„Der Kapitalismus ist nicht das letzte Wort der Geschichte“

Zum Tod von Theodor Bergmann

Am 12. Juni 2017 starb Theodor Bergmann im Alter von 101 Jahren in Stuttgart. Mit ihm verlieren wir einen wertvollen Menschen, Genossen und Freund. Einen der letzten Zeitzeugen und hervorragenden Kenner der letzten 100 Jahre Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung. Einen bis zum Schluss offenen, wissbegierigen, lebenshungrigen, gastfreundlichen, hilfsbereiten und agilen Menschen.

von Wolfram Klein, Ursel Beck, ehemalige Studentin von Theodor Bergmann und der gesamten SAV Ortsgruppe Stuttgart

Trotz seiner 101 Jahre war er, mit seiner unbändigen Schaffenskraft, seiner gütigen Art, seiner Ausstrahlung, seiner festen Stimme und seinem Humor, jung geblieben. Er sagte öfters, er hätte keine Zeit zum alt werden. Und das strahlte er nach außen aus. Er hatte noch viel vor. Am 24. Mai sollte er bei Linksjugend/solid Stuttgart über sein Leben sprechen und dabei zum Ehrenmitglied der Jugendorganisation ernannt werden. Eine Fahrt nach Bad Segeberg im Juni war bereits gebucht. Dort sollte und wollte er vor 500 Schülerinnen und Schülern zum Thema Rassismus und Faschismus sprechen. Bei einer geplante Gedenkveranstaltung in Stuttgart zum hundersten Jahrestag des Todes des Marxisten Friedrich Westmeyer im November 2017 wollte er gern dabei sein. Eine Veranstaltung zum 100. Jahrestag der Russischen Revolution im Herbst mit ihm als Referenten – für Theo eine Selbstverständlichkeit.

Und dann ging alles ganz schnell. Von einer im Mai beginnenden Erkrankung erholte er sich nicht mehr. Er wurde immer schwächer und gebrechlicher, bekam eine weitere schmerzhafte Erkrankung. Aber auch hier galt sein Motto „Ein Kommunist jammert nicht“. Solange er noch die Kraft hatte zu reden, wollte er nicht über seine Krankheit, sondern über Politik reden. Bis zu seinem Tod behielt er seinen Optimismus, dass der Kapitalismus nicht das letzte Wort der Geschichte ist und die Welt sozialistisch wird.

Theo Bergmann wurde am 7. März 1916 als siebtes Kind einer Rabbinerfamilie in der Uhlandstr. 194a in Berlin geboren. Hier liegt heute ein Stolperstein für seinen 1940 von den Nazis ermordeten Bruder, Alfred Bergmann.

Theos Jugend war geprägt durch die schwierige materielle Lage, die auch der Mittelschichtfamilie der Bergmanns zu schaffen machte, die politischen Unruhen der 1920er Jahre und die durch Krieg und Nachkriegszeit politisierten älteren Geschwister. Sie engagierten sich auf dem linken Flügel der Sozialdemokratie (SPD), der Kommunistischen Partei (KPD) oder wandten sich dem Zionismus zu. Theodor wurde aktiv im Sozialistischen Schülerbund und verbreitete dessen Zeitschrift „Schulkampf”, wofür er 1929 mit 13 von der Schule flog. Er wechselte auf das Köllnische Gymnasium, das eigentlich eine „Aufbauschule“ für erwachsene ArbeiterInnen war, die das Abitur nachmachen wollten. Dort herrschten fortschrittliche pädagogische und politische Ansichten.

Kommunistische Partei Opposition (KPO)

1928 machte die KPD einen ultralinken Schwenk. Sie nahm an, der Kapitalismus sei jetzt in sein letztes Krisenstadium („Dritte Periode“) eingetreten. Sozialdemokraten wurden als Sozialfaschisten und Zwillingsbrüder der Nazis diffamiert, Gewerkschaften und andere sozialdemokratisch dominierte Massenorganisationen wurden gespalten. Gegen diesen verheerenden Kurs bildete sich eine Opposition um Heinrich Brandler und August Thalheimer, der sich auch Theos älterer Bruder Artur und er selbst anschlossen.

Die Linke Opposition, die Anhänger des russischen Revolutionärs Leo Trotzki, in deren Tradition die SAV steht, hatten mit dieser „rechten“ Opposition verschiedene Meinungsverschiedenheiten. Es ging u.a. um die Frage, wie stark man die Innenpolitik Stalins in der Sowjetunion kritisieren muss. Anders als Brandler/Thalheimer betrachtete Trotzki die Sowjetunion nicht als sozialistisch, sondern als „deformierten Arbeiterstaat“ oder Übergangsgesellschaft zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Theodor Bergmann charakterisierte die heutigen Regimes in China, Nordkorea, Vietnam und Kuba als sozialistisch. Diese Einschätzung teilt die SAV nicht. Allerdings wissen wir es zu schätzen, dass Theo Bergmann das Schicksal und Gedenken an viele Opfer des stalinistischen Terrors wach gehalten hat. Er hat die Biographien von vielen Kämpfern der Arbeiterbewegung erforscht und bekannt gemacht. Einige von ihnen kannte er persönlich.

Kampf gegen Faschismus

Sehr groß waren die Übereinstimmungen zwischen der Linken Opposition und der KPO in der Einschätzung des damals aufkommenden Faschismus. Beide erkannten, dass eine Machtübernahme durch die Faschisten eine reale Gefahr war. Theodor erinnerte bei Veranstaltungen oft daran, dass viele Sozialdemokraten damals gemeint hatten, so etwas wie Faschismus könne es zwar in Italien geben, nicht aber im zivilisierten Deutschland. Die KPD auf der anderen Seite behauptete, dass die Regierungen vor Hitler bereits faschistisch seien und verwischte dadurch auf verhängnisvolle Weise den Unterschied zwischen Faschismus und anderen kapitalistischen Herrschaftsformen.

Aus dieser Einschätzung leiteten beide Oppositionsströmungen die Notwendigkeit einer Einheitsfront der Arbeiterorganisationen gegen den Faschismus her. Die verheerenden Folgen des Kampfes zwischen SPD und KPD schilderte Theodor in späteren Jahren plastisch. In einem Interview (ND, 30. 12. 2008) erinnerte er sich: „Es gab sogar Prügeleien und Messerstechereien. Die einen schrien ,Sozialfaschisten‘, die anderen ,Kommunazis‘. (…) Das hat dem gemeinsamen Kampf gegen die Nazis, für den wir mit der Einheitsfront-Losung früher als alle anderen eingetreten sind, sehr geschadet. Heute müssen wir gemeinsam die Neonazis von der Straße und aus den Parlamenten jagen. Dafür müssen unsere Sprachrohre in den Parlamenten wirken. Und wir müssen alle außerparlamentarischen Mittel nutzen.“ Auf den Sozialismustagen 2016 der SAV nannte Theo als Beispiel die Blockaden, die es in Dresden immer wieder gegen Nazis gab und sagte: „Die Nazis auf den Bahnhöfen einsperren ist wirkungsvoller als die Kette mit Kerzen am anderen Ende der Stadt.“

Er betonte auf Veranstaltungen immer wieder die kapitalistischen Interessen hinter dem Faschismus und die Verantwortlichen für seinen Aufstieg:

  1. die aktive Schuld der herrschenden Klasse (Banken, Industrie, die Spitzen des Staatsapparats), die Hitler an die Macht brachten,

  2. die passive Schuld des Geschehenlassens und der politischen Blindheit der Führungen von SPD, KPD und Gewerkschaften,

  3. die Sympathie und Klassensolidarität vieler bürgerlichen Regierungen, die das Nazi-Regime als Bollwerk gegen die Sowjetunion betrachteten.

Er wendete sich gegen die Versuche, von dieser Schuld abzulenken durch eine angebliche Kollektivschuld der Deutschen und gegen die Vorstellung, dass der Widerstand gegen die Nazis erst 1944 begonnen habe.

Mit 17 Jahren unbegleiteter Flüchtling

Am 2. März 1933 machte er als 17-Jähriger sein Abitur. Im Köllnischen Gymnasium wurde der Schulstoff auf weniger Jahre komprimiert. Wenige Tage später machten die Nazis eine Haussuchung in der Wohnung der Bergmanns. Am 7. März emigrierte er auf Anraten seiner Eltern über Saarbrücken und Frankreich in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina, in dem 1948 der Staat Israel gegründet wurde. Er blieb nur wenige Jahre dort und schon 1936 übersiedelte er in die Tschechoslowakei. Er wollte näher an Deutschland dran sein und seine GenossInnen unterstützen.

Trotzdem fühlte er sich dem Land Israel, in dem viele seiner Verwandten leben, Zeit seines Lebens verbunden. Dazu gehörte für ihn auch, israelische Regierungen zu kritisieren, seine Sympathie für Protestbewegungen wie die „Zelt“-Platzbesetzungsbewegung 2011 zu zeigen oder sich für einen friedlichen Ausgleich zwischen Israelis und PalästinenserInnen einzusetzen.

In der Tschechoslowakei begann er ein Studium der Agrarwissenschaften, nachdem er bereits in Palästina in der Landwirtschaft gearbeitet hatte. Dort konnte er wieder intensiver mit seinen GenossInnen über die Entwicklungen in Deutschland und international diskutieren.

Die KPD-Opposition 1928 war gegen die ultralinke Politik der KPD-Führung entstanden, die eine ernsthafte Einheitsfront der Arbeiterorganisationen gegen den Faschismus verweigerte. Nach der Machtergreifung des Faschismus ging die KPD und die gesamte Kommunistische Internationale ins andere Extrem und überholte die „rechte Opposition“ rechts. Sie setzten Bündnisse mit bürgerlichen Parteien durch, genannt Volksfronten. In der Realität verhinderten die bürgerlichen Bündnispartner dann den entschlossenen Kampf gegen den Faschismus. Im spanischen Bürgerkrieg führte das z.B. dazu, dass die Stalinisten die zum Kampf gegen den Faschismus zur Hilfe gekommenen InternationalistInnen verfolgten, wenn sie die KP-Politik von links kritisierten. So erging es nicht nur wirklichen oder angeblichen TrotzkistInnen, sondern auch Theodor Bergmanns GenossInnen. Letztlich führte diese Politik auch zum Sieg des Faschismus in Spanien. Theo hat Regierungsbündnisse mit bürgerlichen Parteien Zeit seines Lebens abgelehnt, auch in den Diskussionen, die es innerhalb der LINKEN in den letzten Jahren gab.

Nach dem Münchner Abkommen im Herbst 1938 konnte er noch vor dem Einmarsch der deutschen Truppen im Sudetenland die Tschechoslowakei Richtung Skandinavien verlassen. Die folgenden Jahre bis 1946 lebte er in Schweden, die meiste Zeit als Melker in der Landwirtschaft tätig. Auf dem schwedischen Dorf waren seine politischen Betätigungsmöglichkeiten begrenzt, aber er verfolgte die Entwicklungen aufmerksam und war immer überzeugt, dass Hitler den Krieg letztlich verlieren müsse.

Rückkehr aus dem Exil

Nach Kriegsende versuchte er sofort nach Deutschland zurückzukehren. Die Besatzungsbehörden ließen ihn als internationalistischen kritischen Kommunisten aber erst knapp ein Jahr später einreisen. Dort beteiligte er sich an den Diskussionen der alten KPD-Oppositionsmitglieder über ihre politischen Perspektiven. Einige glaubten, dass in der sowjetischen Zone, der späteren DDR, der Sozialismus aufgebaut würde und dass ihre Mitwirkung dabei willkommen sei. Bald mussten sie erleben, dass sie, selbst wenn sie sich jeder oppositionellen Tätigkeit enthielten, auf unbedeutende Posten abgeschoben und aus der SED ausgeschlossen oder gar verhaftet wurden.

Theodor entschied sich für politische Aktivität in den Westzonen. Mit seinen GenossInnen baute er die „Gruppe Arbeiterpolitik“ auf. Besuche und Versuche zur Kontaktaufnahme in der sowjetischen Zone brachten ihm dort 1946 einen Haftbefehl ein. Von 1948 bis 1952 gab er ihre Zeitschrift „Arbeiterpolitik“ heraus. 1952 trennte er sich von der „Gruppe Arbeiterpolitik“ und war die folgenden 38 Jahre nicht politisch organisiert. Er war Mitglied in der Gewerkschaft Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft (GGLF) und dort besonders in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit engagiert.

Nach der Rückkehr nach Deutschland hat Theo Bergmann sein 1938 durch Hitlers Besetzung des Sudetenlandes unterbrochenes Studium der Agrarwissenschaften abgeschlossen. 1955 promovierte er an der Universität Hohenheim in Stuttgart über Strukturwandel in der Landwirtschaft Schwedens.

Antisemitismus im Nachkriegsdeutschland

Die folgenden Jahre arbeitete er an der Landwirtschaftskammer in Hannover. Nachdem er den für eine Festanstellung nötigen Geburtsschein vorlegte, lehnte ihn der Chef der Personalabteilung zunächst mit den Worten ab: „Wir wollen hier keinen Juden“. Das ließ sich Theo nicht gefallen. Er erkämpfte sich einen Arbeitsvertrag. Auch nach seiner Rückkehr 1965 nach Hohenheim war er immer wieder mit Antisemitismus konfrontiert. Reaktionäre und mit Nazi-Vergangenheit belastete Professoren versuchten wegen seiner politischen Gesinnung und seiner jüdischen Abstammung seine akademische Laufbahn zu verhindern. Der Antisemitismus im Nachkriegsdeutschland und eine nur 29 Quadratmeter große Wohnung brachten Theo und seine Frau Gretel zu der Entscheidung keine Kinder auf die Welt zu bringen. „Man wusste nicht was mit Kindern jüdischer Abstammung in Deutschland passieren wird“. So beschrieb er seine damalige Verunsicherung.

Professor an der Uni Hohenheim

Trotz dem „Muff von tausend Jahren unter den Talaren“ der Professoren schaffte es Theodor Bergmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter zu werden. Ab 1973 arbeitete er nach einer Gastprofessur in Armidale in Australien als Professor für international vergleichende Agrarpolitik an der Universität Hohenheim. Er gehörte dort zu den Akademikern, die Sympathie für die Studentenbewegung hatten und sich für durch den Radikalenerlass bedrohte Linke einsetzte. Der heutige IG-Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann und der derzeitige grüne baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann waren damals Aktivisten von linksradikalen Gruppen an der Uni Hohenheim und haben es auch Theo Bergmann zu verdanken, dass sie nicht von der Uni geflogen sind. Theo hat im Gegensatz zu diesen Ex-Linken das Lager für seine Karriere nicht gewechselt.

Im Rahmen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit bereiste Theo Bergmann zahlreiche Länder. Theo beherrschte fünf Sprachen in Wort und Schrift und konnte weitere lesen und verstehen. Bis zu seiner Emeritierung 1981 und lange Zeit danach war Theodor Bergmann für linke Studierende in Hohenheim der interessanteste und beliebteste Professor. Er verlangte Fleiß und Arbeitsdisziplin von seinen Studierenden, Doktoranden und MitarbeiterInnen. Gleichzeitig bot er aber jede ihm mögliche Unterstützung an.

Aktives Mitglied in DIE LINKE

Theo beschäftigte sich nach seinem Ausscheiden aus dem Berufsleben intensiv mit der Geschichte der Arbeiterbewegung, mit politisch-theoretischen Fragen und war Verfasser und Herausgeber vieler Bücher. 1990 trat er der PDS bei und war 1990/91 ihr baden-württembergischer Landesvorsitzender. Er war in der Stuttgarter LINKEN aktiv, besuchte viele Veranstaltungen, wenn er nicht auf einer seiner zahlreichen Reisen war.

In seiner Autobiographie nennt er elf „Eckwerte“ für ein sozialistisches Deutschland:

„1. Beseitigung der ökonomischen Macht des Kapitals und seiner Konzernherren, die in politische Macht umgesetzt wird, durch Enteignung der Kommandohöhen der Wirtschaft. Das bedeutet zugleich, dass andere Sektoren und Wirtschaftszweige nicht verstaatlicht werden, sondern mehrere Eigentumsformen an Produktionsmitteln nebeneinander existieren.

2. Damit Beseitigung des Strebens nach Profitmaximierung und privater Kapitalakkumulation als Haupttriebkräfte ökonomischer Entwicklungen.

3. Demokratie auch im Wirtschaftsleben – vom Betrieb bis zur staatlichen Plankommission, die damit zu einem Organ wird, in dem die autonom organisierten gesellschaftlichen Kräfte über die Grundfragen der sozialökonomischen Entwicklung, u.a. Verteilung des Mehrwerts, verhandeln. Planung wird so zu einem offenen, demokratischen Prozess.

4. Die sozioökonomische Bilanz wird durch eine Materialbilanz für Energie und Rohstoffe und ein gesellschaftliches Organ für vorausschauende und kontrollierende Technologiefolgenabschätzung ergänzt und durch sozialistische Marktwirtschaft korrigiert. Dafür ist ein neues Verständnis des Verhältnisses von Markt und Plan und der vielfältigen indirekten staatlichen Steuerungsmittel erforderlich.

5. Sparsamer Umgang mit Rohstoffen und Natur. Zielvorstellung in einem hochindustrialisierten Land ist nicht mehr Maximierung der Produktion, sondern Beseitigung der Armut, ein menschenwürdiges Leben für alle, der Abbau der materiellen Ungleichheit. Nicht der konsumierende Mensch, sondern der allseitig gebildete und sozial engagierte Mensch ist das Ziel.

6. Der Lebensstandard ist qualitativ zu verbessern durch erweiterte Bildungsangebote für jedermann, verbesserte soziale Sicherung, Beseitigung der Arbeitslosigkeit, Recht auf Arbeit und Wohnung, Ausbau und Verbesserung der sozialen Dienste.

7. Trennung von Staat und Kirchen, von Staat und Parteien.

8. Es bedarf demokratisch verfasster Gegengewichte gegen den Staatsapparat, also vom Staat unabhängiger Gewerkschaften, Interessenvertretungen aller sozialen Gruppen und Schichten.

9. Sicherung aller bürgerlichen Freiheiten, Demokratie besonders in einer revolutionären Partei und Pluralismus der Parteien. Nur faschistische und ähnliche Parteien sind zu verbieten. Demokratie ist nur zu sichern durch aktivste Mitarbeit, Kritik und Kontrolle aller Bürger einer sozialistischen Gesellschaft, also durch die Selbstorganisation der Werktätigen.

10. Volle und effektive Gleichstellung der Geschlechter auf allen Ebenen der Gesellschaft.

11. Internationale Solidarität mit den Werktätigen der Entwicklungsländer im Kampf für politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit. Hilfe bei der Schaffung moderner, menschenwürdiger Lebens- und Arbeitsbedingungen.

Die radikale Veränderung der Gesellschaft von einer des Profits und der allgemeinen Konkurrenz zu einer der Kooperation und der freien Entfaltung aller ihrer Angehörigen – das ist eine Revolution. Mit welchen Mitteln sie durchgeführt werden wird, lässt sich nicht vorausbestimmen. Das hängt u.a. vom Widerstand der alten herrschenden Klasse und ihres Apparates ab. Es wäre sicher falsch, den Weg der russischen Oktoberrevolution, der durch den Widerstand des alten Staatsapparates, die auswärtige Intervention und den weißen Terror bedingt war, als allgemeingültig zu verstehen. Aber ebenso sicher war der Weg der SPD, das friedliche Hineinwachsen in den Sozialismus – und das gerade im militaristischen Deutschland – ein Holzweg.“ (Seite 269 ff.)

Bis zuletzt bemängelte er, dass der Linken das politische Selbstbewusstsein fehle und sie sich von den Bürgerlichen in die Defensive drängen lasse. Ein wichtiges Mittel dagegen bestand für ihn in der marxistischen Schulung. Darin sah er für sich eine wichtige Aufgabe.

Theo gehörte in der Linken zu den Gegner von Regierungsbeteiligung. „Ich halte es mit Rosa Luxemburg, die sagte, in einem bürgerlichen Staat gehören wir eigentlich nicht in eine Regierung.“ (Interview Neues Deutschland vom 30.12.2008). Er war der Meinung, dass der Schwerpunkt der Arbeit der Linken nicht in der Parlaments-, sondern in der außerparlamentarischen Arbeit, der Arbeit in den Betrieben und in den Gewerkschaften liegen muss.

Erwähnenswert ist auch, dass Theo trotz seiner akademischen Ausbildung und seines Status als Professor nicht akademisch oder lehrerhaft auftrat. Ohnehin wies er immer wieder darauf hin, dass er in seinem Leben länger Kühe gemolken habe als er Professor war. Er hatte die Gabe seine politischen Ideen in einfachen Worten klar und deutlich zu vermitteln. Als er nach einer Diskussion mit einer Stuttgarter Schulklasse in einem Interview gefragt wurde, ob er den jungen Menschen Hoffnung vermitteln konnte, antwortete er: „Einerseits ja, andererseits bleiben sie skeptisch. Manche fragen mich: lohnt es sich, sich zu organisieren? Ich sage ihnen ‚ja‘, weil das Kapital auch organisiert ist und sich regelmäßig zum Kaffee bei Frau Merkel trifft.“

„Lebensgeheimnis“

Immer wieder wurde Theo in den letzten Jahren gefragt, wie er es geschafft habe, so alt zu werden. Sein „Lebensgeheimnis“ gab er bei der Geburtstagsfeier zu seinem Hundersten preis: „ Ich hatte 1. eine kluge Frau, 2. kritische Lehrer, 3. eine tiefe sozialistische Überzeugung, 4. Freunde und Helfer während der Hitlerzeit, 5. vorsichtigen Optimismus und 6. viel Glück.“ Hinzuzufügen ist vielleicht, dass er Wert legte auf gesundes Essen. Alkohol und Tabak? „Brauch ich nicht … In der Arbeiterbewegung war es selbstverständlich, dass man gesund lebt“. Theo hatte sich Zeit seines Lebens ein strenges Arbeitspensum auferlegt. Aber er war kein Workaholic. Er nahm sich Zeit für Entspannung. Ein täglicher Spaziergang im nahem Wald und gymnastische Übungen waren fester Bestandteil seines Alltagsrhythmus. Bis zum Alter von 95 Jahren ging er regelmäßig Schwimmen. Er hatte Freude an Museums-, Theater-, Konzertbesuchen. Seine Frau Gretel starb 1994. Sie war schwer krank und längere Zeit pflegebedürftig. Für Theo war es selbstverständlich, sie bis zu ihrem Tod zu Hause zu pflegen. Auch er wollte und ist zu Hause gestorben.

Jahrhundert der Katastrophen

Der Titel seiner interessanten Autobiografie heißt „Im Jahrhundert der Katastrophen“. Aber die Katastrophen des 20. Jahrhunderts führten nicht dazu, dass seine sozialistische Überzeugung und sein Kampfeswille erschüttert wurden. Der von Friedrich Engels nach der Niederlage der 1848er Revolution geprägte Satz „Dann fangen wir von vorne an“ wurde stattdessen zu Theos Lebensmotto.

In einem Lied von Trude Herr heißt es „Niemals geht man so ganz, irgendwas von mir bliebt hier, es hat seinen Platz immer bei dir“. Von Theo bleiben um die fünfzig Bücher, ein Film über sein Leben, viele Aufsätze, Interviews, youtube-Aufzeichnungen von politischen Auftritten. Für alle die ihn kennen gelernt haben, bleiben auch seine ansteckende Herzlichkeit, seine optimistische Lebenseinstellung und seine besondere Persönlichkeit Erinnerung und Vorbild zugleich.

Im Oktober 1994 hielt Theodor Bergmann auf dem Friedhof der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfeld die Trauerrede für Robert Liebknecht, dem Sohn von Karl Liebknecht. Mit folgendem Zitat von Rosa Luxemburg an die hinterbliebene Witwe, Hertha Liebknecht und „alle Sozialisten“ schloss er seine Rede:

„Mensch sein ist vor allem die Hauptsache. Und das heißt: fest und klar und heiter sein, ja, heiter trotz alledem und alledem, denn das Heulen ist Geschäft der Schwäche. Mensch sein, heißt, sein ganzes Leben auf des Schicksals großer Waage freudig hinzuwerfen, wenn’s sein muß, sich zugleich aber an jedem hellen Tag und jeder schönen Wolke zu freuen.“

So war Theodor Bergmann. Wir vermissen ihn.

Die Trauerfeier für Theo findet am Donnerstag, den 22. Juni 2017 um 11 Uhr auf dem Pragfriedhof Stuttgart in der Unteren Feierhalle statt.

Video-Aufzeichnung Referat Theo Bergmann über „100 Jahre deutscher Imperialismus“ bei den Sozialismustagen der SAV 2016
https://www.youtube.com/watch?v=WAMYLy8fkaM
Beitrag von Theo Bergmann bei den Sozialismustagen der SAV 2016 „Wie kämpfen wir gegen AFD und Pegida“?
https://www.youtube.com/watch?v=QJv86lfm430
Interview mit Theodor Bergmann zum Antikrisenprogramm der Linken in der Zeitung „Solidarität“, April 2009
https://www.archiv.sozialismus.info/2009/03/13093/
weiter youtube-Aufnahmen von Theo Bergmann sind hier zu finden
https://www.youtube.com/watch?v=_N45hpu0N94