Einzelhandel: Da war mehr drin

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Tarifabschluss stößt in ver.di auf Kritik

Die Arbeitsbedingungen haben sich im Einzelhandel durch neoliberale Politik verschlechtert. Seit den 90iger Jahren wurden die Ladenöffnungszeiten Stück für Stück ausgeweitet und hat in dieser Branche eine Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse stattgefunden. Immer mehr Arbeitgeber entziehen sich der Tarifbindung, so dass nur noch dreißig Prozent der Beschäftigten im deutschen Einzelhandel einen Tarifvertrag haben.

von Angelika Teweleit, Berlin

Die Ausgangssituation für einen Tarifkampf im Einzelhandel ist ein Minderheitenstreik. Eine Herausforderung ergibt sich in dieser Branche aus der Tatsache, dass landesweit verhandelt wird und vor allem daraus, dass die einzelnen Ländertarifverträge zu unterschiedlichen Zeitpunkten auslaufen und die Streiks zeitlich versetzt stattfinden. Die Streikbeteiligung war in diesem Jahr insbesondere in Baden-Württemberg und NRW sehr gut. Dort wurden auch große und kämpferische Kundgebungen organisiert. In anderen Bundesländern gab es positive Berichte von einer Steigerung bei der Streikbeteiligung. Dennoch gab es bei dieser Tarifrunde einen Abschluss, der viele KollegInnen enttäuschte und in dessen Folge eine kritische Diskussion innerhalb von ver.di entbrannte.

Nach sechs Verhandlungsrunden und zwanzig Streiktagen, an denen KollegInnen aus rund 130 Betrieben beteiligt gewesen waren, kam es in Baden-Württemberg zu einem Abschluss, der mit großer Mehrheit von der dortigen ver.di-Tarifkommission angenommen wurde. Dieser Abschluss mit einer Laufzeit von 24 Monaten beinhaltete 2,3 Prozent mehr Geld nach zwei Nullmonaten, weitere 2,0 Prozent ab dem 1.4.2018 und eine Einmalzahlung von 50 Euro beziehungsweise 25 Euro für Auszubildende. Für den Abschluss, der in der Folge faktisch als Pilotabschluss für alle anderen wirkte, gab es berechtigte Kritik aus anderen Regionen.

Kritik

Kritik gab es an dem Vorgehen von ver.di Baden-Württemberg vor allem, weil es zuvor bei einer Absprache unter den LandesfachbereichsleiterInnen zu einer Übereinkunft gekommen war, dass das vorliegende Angebot der Arbeitgeber nicht ausreichend ist und dass ver.di in keinem Bundesland einen Abschluss mit diesen Vorzeichen machen solle. Der Abschluss in Baden-Württemberg wenige Zeit später unterschied sich nur durch die – sehr geringe – Einmalzahlung.

Die Unzufriedenheit von Aktiven, die sich teilweise auf einen langen und harten Arbeitskampf vorbereitet hatten, ist berechtigt und nachvollziehbar. Er hilft jedoch nicht, in dieser Situation die Schuld vor allem bei den ver.di-KollegInnen in Baden-Württemberg zu suchen.

In einem Interview mit der Tageszeitung junge Welt erklärt Bernhard Franke, FB-Leiter und Verhandlungsführer für ver.di in Baden-Württemberg, dass die KollegInnen der Tarifkommission dies als richtigen Zeitpunkt für einen Abschluss eingeschätzt hätten. Auch, wenn sie nicht mit dem Ergebnis zufrieden waren, hatten sie nicht die Einschätzung, dass eine Fortsetzung des Arbeitskampfes eine Verbesserung gebracht hätte. Nach insgesamt zwanzig Streiktagen für KollegInnen, die in einer schwierigen Position sind, weil es sich von vornherein um einen Minderheitenstreik handelt, ist eine solche Schlussfolgerung ebenso nachvollziehbar – zumindest, wenn es keine Aussicht auf eine qualitative Steigerung des Arbeitskampfes gibt, um den Arbeitgeber noch mehr unter Druck setzen zu können.

Eine solche Perspektive hat den KollegInnen in Baden-Württemberg offenbar gefehlt – und genau hier sollte man mit der Diskussion ansetzen, wenn man kritische Lehren für die Zukunft ziehen möchte.

Bundesweite Koordination

Dass im Einzelhandel in jedem Bundesland unterschiedliche Tarifverträge mit unterschiedlichen Lohn- und Gehaltstabellen, unterschiedlichen Regelungen zu Urlaub, Arbeitszeiten und Sonderzahlungen sowie den Laufzeiten gelten, bedeutet, dass KollegInnen – auch wenn sie in die Tarifbindung fallen – ganz unterschiedliche Bedingungen haben. Dieser Zustand ist vor allem für die Unternehmer zuträglich und führt zu einer Aufspaltung der Kampfkraft. Es bedarf einer Koordination und dazu braucht es aber vor allem die Einbeziehung der streikenden KollegInnen. Eine Streikdelegiertenkonferenz auf Bundesebene, so wie sie im Bereich des Sozial- und Erziehungsdienstes 2015 eingerichtet wurde, wäre ein Schritt dazu gewesen. Eine solche Konferenz müsste sich aus Delegierten der streikenden Belegschaften aus den einzelnen Bundesländern zusammensetzen. Auch auf Landesebene wäre es sinnvoll, Konferenzen einzuberufen, um den jeweiligen Stand der Verhandlungen zu diskutieren, zu bewerten und vor allem auch, um eine Kampfstrategie zu diskutieren und zu planen.

Auf lokaler Ebene sollten tägliche Streikversammlungen stattfinden, so dass die KollegInnen die Möglichkeit haben zu diskutieren und Meinungsbilder zu erstellen, die auf Landes- und Bundesebene einfließen.

Dass den KollegInnen in Baden-Württemberg eine Perspektive für die Fortführung des Arbeitskampfes fehlte, ist in erster Linie die Verantwortung der bundesweiten Führung von ver.di – auf Ebene des Fachbereiches sowie der Gesamtorganisation.

Ein Minderheitenstreik wie der im Einzelhandel ist auch davon abhängig, wie es gelingt, aus solch einer Auseinandersetzung eine breitere tarifpolitische Bewegung und Solidarität aufzubauen. Die Bundestagswahlen hätten im Sinne der Tarifbewegung genutzt werden können, wenn ver.di beispielsweise einen bundesweite Streikwoche organisiert hätte, in der alle streikfähigen Betriebe im Bundesgebiet aufgerufen worden wären, regionalen Großdemonstrationen stattgefunden hätten und in einer bundesweiten Abschlussdemonstration gemündet wären.

Die Beschäftigten im Einzel- und Großhandel stehen vor großen tarifpolitischen Herausforderungen. Verschlechterungen durch eine neue Entgeltordnung müssen verhindert werden. Dabei ist auch eine Koordination der kämpferischen Teile innerhalb von ver.di nötig, die der Politik von vorauseilendem Kompromiss im Sinne der Sozialpartnerschaft mit den Einzelhandelsbossen Paroli bieten. Dazu wäre es ratsam, möglichst bald eine Vernetzung solcher Kräfte auf Bundesebene voranzutreiben.