Kritik des Gothaer Programms

Über eine der wichtigsten Schriften von Karl Marx

1875 vereinigten sich die beiden deutschen Arbeiterparteien und legten sich ein Programm zu. Karl Marx empörte sich heftig über die Unzulänglichkeit des Programmentwurfs und übte brieflich detaillierte Kritik an zahlreichen Formulierungen. Diese Kritik wurde nur ganz wenigen Spitzenfunktionären zugänglich gemacht und bei der Abfassung des endgültigen Programms kaum berücksichtigt. Erst 15 Jahre später, als sich die Sozialdemokratie ein neues Programm zulegen wollte und somit die Kritik an den einzelnen Formulierungen vollends gegenstandslos wurde, wurde der Text veröffentlicht – und wurde einer der einflussreichsten Marxschen Texte überhaupt.

von Wolfram Klein

Die Bedeutung dieses Textes zeigt sich schon darin, dass zwei der bedeutendsten marxistischen Schriften des 20. Jahrhunderts, nämlich Lenins „Staat und Revolution“ und Trotzkis „Verratene Revolution“ Marx’ „Kritik des Gothaer Programms“ entscheidende Anregungen verdankten. Aber auch für uns im 21. Jahrhundert ist Marx’ Text hochaktuell. Wir müssen die in ihm diskutierten Probleme lösen, wenn wir verhindern wollen, dass die Menschheit in Barbarei versinkt.

Der Anlass

In Deutschland führte im 19. Jahrhundert die industrielle Revolution zur Entstehung einer Arbeiterklasse, einer Klasse von Lohnabhängigen, von Menschen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um von dem Lohn zu leben. In der Revolution 1848/49 gab es erste Versuche der ArbeiterInnen, sich eigenständig zu organisieren, nach der Niederlage der Revolution verschwanden sie wieder auf Jahre hinaus.

1863 startete Ferdinand Lassalle mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) den ersten Versuch einer erneuten eigenständigen Organisierung der ArbeiterInnen. 1869 gründeten Wilhelm Liebknecht und August Bebel in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (Eisenacher) als Konkurrenzorganisation. Es gab eine Reihe von wichtigen Unterschieden. In der damals politischen Hauptfrage, der deutschen Einigung, setzten die Eisenacher auf eine revolutionäre Vereinigung von unten und lehnten Bismarcks kriegerische Vereinigung von oben scharf ab. Dagegen hatte Lassalle mit Bismarck gekungelt. Der ADAV war sehr autoritär organisiert, die Eisenacher waren demokratisch. Der ADAV betrieb einen Kult um Lassalle und machte seine theoretischen und programmatischen Steckenpferde zu seinen Markenzeichen, schob also das in den Vordergrund, was ihn von der übrigen beginnenden Arbeiterbewegung absonderte. Dagegen vertraten die Eisenacher vor allem Forderungen, die in wirklichen Kämpfen und Bewegungen entstanden (waren) – die Forderungen der radikalen Demokraten der Revolution 1848 und die wirtschaftlichen und sozialen Forderungen der beginnenden Arbeiterbewegung. Diese Forderungen spiegelten zwar die Schwächen der jungen Arbeiterbewegung wider, waren aber auf alle Fälle zukunftsweisender als zum Beispiel Lassalles Ansicht, dass der Lohn immer dem Existenzminimum entsprechen müsse („ehernes Lohngesetz“) und daher Streiks und Gewerkschaften Zeitverschwendung seien.

Diese politischen Differenzen wurden aber zunehmend gegenstandslos. Die Zunahme der Streiks im Wirtschaftsboom vor dem „Gründerkrach“ 1873 kurierte die Lassalleaner einigermaßen von ihrer Streik- und Gewerkschaftsfeindlichkeit, die innerparteiliche Diktatur stieß bei den Lassalleanern zunehmend selbst auf Opposition, weil Lassalles Nachfolger nicht mehr dessen persönliche Autorität hatten und große und lokale Parteidiktatoren gegeneinander intrigierten. Nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 war die Frage der deutschen Einigung entschieden. Als Folge davon kroch fast das gesamte Bürgertum vor Bismarck auf dem Bauch, der hatte keinen Grund mehr, mit dem ADAV gegen oppositionelle bürgerliche Politiker zu kungeln und verfolgte den ADAV jetzt ebenso wie die Eisenacher. Regierungsbeteiligungen waren damals für Eisenacher ebenso wenig wie für Lassalleaner ein Thema.

Kritik und Alternative

Es kann hier nicht darum gehen, die Kritik an den Lassalleschen Phrasen und anderen missratenen Formulierungen darzustellen. Das ist nicht mehr aktuell. Aber Marx nutzt diese Kritik, um grundlegende Zusammenhänge aufzuzeigen und das macht den Text zu einer beeindruckenden Fundgrube.

Die Kritik begann mit dem ersten Satz des Programmentwurfs. Dort (und im verabschiedeten Programm) hieß es, dass die Arbeit die Quelle allen Reichtums sei. Marx wandte ein: „Die Natur ist ebenso sehr die Quelle der Gebrauchswerte (und aus solchen besteht doch wohl der sachliche Reichtum!) als die Arbeit“. Auch wenn Marx die Schlussfolgerungen, die sich daraus für die Ökologiefrage ergeben nicht weiter ausführte, zeigt sich, dass er hier ein größeres Problembewusstsein hatte als Generationen späterer MarxistInnen.

Statt dessen machte Marx Ausführungen über den Charakter der menschlichen Arbeit, der menschlichen Gesellschaft und ihrer historischen Entwicklung. Im Grunde genommen fasste er Kerngedanken seiner materialistischen Geschichtsauffassung kurz zusammen: Menschliche Arbeit erfordert Arbeitsmittel und -gegenstände. Deshalb ist die Frage, wessen Eigentum diese Arbeitsmittel und -gegenstände sind, entscheidend für den Charakter der Gesellschaft.

Reichtum und Kultur kann nur durch gesellschaftliche Arbeit geschaffen werden, aber in „dem Maße, wie die Arbeit sich gesellschaftlich entwickelt und dadurch Quelle von Reichtum und Kultur wird, entwickeln sich Armut und Verwahrlosung auf Seiten des Arbeiters, Reichtum und Kultur auf Seiten des Nichtarbeiters.“ Das war das „Gesetz der ganzen bisherigen Geschichte“, aber „in der jetzigen kapitalistischen Gesellschaft [werden] endlich die materiellen etc. Bedingungen geschaffen […], welche die Arbeiter befähigen und zwingen, jenen geschichtlichen Fluch zu brechen.“ Also der Kapitalismus mit seiner enormen Steigerung der Arbeitsproduktivität schafft die materiellen Voraussetzungen für eine Gesellschaft ohne Armut und Unterdrückung, aber um diese Möglichkeit Wirklichkeit werden zu lassen, müssen die ArbeiterInnen den Kapitalismus beseitigen.

Die Rechtsverhältnisse entstehen aus den wirtschaftlichen Verhältnissen und nicht umgekehrt. Was die Menschen als gerecht empfinden, hängt von den wirtschaftlichen Verhältnissen ab. Ebenso hängt innerhalb der Wirtschaft die Verteilung von der Produktion ab. „Die jedesmalige Verteilung der Konsumtionsmittel ist nur Folge der Verteilung der Produktionsbedingungen selbst. Die kapitalistische Produktionsweise zum Beispiel beruht darauf, dass die sachlichen Produktionsbedingungen Nichtarbeitern zugeteilt sind unter der Form von Kapitaleigentum und Grundeigentum, während die Masse nur Eigentümer der persönlichen Produktionsbedingung, der Arbeitskraft, ist. Sind die Elemente der Produktion derart verteilt, so ergibt sich von selbst die heutige Verteilung der Konsumtionsmittel. Sind die sachlichen Produktionsbedingungen genossenschaftliches Eigentum der Arbeiter selbst, so ergibt sich ebenso eine von der heutigen verschiedene Verteilung der Konsumtionsmittel.“ Das ist eine Antwort auf die bis heute beliebten Vorstellungen, das kapitalistische Eigentum unangetastet zu lassen und zugleich die Verteilung durch zum Beispiel Steuern ändern zu wollen.

Der Staat

Eine entscheidende Frage, mit der sich Marx beschäftigte, war die des Staats. Wilhelm Liebknecht sprach ständig vom „Volksstaat“. Der Ausdruck war allenfalls als Umschreibung für „Republik“ (die zu fordern im Kaiserreich illegal war) hinnehmbar. Marx begann seine Kritik damit, dass er an die Schlussfolgerungen aus seiner materialistischen Geschichtsauffassung für den Staat erinnerte: Die Grundlage des bestehenden Staates ist die bestehende (kapitalistische) Gesellschaft, der Staat ist kein „selbständiges Wesen […], das seine eignen, geistigen, sittlichen, freiheitlichen Grundlagen’ besitzt.“

Später heißt es noch, dass man unter Staat die „Regierungsmaschine“ verstehen müsse „oder den Staat, soweit er einen durch Teilung der Arbeit von der Gesellschaft besonderten, eignen Organismus bildet“. Dabei betonte Marx, dass die konkrete Ausprägung des Staats auf der Grundlage der kapitalistischen Gesellschaft je nach den historischen Besonderheiten verschieden ist. Die demokratische Republik ist die „letzte Staatsform der bürgerlichen Gesellschaft“, aber nicht weil in ihr eine Versöhnung zwischen den Klassen stattfinden würde, sondern weil in ihr „der Klassenkampf definitiv auszufechten ist“. „Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft“ erwartete Marx „die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre“, die zugleich eine „politische Übergangsperiode [ist], deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.“

Der Begriff „Diktatur des Proletariats“ klingt nach der Erfahrung des Stalinismus, der sich auf ihn berief, ziemlich abschreckend. Gemeint hat Marx etwas völlig anderes damit. Schon im Kommunistischen Manifest 1848 hieß es: „Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl.“

In seiner Schrift über die Pariser Kommune 1871 („Der Bürgerkrieg in Frankreich“) erklärte er ausdrücklich und ausführlich, dass sie für die Masse der Bevölkerung demokratischer war als selbst die demokratischste Republik im Kapitalismus.

Engels fasste das 1891 in seiner Einleitung zur Neuauflage des „Bürgerkriegs“ so zusammen: „Gegen diese, in allen bisherigen Staaten unumgängliche Verwandlung des Staates und der Staatsorgane aus Dienern der Gesellschaft in Herren der Gesellschaft wandte die Kommune zwei unfehlbare Mittel an. Erstens besetzte sie alle Stellen, verwaltende, richtende, lehrende, durch Wahl nach allgemeinem Stimmrecht der Beteiligten, und zwar auf jederzeitigen Widerruf durch dieselben Beteiligten. Und zweitens zahlte sie für alle Dienste, hohe wie niedrige, nur den Lohn, den andre Arbeiter empfingen.“ Es war völlig logisch, wenn Lenin oder Rosa Luxemburg die Begriffe Arbeiterdemokratie beziehungsweise sozialistische Demokratie als Synonyme für „Diktatur des Proletariats“ verwandten. Da Sprache der Verständigung dienen und nicht mutwillig Missverständnisse herbeiführen soll und die meisten Menschen heute unter dem Begriff „Diktatur des Proletariats“ eben nicht mehr das verstehen, was Marx und Engels, Luxemburg, Lenin und Trotzki darunter verstanden, empfiehlt es sich, diesen missverständlich gewordenen Begriff nicht mehr zu verwenden und grundsätzlich von Arbeiter- (oder sozialistischer) Demokratie zu reden.

Zum „zukünftigen Staatswesen der kommunistischen Gesellschaft“ schreibt Marx nicht viel. Aber die Frage „welche gesellschaftliche Funktionen bleiben dort übrig, die jetzigen Staatsfunktionen analog sind?“ macht deutlich, dass es einen Staat als „durch Teilung der Arbeit von der Gesellschaft besonderten, eignen Organismus“ dann überhaupt nicht mehr geben werde. Marx hat seine Ansichten zum Staat in diesem Text nicht ausführlich entwickelt. Die beste Zusammenfassung und Interpretation seiner Ansichten zu dieser Frage ist nach wie vor Lenins „Staat und Revolution“.

Der Übergang zum Kommunismus

Seine Ansichten zu einer anderen Frage hat Marx zum Glück hier relativ zusammenfassend und relativ ausführlich dargestellt, nämlich seine Auffassungen von den Phasen des Kommunismus.

Aufhänger ist die Polemik gegen die Lassallesche Vorstellung der „gerechten Verteilung“ des „vollen Arbeitsertrags“. Er betont, dass nicht der volle Arbeitsertrag, das gesellschaftliche Gesamtprodukt, für die Verteilung zur Verfügung steht, weil Abzüge für Ersatz der verbrauchten Produktionsmittel, Verwaltungskosten, gemeinschaftliche Befriedigung von Bedürfnissen und vieles andere zu machen sind. Seine Ausführungen über die Verteilung des für den individuellen Konsums bestimmten Rest wurden berühmt.

Er führte den Gedanken aus, dass sich mit der Zeit die Verteilung ändern werde. Er unterschied zwei Phasen, eine erste „wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie kommt“ und „eine höhere Phase der kommunistischen Gesellschaft.“ Später hat es sich eingebürgert, die erste Phase als Sozialismus und nur die zweite als Kommunismus zu bezeichnen.

In der ersten Phase „erhält der einzelne Produzent – nach den Abzügen – exakt zurück, was er ihr gibt. Was er ihr gegeben hat, ist sein individuelles Arbeitsquantum. Zum Beispiel der gesellschaftliche Arbeitstag besteht aus der Summe der individuellen Arbeitsstunden. Die individuelle Arbeitszeit des einzelnen Produzenten ist der von ihm gelieferte Teil des gesellschaftlichen Arbeitstags, sein Anteil daran. Er erhält von der Gesellschaft einen Schein, dass er soundso viel Arbeit geliefert (nach Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds), und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln soviel heraus, als gleich viel Arbeit kostet. Dasselbe Quantum Arbeit, das er der Gesellschaft in einer Form gegeben hat, erhält er in der andern zurück.“ „Es herrscht hier offenbar dasselbe Prinzip, das den Warenaustausch regelt, soweit der Austausch Gleichwertiger ist. Inhalt und Form sind verändert, weil unter den veränderten Umständen niemand etwas geben kann außer seiner Arbeit und weil andererseits nichts in das Eigentum der einzelnen übergehen kann außer individuellen Konsumtionsmitteln. Was aber die Verteilung der letzteren unter die einzelnen Produzenten betrifft, herrscht dasselbe Prinzip wie beim Austausch von Warenäquivalenten, es wird gleich viel Arbeit in einer Form gegen gleich viel Arbeit in einer andern ausgetauscht.“ Erst in der zweiten Phase werde dann gelten: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“

Mit diesen Marxschen Äußerungen wurde seitdem einiger Schindluder getrieben. Eine harmlose Albernheit war noch, wenn bürgerliche „Marxologen“ witzelten, dass dann kapitalistische Staaten mit Kindergeld kommunistisch seien. Schlimmer war, wenn sich die stalinistischen Regime in Osteuropa auf diese Ausführungen beriefen, um die bei ihnen bestehende soziale Ungleichheit und ihren Kampf gegen die „Gleichmacherei“ zu rechtfertigen: Man sei ja erst noch im Sozialismus und deswegen gelte das „sozialistische Prinzip“ „jeder nach seiner Leistung“. Das war völliger Unfug.

Erstens bestanden offenkundig in den stalinistischen Staaten die von Marx für die erste Phase skizzierten Verhältnisse nicht. Es gab in der Sowjetunion oder DDR keinen Tag Sozialismus. Die Sowjetunion, Osteuropa, China oder Kuba sind nie über die Übergangsperiode zwischen Kapitalismus und Sozialismus hinausgekommen. Da in ihnen aber auch von Arbeiterdemokratie keine Rede sein konnte (bis auf die Sowjetunion in den allerersten Jahren nach der Oktoberrevolution), bezeichnen wir sie als bürokratisch deformierte Arbeiterstaaten.

Nach Marx gibt es in beiden Phasen des Kommunismus Verteilung statt Austausch der Produkte, nur die Verteilungsweise ist anders. „Innerhalb der genossenschaftlichen, auf Gemeingut an den Produktionsmitteln gegründeten Gesellschaft tauschen die Produzenten ihre Produkte nicht aus; ebenso wenig erscheint hier die auf Produkte verwandte Arbeit als Wert dieser Produkte, als eine von ihnen besessene sachliche Eigenschaft“. (Die von Marx erwähnten Scheine sind so wenig Geld wie Fahrausweise oder Eintrittskarten Geld sind.) In der DDR und den anderen Ländern gab es aber Austausch, Waren, Preise, Geld. Das haben die Herrschenden in diesen Ländern auch gar nicht bestritten.

Der Grund dafür war, dass der Staat ein „von der Gesellschaft gesonderter, eigener Organismus“ blieb und keine Anstalten machte, sich in die Gesellschaft aufzulösen, abzusterben. Vielmehr wurde die Kluft, der Gegensatz, die Entfremdung zwischen der den Staat kontrollierenden Bürokratie und der restlichen Gesellschaft, der arbeitenden Bevölkerung, immer größer. Damit waren die Produkte der Staatswirtschaft auch keine unmittelbaren gesellschaftlichen Produkte, die nur innerhalb der Gesellschaft auf ihre einzelnen Glieder verteilt zu werden brauchten, sondern mussten erst durch Austausch in das Eigentum der Verbraucher übergehen.

Bürgerliches Recht

Zweitens hat Marx ausdrücklich betont, dass es sich dabei nicht um etwas Sozialistisches, sondern um ein bürgerliches Prinzip, „bürgerliches Recht“ handelt, dass es „mit einer bürgerlichen Schranke behaftet“ ist. Marx hat selbst hervorgehoben, zu welchen Schwierigkeiten und Unzuträglichkeiten das führt: „Der eine ist aber physisch oder geistig dem andern überlegen, liefert also in derselben Zeit mehr Arbeit oder kann während mehr Zeit arbeiten; und die Arbeit, um als Maß zu dienen, muss der Ausdehnung oder der Intensität nach bestimmt werden, sonst hörte sie auf, Maßstab zu sein. Dies gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit. Es erkennt keine Klassenunterschiede an, weil jeder nur Arbeiter ist wie der andre; aber es erkennt stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher Leistungsfähigkeit der Arbeiter als natürliche Privilegien an. Es ist daher ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht. Das Recht kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehen; aber die ungleichen Individuen (und sie wären nicht verschiedene Individuen, wenn sie nicht ungleiche wären) sind nur an gleichem Maßstab messbar, soweit man sie unter einen gleichen Gesichtspunkt bringt, sie nur von einer bestimmten Seite fasst, zum Beispiel im gegebenen Fall sie nur als Arbeiter betrachtet und weiter nichts in ihnen sieht, von allem andern absieht. Ferner: Ein Arbeiter ist verheiratet, der andre nicht; einer hat mehr Kinder als der andre etc. etc. Bei gleicher Arbeitsleistung und daher gleichem Anteil an dem gesellschaftlichen Konsumtionsfonds erhält also der eine faktisch mehr als der andre, ist der eine reicher als der andre etc.“ Nebenbei beweist dieses Zitat, dass alle Vorwürfe, der Marxismus würde die individuellen Unterschiede unter den Menschen leugnen, nur mit Unwissenheit oder Böswilligkeit zu erklären sind.

Drittens hat Marx keine Norm aufgestellt, sondern eine Prognose. Wenn die ArbeiterInnen „sittlich, geistig“ schon über diesen Prinzip hinaus sind, kann es nicht die Aufgabe von MarxistInnen sein, sie wieder dahin zurückzuzerren. Dann beweist das reale Bewusstsein der ArbeiterInnen, dass die Kulturentwicklung (und damit die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung als ihre Grundlage) schon weiter ist. Nachdem der Weg hin zur ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft sich als wesentlich mühsamer herausgestellt hat, als es Marx erwartete, wäre es doch nicht schlimm, wenn es danach etwas schneller ginge.

Für den Übergang von der ersten zur zweiten Phase, also vom Sozialismus zum Kommunismus im engeren Sinne, nennt Marx mehrere Voraussetzungen: dass „die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist“, dass „die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden“, dass „mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen“. Diese Ausführungen geben eine Vorstellung von der Entwicklung der Arbeitsproduktivität, der Arbeitsorganisation, der Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten, die Marx schon für den Sozialismus erwartete, als Voraussetzung für eine wirkliche kommunistische Gesellschaft. Dass die DDR mit diesem Verständnis von Sozialismus keinerlei Ähnlichkeit hatte, ist offensichtlich.

Lenin und Trotzki

In seiner bereits erwähnten Schrift „Staat und Revolution“ hat Lenin fast das gesamte fünfte Kapitel der Wiedergabe und Interpretation von Marx’ Kritik des Gothaer Programms gewidmet.

Dabei knüpfte er bemerkenswerte Überlegungen an die Marxschen Äußerungen über den Fortbestand des bürgerlichen Rechts in der ersten Phase des Kommunismus an: „Das bürgerliche Recht setzt natürlich in Bezug auf die Verteilung der Konsumtionsmittel unvermeidlich auch den bürgerlichen Staat voraus, denn Recht ist nichts ohne einen Apparat, der imstande wäre, die Einhaltung der Rechtsnormen zu erzwingen. So ergibt sich, dass im Kommunismus nicht nur das bürgerliche Recht eine gewisse Zeit fortbesteht, sondern auch der bürgerliche Staat – ohne Bourgeoisie!“

So bemerkenswert diese Überlegungen waren, so wenig wurden sie damals bemerkt.

Erst beinahe zwanzig Jahre später griff Trotzki in seiner „Verratenen Revolution“ diese „hochbedeutsame Schlussfolgerung“ wieder auf und erklärte sie „von ausschlaggebender Bedeutung für das Verständnis der Natur des Sowjetstaates, genauer: für ein erstes Annähern an dieses Verständnis“. Natürlich kann in diesem Aufsatz nicht auch noch dieses mehrere hundert Seiten lange Buch über den Stalinismus in der Sowjetunion dargestellt werden. Hier kann es nur darum gehen, darauf hinzuweisen, dass Marx’ Ausführungen über eine künftige sozialistische und kommunistische Gesellschaft so konkret und realistisch waren, dass sie zugleich zum theoretischen Ausgangspunkt für die Erklärung dafür werden konnten, warum das Scheitern dieses Versuches unter den Bedingungen eines rückständigen und isolierten Landes diese historisch beispiellose Form angenommen hat: der Arbeiterstaat bekam einen Doppelcharakter als Verteidiger des fortschrittlichen, von der Revolution geschaffenen, verstaatlichten Eigentums und als Verteidiger der aus dem Kapitalismus überkommenen sozialen Ungleichheit. Diese Ungleichheit war mit einer Rätedemokratie, einer viel demokratischeren Herrschaftsform als es sie im Kapitalismus jemals gegeben hat, unvereinbar. Als Folge verschwand die Rätedemokratie, der „bürgerliche Staat ohne Bourgeoisie“ wurde immer bürokratischer und parasitärer.

Aktuell wie je

Die Probleme, die Marx in der „Kritik des Gothaer Programms“ behandelt, sind im 21. Jahrhundert aktueller denn je. Seitdem immer mehr Menschen erkannt haben, dass die Privatisierung und Deregulierung der letzten Jahre nur den Interessen einer kleinen Minderheit dienten und die Forderung nach staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft wieder zunimmt, ist es um so wichtiger, dass wir uns über den Charakter dieses Staates klar werden, der eben kein selbständiges Wesen, kein neutraler Schlichter zwischen gesellschaftlichen Interessen ist, sondern ein Werkzeug der kleinen Minderheit von Kapitaleigentümern, das wir nicht einfach unverändert für unsere Interessen verwenden können.

Nachdem der Stalinismus gescheitert ist und der Kapitalismus den Menschen Elend, Arbeitslosigkeit, ökologische Katastrophen und Kriege bringt und die Menschheit immer mehr in Richtung Barbarei treibt, ist die Frage, mit welchen Schritten man eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung erreichen kann, in der Tat eine, die über das Schicksal der Menschheit entscheidet.

Wolfram Klein ist Autor verschiedener im Manifest-Verlag erschienener Bücher und Broschüren, unter anderem zur Russischen Revolution, Leben und Werk Antonio Gramcis und zu Clara Zetkin. In diesem Jahr wird eine Auseinandersetzung mit der Kapital-Rezeption von Michael Heinrich erscheinen. Er ist Mitglied des SAV Bundesvorstands und der LINKEN und lebt in Plochingen bei Stuttgart.

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