In vielen Rückblicken wird die Auffassung vertreten, dass die Revolte von 1968 vor allem kultureller Art war, mehr oder weniger beschränkt auf ein Aufbegehren gegen den Mief der Adenauer-Ära und gegen die fortdauernde Präsenz von Alt-Nazis in führenden Positionen in Staat und Gesellschaft. Diese Sichtweise lässt die weitergehenden Ziele und Auswirkungen der damaligen Bewegung oft unter den Tisch fallen. Es war aber vor allem eine internationale Bewegung, und in anderen Ländern gab es nicht die Nachholbedürfnisse, Anlässe oder Auslöser wie in der Bundesrepublik.
von Angela Bankert
Das Jahr 1968 sticht hervor, aber man muss die ganze Phase vor und nach ’68 betrachten. In fast allen westeuropäischen Ländern gab es in den Sechzigern die Jugendrevolte. In Frankreich löste sie im Mai 1968 gar einen Generalstreik und eine Welle von Betriebsbesetzungen aus. In Italien war es der Auftakt zu einer ganzen Phase mit zugespitzten Klassenkämpfen einer ungeheuer erstarkenden Arbeiterbewegung. In Portugal und Spanien verstärkte sich die Widerstandsbewegung gegen die Diktaturen, die 1974 zur Nelkenrevolution in Portugal und 1975 zum Sturz der Diktatur in Spanien führte.
Aus Japan flimmerten Bilder äußerst brutaler Auseinandersetzungen zwischen militanten Jugendlichen und hochgerüsteten Polizisten über den Bildschirm. Durch Sri Lanka rollte 1971 ein Jugendaufstand. Und natürlich, im Fokus der ganzen Welt: die Befreiungsbewegungen in Vietnam und anderen Ländern Südostasiens gegen die US-Truppen.
Scheitelpunkt einer internationalen Bewegung
In den USA schaukelten sich schwarze Bürgerrechtsbewegung, Anti-Vietnamkriegsproteste, Flower-Power-Bewegung und Jugendrevolte gegenseitig hoch.
In Lateinamerika hatte die Kubanische Revolution 1959/60 dem ganzen Kontinent einen enormen Anschub gegeben. Ende der sechziger Jahre entwickelten sich die revolutionären Ereignisse in Chile und führten 1971 zur Wahl des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Afrika verzeichnete den Aufschwung von Befreiungsbewegungen in Rhodesien (Zimbabwe), Angola, Mosambique, Namibia und der Anti-Apartheitbewegung in Südafrika.
In Osteuropa weckte 1968 der „Prager Frühling“ Hoffnungen auf eine Demokratisierung der Gesellschaft. Diese Aufzählung ist bei weitem nicht vollständig.
Es ist geradezu phänomenal, wie sich fast zeitgleich in so vielen Ländern der Welt derart umfassende und tiefgreifende Bewegungen abspielten. Zeitgleich dann, wenn man die ganze historische Phase betrachtet. Denn was verkürzt als „1968“ bezeichnet wird, ist der Scheitelpunkt einer Bewegung, in dem Vorläufer der sechziger Jahre kulminierten und von dem eine Welle gesellschaftlicher Kämpfe ausging, die bis weit in die siebziger Jahre hinein rollte. Die zugrunde liegenden Ursachen dieser relativen Gleichzeitigkeit sind bis heute nicht ausreichend untersucht.
Eine mag die lange Wachstumsperiode der Nachkriegszeit sein – ein ökonomischer Aufschwung ab Mitte der fünfziger Jahre in der kapitalistischen Welt, der Mitte der Siebziger mit der synchronen globalen Rezession endete. Vollbeschäftigung, steigender Lebensstandard, ein Wiedererstarken der organisierten Arbeiterbewegung in Gewerkschaften und Parteien gingen damit einher. Eine neue Generation war herangewachsen, die ihren Anteil am Aufschwung haben wollte, in den Folgejahren aber auch die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus zu spüren bekam.
Eine globale politische Klammer der 68er-Bewegung waren sicher die Kriegsverbrechen der Weltmacht USA im Vietnam-Krieg und die Protestbewegungen dagegen. Die Darstellung der USA als Befreier vom Faschismus und Heilsbringer der Demokratie war dadurch erschüttert. Der Kapitalismus hatte im 20. Jahrhundert zwei Weltkriege ausgelöst. Und schon wurden wieder neue Brandherde entfacht, von der Kuba-Krise bis Südostasien. Ähnliches galt für Ex-Kolonialmächte, die gegen Befreiungsbewegungen der sogenannten Dritten Welt vorgingen, wie Frankreich in Algerien.
Besonderheiten in der BRD
In der Bewegung in der Bundesrepublik spielten weitere, besondere Faktoren eine Rolle:
Die lückenhafte Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, die personellen Kontinuitäten im Justizapparat (kein NS-Richter wurde je zur Rechenschaft gezogen), in der Politik (Bundespräsident Heinrich Lübke, Kanzleramtschef Hans Globke, Kanzler Georg Kiesinger und andere ehemalige NSDAP-Mitglieder kamen in hohe Funktionen) und viele ehemals braune Professoren unter den Universitätseliten. Der Mief „unter den Talaren“, das reaktionäre Familien- und Weltbild der Adenauer-Ära waren erdrückend. Die antimilitaristische Grundstimmung drückte sich im Kampf gegen die Wiederbewaffnung aus. Die Bildung der Großen Koalition 1966 hatte eine massive Enttäuschung und die Abkehr vieler Menschen von der SPD zur Folge. (Selbst Gudrun Ensslin war 1965 noch Wahlhelferin der SPD gewesen).
Das untergründige gesellschaftliche Rumoren gegen diese Zustände brach sich Bahn in der außerparlamentarischen Oppositionsbewegung, die den vielzitierten Liberalisierungs-Schub einleitete. Menschen- und Frauenrechte wurden eingefordert, eine liberale Kindererziehung, eine freiere und selbstbestimmte Sexualität. Eltern, Pfarrer und Staatsanwalt sollten nicht mehr quasi „neben dem Bett“ stehen. Unter anderem wurden der Verkuppelungs- und Homosexuellen-Paragraf abgeschafft, mit dem § 218 der Schwangerschaftsabbruch liberalisiert, eine moderne Eherechtsreform eingeleitet. Etliche Kinderläden und Kommunen wurden gegründet, Wohngemeinschaften schossen aus dem Boden. Die wichtigste Folge ist vielleicht das grundsätzliche Hinterfragen von sogenannten Autoritäten.
Wenn es auch zwischenzeitlich wieder ein gewisses Rollback gegeben hat, insbesondere auf dem Gebiet der pornografischen und frauenfeindlichen Vermarktung der Sexualität, so sind die kulturellen Nachwirkungen der 68er doch nach wie vor zu spüren. In der Abschaffung des „Züchtigungsrechts“ der Eltern im Jahr 2000 ebenso wie in der Tatsache, dass selbst ein Kanzlerkandidat Edmund Stoiber im Jahr 2002 die Aufnahme einer unverheirateten Mutter in sein Schattenkabinett verteidigte – undenkbar vor 1968.
Soziale Frage
Die 68er-Bewegung wird oft losgelöst von Klassen- und sozialen Fragen betrachtet. Das Rumoren gegen die gesellschaftlichen Zustände begann aber deutlich vor 1968 und drückte sich im Erstarken der Arbeiterbewegung aus, deren Demonstrationen in den siebziger Jahren weitaus größer waren als die überwiegend studentischen Demos in den Sechzigern, die manchmal nur wenige Tausende mobilisierten. Dennoch bewirkten sie einen Umschwung in der politischen Meinungsführerschaft. Veränderung fängt meist an den Rändern an.
Auch der Aufbruch der Frauen war keine studentische Eingebung, sondern hatte handfeste Hintergründe. Der lange Aufschwung integrierte wieder mehr Frauen in den Arbeitsprozess, wenn auch oft auf Teilzeitbasis, als „Zuverdienerinnen“. Die Pille und bessere Verhütungsmöglichkeiten verminderten auch hier die Abhängigkeiten. Das erhöhte das Selbstbewusstsein der Frauen und beförderte ihre Loslösung vom patriarchalen Modell des „Familienernährers“.
Seit Mitte der fünfziger Jahre fanden auf der Grundlage der Hochkonjunktur im lokalen Maßstab einzelne Arbeitskämpfe statt. In der (kleineren) Rezession von 1966/67 protestierten Hunderttausende gegen Zechenschließungen und Angriffe auf übertarifliche Leistungen. An den Protesten gegen Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr, die sich zwischen 1967 und 1969 in vielen Städten zu Boykotten, Demonstrationen und selbstorganisierten Fahrgemeinschaften entwickelten, beteiligten sich Belegschaften und GewerkschafterInnen, vor allem aber viele junge ArbeiterInnen. Im Mai 1968 spielten die Gewerkschaften IG Metall und IG Druck eine bedeutende Rolle in der Bewegung gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze.
All diese Aktionen gingen den Arbeitskämpfen von 1969 und 1973 voraus. In der Welle wilder Streiks im September 1969 setzten die meisten der rund 200.000 Streikenden ihre Forderungen durch. Bis Ende des Jahres erhielten zudem etwa acht Millionen Beschäftigte „freiwillige“ Lohnerhöhungen, um weiteren Unruhen zuvor zu kommen. Kennzeichnend für die Streikbewegung 1973 war, dass vor allem die am schlechtesten bezahlten Schichten – ausländische ArbeiterInnen und Frauen – eine aktive Rolle in diesen Kämpfen spielten. Die Zunahme der MigrationsarbeiterInnen brachte auch andere und spontanere Kampfformen in die Bewegung. Der große Arbeitskampf im Öffentlichen Dienst im Jahr 1974 brachte gar die Regierung Brandt ins Wanken.
Kampf um Verbesserungen
Nicht nur Studierende reklamierten das „schöne Leben“, auch die abhängig Beschäftigten strebten nach Befreiung in und von der Arbeit. Schon seit Mitte der fünfziger Jahre wurden bei lokalen wilden Streiks qualitative Forderungen nach Verbesserung der Arbeitsbedingungen aufgestellt. In Nordwürttemberg-Nordbaden wurde 1973 durch einen dreiwöchigen Streik ein neuer Rahmentarifvertrag in der Metallindustrie erkämpft, der zahlreiche Verbesserungen inklusive der sogenannten Steinkühler-Pause enthielt. Arbeitszeitverkürzung wurde seit der Kampagne „Samstags gehört Vati mir“ schrittweise auf vierzig Stunden durchgesetzt. Das Büchlein im Raubdruck „Lieber krankfeiern als gesund schuften“ mit Tipps von anonymen Medizinstudenten erfreute sich großer Beliebtheit. In den Siebzigern wurden in Gewerkschaften Konzepte zur Humanisierung der Arbeitswelt, zur Einschränkung der Akkordarbeit und Umwandlung in Gruppenarbeit diskutiert.
Die einzige Phase, in der die SPD als Regierungspartei tatsächlich umfassende soziale Reformen durchführte – nämlich von 1969 bis 1974 –, fand unter dem Druck dieser Bewegungen von Jugend und Arbeiterklasse statt.
Studierende und Beschäftigte
Den Studierenden wird oft vorgeworfen, sie hätten sich gegenüber der Arbeiterschaft elitär verhalten. Das mag für einen Teil stimmen. Doch es gab viele Verbindungen. Junge Arbeiter besuchten Vollversammlungen der Studierenden. Studierende verteilten Flugblätter vor Betrieben.
Zwar hatten die führenden Kräfte in der Bewegung keine systematische Orientierung auf die Arbeiterbewegung, aber die Pflege des Vorurteils über die angeblich arbeiterfeindlichen StudentInnen soll dazu dienen, in zukünftigen Bewegungen eine Verbindung von Studierenden und Beschäftigten zu erschweren. Deshalb wird gerne verschwiegen, dass es die SPD- und Gewerkschaftsbürokraten waren, die systematisch versuchten, Stimmung gegen die Studentenbewegung zu machen. Im Februar 1968 sagte der Berliner SPD-Bürgermeister Klaus Schütz auf einem SPD-Landesparteitag über linke Studenten: „Ihr müsst diese Typen sehen. Ihr müsst ihnen genau ins Gesicht sehen. Dann wisst ihr, denen geht es nur darum, unsere freiheitliche Grundordnung zu zerstören.“
Wiederentdeckung des Marxismus
Der relative Erfolg der Bewegung lag auch daran, dass im Hintergrund immer die Systemfrage stand. Auch und gerade im Frontstaat BRD wollte man die Überlegenheit des westlichen Systems durch soziale Zugeständnisse unter Beweis stellen.
Die StudentInnen bezeichneten sich nicht zufällig als Außerparlamentarische Opposition – APO. Das hatte mit der Großen Koalition zu tun, aber auch mit der grundlegenden Systemopposition, mit der Ablehnung des bürgerlichen Parlamentarismus. Die Studentenbewegung entdeckte den Marxismus wieder. Bereits Anfang bis Mitte der sechziger Jahre entstanden Lese- und Theoriekreise, die sich wieder mit der marxistischen Kritik der Politischen Ökonomie befassten.
Man diskutierte die Zusammenhänge zwischen „Dritter Welt“ und imperialistischen Metropolen, studierte die Befreiungsbewegungen, eignete sich Imperialismus-Theorien an.
Dies waren die Vorläufer-Diskussionen der revolutionären, sozialistisch/kommunistischen Zielvorstellungen zu Hoch-Zeiten der APO. Eine Rätedemokratie als Gegenmodell zu bürgerlichem Parlamentarismus und zum Stalinismus wurde diskutiert.
Die Frühschriften von Karl Marx, die „Pariser Manuskripte“, die Entfremdungsfrage wurden gelesen und diskutiert. Autoren, die den bürgerlichen Parlamentarismus ablehnten, wie Johannes Agnoli in „Die Transformation der Demokratie“, beeinflussten die Debatten. Die großen bürgerlichen Verlage wie Suhrkamp und Fischer brachten Reihen linker, politischer Schriften mit hoher Auflage heraus.
Auf dem Höhepunkt waren laut dem Historiker Hans-Ulrich Wehler etwa 80.000 Menschen in kommunistischen Organisationen und weitere 100.000 in anderen revolutionären Zusammenhängen organisiert. Eine Revolution fand jedoch nicht statt – trotz viel Herzblut, Opferbereitschaft und Mut.
Die Jusos vollzogen 1969 eine scharfe Linkswende, von 1969 bis Mitte der Siebziger traten Hunderttausende der SPD bei. Mit der sozialliberalen Reformpolitik und dem Misstrauensvotum 1972 schwappte die Willy-Sympathiewelle durchs Land. Die Mehrheit der Jugend und der arbeitenden Bevölkerung, die nach Millionen zählten, orientierten sich politisch an der SPD. Die Jungsozialisten, viele SPD-AnhängerInnen und linke GewerkschafterInnen betrachteten sich als SozialistInnen oder MarxistInnen, mögen sie auch eher vage Vorstellungen gehabt haben.
Den revolutionär gesinnten Kräften ist die Loslösung der breiten Massen vom Reformismus in Form der Sozialdemokratie – oder in anderen Ländern der westlichen traditionellen Kommunistischen Parteien – nicht gelungen. Große Teile der manchmal sehr sektiererischen K-Gruppen haben diese Aufgabenstellung nicht einmal gesehen.
Mangel an Klarheit
Zu der Zeit war für praktisch alle politisch Aktiven das Ziel der Bewegung eine sozialistische beziehungsweise kommunistische Gesellschaft. Wie solch eine Gesellschaft konkret aussehen müsste und wie sie erreicht werden könnte, darüber gab es höchst unterschiedliche Auffassungen.
Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre vertraten nur ganz wenige die Ansicht, dass sowohl der kapitalistische Westen als auch der stalinistische Osten demnächst ökonomisch an ihre Grenzen stoßen und in eine Periode von Stagnation und Niedergang eintreten würden. Aufgrund dieses fehlenden Verständnisses blieben die ReformsozialistInnen bei den Jusos in ihrer konkreten Politik im Rahmen des Kapitalismus. Sie handelten nach dem Motto „Reform des Kapitalismus jetzt – Sozialismus später“.
Die kommunistischen Kräfte orientierten sich mehr oder weniger kritiklos an der Sowjetunion oder an China. Schließlich war in diesen Ländern der Kapitalismus abgeschafft. Das Ende des Zweiten Weltkrieges lag erst rund zwei Jahrzehnte zurück. Die Erkenntnis, dass dieser Krieg seine Ursache im Kapitalismus hatte, war in den Reihen der Linken tief verankert. Und während der Kapitalismus für koloniale Unterdrückung und Kolonialkriege stand, hatte der Sturz des Kapitalismus in China der breiten Masse der Bevölkerung zunächst große Fortschritte gebracht.
Zwar gab es in der 68er-Bewegung allgemein das Ziel einer freien, demokratischen Gesellschaft. Die Verbrechen des Stalinismus wurden aber weder schonungslos kritisiert noch gab es eine klare Vorstellung, wie im Westen nach einer Revolution verhindert werden könnte, dass eine ähnliche Entwicklung wie in der Sowjetunion und in China stattfinden würde.
Gerade die unklare bis unkritische Haltung gegenüber dem Stalinismus erleichterte es den Führungen in Sozialdemokratie und Gewerkschaften, die Bewegung zu spalten. Sie konnten einen Keil zwischen dem radikalisierten Teil der Studierenden und der ArbeiterInnen einerseits und dem politisch weniger fortgeschrittenen Teil der Beschäftigten andererseits treiben.
Dem Mangel an Klarheit in grundlegenden Fragen über Sozialismus entsprach die Schwäche in der Frage der Organisation. Das Spektrum reichte von weitgehender Ablehnung fester Organisatonsformen bis hin zu bürokratisch-zentralistisch organisierten K-Gruppen.
Systemfrage auch heute aktuell
Die 68er-Bewegung hat ihr Ziel, die Gesellschaft grundlegend zu verändern, nicht erreicht. Viele kulturellen Folgen der APO wirken aber noch heute nach. Weil das kapitalistische System jedoch fortbestand, wurden die sozialen Errungenschaften weitgehend wieder zurückgefahren, insbesondere nach dem Wegfall der Systemkonkurrenz mit der Restauration des Kapitalismus in Osteuropa. Das politische Erbe der 68er-Bewegung ist noch einzulösen.
Wenn wir der Meinung sind, dass nicht nur das diktatorische System in Osteuropa auf den Müllhaufen der Geschichte gehörte, sondern auch der real existierende Kapitalismus, wenn wir eine Gesellschaft wollen, in der wir menschenwürdig und im Einklang mit der Natur leben können, dann lohnt es sich, die Fragestellungen noch einmal auszugraben, mit denen sich die 68er beschäftigt haben, und daran weiterzuarbeiten. Fragen wie:
Parlamentarismus versus Rätedemokratie? Was ist unsere Vision einer gesellschaftlichen Alternative, jenseits von Kapitalismus und Stalinismus? Welche Art von Partei und Organisation brauchen wir, um unsere Vorstellungen umzusetzen? Diese Fragen sind in Anbetracht des global versagenden kapitalistischen Systems aktueller denn je.
Positionen der SAV
Die Kräfte, die sowohl den Kapitalismus als auch den Stalinismus kategorisch ablehnten, waren in der Zeit um 1968 sehr schwach und hatten leider wenig Einfluss.
Wir können aus Platzgründen hier nur stichwortartig die Positionen darstellen, die die internationale politische Tendenz, der die SAV angehört, damals vertrat (und auch heute vertritt):
- Den Kapitalismus kann man nicht reparieren und nicht sozial reformieren, er muss abgeschafft werden.
- Der Stalinismus, egal ob in sowjetischer, chinesischer, jugoslawischer oder kubanischer Ausprägung, ist eine Karikatur des Sozialismus. Privateigentum an den Produktionsmitteln, Konkurrenz und Profitstreben sind zwar beseitigt. Aber es gibt keine demokratische, sondern eine bürokratische Planwirtschaft. Auf dem Weg zum Sozialismus ist in diesen Ländern eine politische Revolution zum Sturz der Bürokratenkaste nötig.
- Die Alternative zum Wahnsinn des Kapitalismus ist eine sozialistische Demokratie weltweit.
- Sozialismus basiert auf Gemeineigentum an den Produktionsmitteln und einer demokratisch geplanten Wirtschaft.
- Der revolutionär gesinnte Teil der Bewegung muss unbedingt einen Weg finden, um auch den Teil der arbeitenden Bevölkerung und der Jugend zu erreichen, der noch nicht so weitgehende Schlussfolgerungen gezogen hat.
- Um Sozialismus zu erkämpfen, braucht man eine marxistische, demokratische, internationale Organisation der arbeitenden Bevölkerung, der Erwerbslosen und der Jugend.
Der Artikel erschien erstmals im April 2008. Angela Bankert ist seit Beginn der 1970er Jahre in der marxistischen Bewegung aktiv und war viele Jahre Leitungsmitglied der SAV und ihrer Vorläuferorganisation VORAN. Sie lebt in Köln, ist Mitglied der LINKEN und arbeitet als Gewerkschaftssekretärin.