Generalstreik in Brasilien

Machtdemonstration gegen die Regierung

Am 28. April hat die Arbeiterklasse Brasiliens ein eindeutiges Zeichen gesetzt, was ihre Stärke und Mobilisierungsfähigkeit betrifft.

Von André Ferrari, „Liberdade, Socialismo e Revolução“ (LSR; Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Brasilien)

In einer gemeinsamen Aktion hatten sämtliche Gewerkschaftsverbände des Landes zu einem 24-stündigen Generalstreik gegen die Renten- und Arbeitsmarktreformen der unrechtmäßigen Regierung von Präsident Michel Temer aufgerufen. Temer war am 31. August 2016 ins Amt gekommen, nachdem gegen seine Amtsvorgängerin, Dilma Rousseff von der „Arbeiterpartei“ PT, ein Amtsenthebungsverfahren eingeleitet worden ist. Seit 2011 hatte Temer das Amt des stellvertretenden Präsidenten unter Rousseff inne und war seit dem 12. Mai 2016 bereits amtierender Staatspräsident.

Dieser Streik war massiv und als vereinte Aktion die größte Bewegung seit Jahrzehnten. Millionen von ArbeiterInnen aus den Bereichen Transport und Verkehr, der Industriebetriebe, dem Finanz-, Post- und Bildungswesen wie auch des Öffentlichen Dienstes legten ihre Arbeit nieder.

Mit von der Partie waren auch Beschäftigte, die in sozialen Bewegungen organisiert sind. So zum Beispiel die Bewegung der Obdachlosen von der MTST. Sie waren schon nachts auf die Straße gegangen, hatten Dutzende von Straßen und wichtige Einfallstraßen in den großen Städten blockiert. Die großen Wirtschaftszentren wirkten, als wären Ferien, weil so wenig los war.

Millionen von Beschäftigten verließen ihren Arbeitsplatz. Die Gewerkschaftsverbände schätzten die Teilnehmerzahl auf 35 Millionen bis 40 Millionen KollegInnen, die sich am 28. April am Ausstand beteiligten. Auch wenn der Streik kleiner gewesen sein mag, so war es doch eine mächtige Bewegung, die klargemacht hat, wie groß die potentielle Macht der Arbeiterklasse im Kampf gegen die Angriffe von Temer ist. Einer der wichtigsten Aspekte dieser Mobilisierung bestand darin, das die Betriebe lahmgelegt wurden. Dazu kamen die Großdemonstrationen, an denen sich Hunderttausende beteiligten.

Repression

Die Kommunalverwaltungen und Regierungen der Bundesstaaten versuchten, ein Klima der Angst zu erzeugen. Über die Medien drohten sie mit Polizeirepression gegen DemonstrantInnen. Weil auch die Züge, Busse und die Straßen- und U-Bahnen in Sao Paulo zum Erliegen kamen, hatte die Kommunalverwaltung angekündigt, die Taxikosten für die Kommunalbeschäftigten zu übernehmen, die mit Taxen des Unternehmens „Uber“ zur Arbeit kommen wollten. Diese Strategie entwickelte sich vollends zum Bumerang, und der Gouverneur musste das Angebot wieder zurückziehen.

Am Abend des 28. April kam es in Rio de Janeiro zu willkürlichen Übergriffen einer Einheit der Polizei-Sonderbereitschaft gegen DemoteilnehmerInnen. In Goiania befindet sich ein Demonstrant weiterhin in kritischem Zustand. Er ringt mit dem Leben, nachdem er von Sondereinsatzkräften am Kopf verwundet worden ist. In Sao Paulo ist ein Protestzug brutal attackiert worden, der zum Haus des illegitimen Präsidenten Temer ziehen wollte. Man wollte mit allen Mitteln verhindern, dass die Menschen zu ihrem Zielort gelangen. Zahlreiche AktivistInnen sind von der Polizei verhaftet und erst spät wieder auf freien Fuß gesetzt worden.

Trotz all dieser Vorkommnisse waren die Demonstrationen sehr kämpferisch und übertrafen in manchen Städten die Anzahl an TeilnehmerInnen, die bei den Protesten und Auseinandersetzungen in den Tagen zuvor erreicht worden waren. Das führte dazu, dass die Regierung gewaltsame Zusammenstöße provozierte, um die eigenen Argumente, die sie gegen die Bewegung ins Feld führt, zu „rechtfertigen“. Und das, obwohl die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung gegen die sogenannten „Reformen“ der Regierung ist.

Nur neun Prozent für Temer

Ungeachtet der Propaganda-Offensive in den Medien, mit der die Politik der Regierung unterstützt wird, zeigen aktuelle Meinungsumfragen, dass 71 Prozent der Bevölkerung gegen die Rentenreform sind. Demnach sind weitere 64 Prozent gegen die Arbeitsmarktreform, die die Arbeitgeberseite gegenüber den Beschäftigten stärken würde. Temer kommt auf die niedrigsten Zustimmungsraten, die ein Präsident in der brasilianischen Geschichte je hatte, und liegt aktuell bei rund neun Prozent!

Die Tragweite der politischen Attacken seiner Regierung haben hingegen zu bedeutender Unterstützung für die Streikbewegung geführt, was sich durch die ganze Gesellschaft zieht. Sogar die Bischofskonferenz Brasiliens (der römisch-katholischen Kirche) reihte sich ein, kritisierte die Reformen und unterstützte die Streikbewegung.

Temer reagierte auf den Generalstreik, indem er seinen MinisterInnen Anweisung gab, sie sollten erklären, dass die Bewegung ein Fehler sei. Ein Teil der Medien verbreitete diese Position. Und doch wissen die Strategen in der Regierung, dass der Generalstreik die für Temer im Parlament unvorteilhafte Situation weiter verschlechert hat. Temer verfügt weder in der Abgeordnetenkammer noch im Senat über eine Zwei-Drittel-Mehrheit, die nötig wäre, um die Rentenreform durchzusetzen, da sie Verfassungsrang hat. Der ehemalige Senatspräsident, der die putschartige Taktik, die letztlich zur Amtsenthebung von Dilma Rousseff von der PT geführt hat, unterstützt hatte, hat erklärt, dass er Temers Reformvorhaben ablehnt!

Kann sich Temer halten?

Angesichts dieser Rückschläge versucht die Regierung nun, die Stimmen zusammen zu bekommen, die für die Umsetzung der Arbeitsmarktreform nötig sind. Hierfür reicht die einfach Mehrheit. Was die Angriffe auf die Rente angeht, verliert man zusehends an Unterstützung und kommt allmählich zu der Einsicht, dass am Ende möglicherweise keine andere Alternative übrig bleibt, als das Vorhaben komplett zurückzunehmen. Sollte dies passieren, wird die Regierung jede Existenzberechtigung verlieren. Sie ist im Interesse des Großkapitals Brasiliens installiert worden. Die Arbeitgeber hatten gehofft, mit dieser Regierung in der Lage sein zu können, das heftigste Programm gegen die Arbeiterklasse seit den 1990er Jahren durchsetzen zu können. Ohne die Rentenreform kann Temer leicht wieder fallen gelassen werden. Es gibt verschiedene Mechanismen, die dafür zur Verfügung stehen. Unter anderem könnten Untersuchungen gegen Temer angestrengt werden, um Korruptionsvorwürfen nachzugehen. Diese waren während seines Wahlkampfs um das Amt des stellvertretenden Präsidenten laut geworden (den er zusammen mit Dilma Rousseff geführt hatte).

Für den Fall, dass Temer sein Amt aufgeben muss, befürworten 85 Prozent der Bevölkerung eine Direktwahl des Präsidenten. Laut Verfassung wäre die Wahl des Staatsoberhaupts durch den Kongress ebenfalls eine Option.

Welche Schritte sind nötig?

Trotz der unheimlich starken Macht, die sich im Zuge dieses Generalstreiks am 28. April zeigte, ist die Schlacht noch lange nicht gewonnen. Dringend nötig ist es nun, den Kampf der Massen – auf noch höherem Niveau – weiter zu entwickeln. Nur so kann diese Regierung bezwungen und können die „Reformen“ verhindert werden.

Die brasilianische Gewerkschaftsbewegung ist nach den neoliberalen Attacken der 1990er Jahre und ihrer Einbeziehung in die diversen PT-Regierungen geschwächt worden. In den letzten Jahren ist es zu zahlreichen Streiks für bestimmte ökonomische Forderungen gekommen. Größere verallgemeinerte Kämpfe standen hingegen nicht auf der Tagesordnung.

In dem Zusammenhang hat der Generalstreik vom 28. April für die Gewerkschaftsbewegung eine neue Phase eingeleitet. Der geeinte Charakter des Kampfes war von größter Bedeutung. Auch wenn die Gewerkschaftsbürokratie der Führungen der großen Dachverbände wieder einmal ihre Grenzen offenbarte, so war der Druck von unten doch immens, da sehr wohl verstanden wurde, welche Folgen die Angriffe der Regierung haben würden.

Von unten haben sich sowohl lokale Komitees für die Organisierung des Generalstreiks als auch gegen die Reformen gegründet. Jetzt ist es dringend notwendig, diese Komitees zu unterstützen und sie untereinander noch besser zu vernetzen. Der Sinn und Zweck muss darin bestehen, den KollegInnen an der Basis eine entscheidende Rolle zu verschaffen, damit sie auf die Weiterentwicklung des Kampfes Einfluss nehmen können.

LSR, die SAV-Schwesterorganisation und CWI-Sektion in Brasilien, hat am 28. April gefordert, dass es zu einem erneuten, dann 48-stündigen Generalstreik kommen muss, zu dem jetzt aufgerufen und der von unten organisiert werden muss. Die Vorstände der großen Gewerkschaftsverbände sollten demnach schon am 28. April einen entsprechenden Aufruf in die Diskussion einbringen. Das haben sie allerdings nicht getan. Es ist möglich, dass im Zuge eines erneuten Treffens der Gewerkschaftsverbände in den kommenden Tagen die Entscheidung fällt, zu einem 48-stündigen Generalstreik aufzurufen. Eine solcher Beschluss muss jetzt getroffen werden und die Basis der Bewegung muss jetzt dafür Druck aufbauen. Es ist nötig, dass die Beschäftigten aller Branchen zu großen Betriebsversammlungen zusammenkommen. Hier müssen sie über die nächsten Schritte diskutieren und darüber, wie ein 48-stündiger Generalstreik zu organisieren ist. Die Entscheidungen darüber, wie es weitergehen soll, müssen demokratisch und unter Mitwirkung aller Teile der Bevölkerung gefällt werden, die am Kampf beteiligt sind.

Um einen derartigen Prozess zu organisieren, ist es zentral, dass eine bundesweite Versammlung für alle Beschäftigten, die sich im Kampf befinden, einberufen wird. Auf diese Weise kann eine politische und organisatorische Grundlage zum Wiederaufbau der Arbeiterbewegung geschaffen werden, um für die neue Phase der Auseinandersetzungen gewappnet zu sein. Denn die hat in diesem Moment bereits begonnen. In diesem Prozess kann die sozialistische Linke eine politische Alternative aufbauen, die einen Ausweg aus der Krise für die abhängig Beschäftigten darstellt. Sie kann eine Alternative zu den stattfindenden neoliberalen Angriffen anbieten, und auch den „Burgfrieden“ beenden, der nicht eingehalten und von der PT an der Regierung vereinbart wurde.

Protest ist kein Verbrechen!

Die Stärke der Bewegung, die sich im Zuge des Generalstreiks gezeigt hat, konnte die brutale Reaktion von Seiten des Staates, der Arbeitgeber und der politischen Rechten nicht verhindern. Der Streik hat das Potential für eine kampfbereite Arbeiterbewegung gezeigt. Dadurch ist es im Land zu einer weiteren Polarisierung gekommen, was die gegnerische gesellschaftliche Klasse dazu bewegt hat, mit noch größerer Härte aufzuwarten.

Am stärksten zeigte sich diese Entwicklung, als bei einer Protestaktion auf einer Hauptstraße im Osten Sao Paolos am 28. April drei Mitglieder der MTST verhaftet wurden. Viele Mitglieder von LSR haben an dieser Aktion teilgenommen und sind ZeugInnen des brutalen Vorgehens der Polizei geworden. Insgesamt sind sechs Personen festgenommen worden: Alle sechs sind schwarz, verarmt, und leben in den Vororten der Metropole. Sie alle sind AktivistInnen der MTST, der Bewegung der Obdachlosen.

Die Forderung nach sofortiger Freilassung der Inhaftierten gehört umgehend auf das Banner der brasilianischen und internationalen Arbeiterbewegung. Wir fordern darüber hinaus die Freilassung von Rafael Braga, dem einzigen Inhaftierten, der seit den Massenprotesten im Juni 2013 immer noch im Gefängnis sitzt. Damals sind ebenfalls Millionen von Menschen auf die Straße gegangen. Rafael ist ein schwarzer Jugendlicher aus Rio de Janeiro, der verhaftet wurde, weil er eine Flasche mit Desinfektionsmittel in seiner Tasche dabei hatte, die ihm als potentiell explosiver Gegenstand angelastet wurde. Später kam noch der Vorwurf des angeblichen Drogenhandels dazu, wofür er elf Jahre Gefängnis bekam.

Der Artikel erschien zuerst am 5.5.2017 auf www.socialistworld.net