommen – und diese immer weniger in der Lage sind, eine einheitliche Politik zu formulieren. Das spürend versteifen sich die verschiedenen Kräfte im bürgerlichen Lager auf ihre Positionen und gefährden schon jetzt den Bestand der Koalition. Zweifellos sehen wir gerade den Anfang vom Ende der Ära Merkel. Ob es ihr gelingen wird auf EU-Ebene oder durch bilaterale Abkommen mit anderen europäischen Staaten und Herkunftsländern der Geflüchteten, Zeit zu gewinnen und einen Kompromiss mit der CSU zu erzielen, ist alles andere als sicher. Das wäre aber nur eine Verschiebung weiterer Konflikte und keine dauerhafte Lösung. Eine solche ist ohnehin ausgeschlossen, solange die Fluchtursachen nicht beseitigt werden – wovon man weiter entfernt ist denn je: 2017 waren weltweit so viele Menschen auf der Flucht wie nie zuvor.

Es ist also nicht ausgeschlossen, dass die Koalition an einem Konflikt zwischen CDU und CSU zerbricht und es zu Neuwahlen kommt. Es ist möglich, dass sich in einem solchen Prozess die Mehrheitsverhältnisse in der CDU ändern und die rechtskonservativen Kräfte um Leute wie Jens Spahn oder dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer Merkel beerben werden. Es ist ebenfalls denkbar, dass im Zuge einer solchen Entwicklung das Bündnis aus CDU und CSU gänzlich aufgelöst wird und die CSU sogar eine bundesweite Ausdehnung vornehmen wird – eine Option, die in den Medien diskutiert wird und die in verschiedenen Umfragen große Unterstützung erhielt. Manche mögen mit dieser Option den Gedanken verbinden, dass eine bundesweit antretende CSU die AfD schwächen würde. Selbst wenn das der Fall wäre, ist kaum damit zu rechnen, dass die AfD dadurch von der Bildfläche verschwinden würde. Gleichzeitig würde es die Entwicklung der CSU in Richtung Rechtspopulismus beschleunigen. Das würde eine neue Qualität der politischen Destabilisierung der Bundesrepublik bedeuten und, wie es in einem ZEIT-Kommentar formuliert wurde, zu italienischen Verhältnissen, also einer weitgehenden Fragmentierung des Parteiensystems, in Deutschland führen.

DIE LINKE

Viele sprechen von einem Rechtsruck, der gerade durch die Republik gehe. Zweifellos gibt es eine Rechtsverschiebung der herrschenden Politik und eine Stärkung der RechtspopulistInnen. Öffentliche Debatten werden vom Thema Asyl und Migration dominiert und es findet eine Ethnisierung sozialer Konflikte statt. Das Trommelfeuer rechter Propaganda der letzten Jahre hat zwangsläufig Auswirkungen auf das Bewusstsein breiterer Teile der Bevölkerung. Das gilt umso mehr, da es keine verallgemeinerten Klassenkämpfe und sozialen Bewegungen gegeben hat, die der Gesellschaft ihren Stempel aufgedrückt hätten und die öffentlichen Debatten auf die soziale und Klassenfrage lenken könnten. Aber es gibt, wie gesagt, auch Gegenentwicklungen in den sozialen und gewerkschaftlichen Kämpfen und Protesten und in der Stärkung der LINKEN in Westdeutschland. Wir sehen weiterhin eine zunehmende gesellschaftliche Polarisierung, in der der rechte Pol zur Zeit aber stärker ausschlägt.

Die Entwicklung der LINKEN und von Mieter- und Pflegeprotesten zeigt, dass ein Potenzial für linke Politik besteht. Das Tragische der gegenwärtigen Situation ist, dass die Partei DIE LINKE nicht mit einer einheitlichen und internationalistischen Klassenpolitik auf die derzeitige Lage reagiert, sondern sich gerade an Fragen der Migrationspolitik und weiteren Ausrichtung der Partei in innerparteilichen Konflikten aufreibt. Damit muss Schluss sein und die Partei- und Fraktionsspitze – wie vom Bundesparteitag vor wenigen Wochen eingefordert – auf der Basis der Beschlusslage der Partei eine soziale Offensive mittels der Pflege- und Wohnenkampagnen ausrufen, den Kampf gegen Rassismus und die Solidarität mit den Geflüchteten unmissverständlich voran treiben und einen gegen das EU-Establishment gerichteten Europawahlkampf vorbereiten. Sieben Vorschläge der SAV dazu finden sich hier.