„Von Demokratie kann keine Rede sein”

Über die Lage in Irakisch-Kurdistan. Interview mit Peshraw Mohammed

In der Bundesrepublik wird die politische Situation in der sogenannten Autonomen Kurdischen Region im Nordirak gerne als friedlich und demokratisch dargestellt. Du musstest als aktiver Sozialist jedoch fliehen. Wie ist die Lage?

Seit der Bildung der autonomen Region nach dem Irak-Krieg 1991 liegt die Macht in den Händen der beiden pro-kapitalistischen Parteien KDP und PUK, die mit den Familienclans der Barzanis bzw. Talabanis verbunden sind. Diese haben sich das Land weitgehend aufgeteilt. Die PUK kontrolliert ein Drittel um die Stadt Suleimaniyah, der Rest wird von der KDP kontrolliert. Barzani hätte 2013 als Präsident zurücktreten müssen, wenn er sich an die Verfassung gehalten hätte. Hat er aber nicht. 2015 wurde dann das Parlament aufgelöst. Sogar der Parlamentspräsident kann sich nur in Suleimaniyah aufhalten und nicht in die Hauptstadt Erbil reisen, weil er dort verhaftet würde. Von Demokratie kann also keine Rede sein.

Gibt es denn Proteste von unten?

Ja, es gab zum Beispiel 2011 zwei Monate lang Demonstrationen gegen den undemokratischen Charakter des Regimes. 2014 setzte dann eine wirtschaftliche Krise ein, die die Situation der Arbeiterklasse massiv beeinträchtigte. Löhne wurden zum Teil halbiert oder gar nicht ausgezahlt. Ich selbst habe als Universitätsangestellter im Jahr 2015 nur acht Monate Lohn ausgezahlt bekommen – und davon auch nur die Hälfte. Das führte auch zu Protesten.

Heute sind Demonstrationen in Erbil jedoch völlig verboten. In Suleimaniyah sind sie das nicht, aber sie werden von staatlichen Sicherheitskräften angegriffen.

Aber kämpft die Regierung nicht gegen den Islamischen Staat und sollte unterstützt werden?

Als der Islamische Staat 2015 die Jesiden in den Sengal Bergen überfiel, waren es nicht die Peshmerga (Regierungsarmee), sondern die kurdischen KämpferInnen der YPG und PKK, die den Menschen halfen und sie retteten. Seitdem haben die Peshmerga zwar auch gegen den IS gekämpft, aber eben auch gegen die eigene Bevölkerung. Erst vor einigen Monaten haben sie die Jesiden angegriffen, die sich mittlerweile in der Yezidi Khan-Miliz selbst organisiert haben und die Kontrolle über ihr Gebiet gewonnen haben. Es ist ein Skandal, dass die deutsche Bundesregierung die Peshmerga mit Waffen ausrüstet und ihre Kämpfer bei der Bundeswehr ausbildet. Barzani ist vor allem ein Verbündeter Erdoğans, dessen Truppen auf irakisch-kurdischem Boden die Peshmerga unterstützen. Türkische Firmen haben die Lizenzen zur Erdölförderung erhalten.

Warum musstest Du das Land verlassen?

Seit zwei Jahren gibt es in Suleimaniyah soziale Proteste. 2016 kam der IWF ins Land und schlug der Regierung vor, Privatisierungen vorzunehmen, um die wirtschaftliche Krise zu lösen. Nun soll die Stromversorgung, Hochschulen und Teile der Landwirtschaft privatisiert werden. Wir haben in diese Proteste eingegriffen und über die Folgen der Privatisierung aufgeklärt, zum Beispiel indem wir Seminare organisierten oder Fernsehinterviews gaben. Daraufhin wurden wir von der PUK und KDP angegriffen. So wurde zum Beispiel ein Seminar, dass ich in Erbil geben sollte, verboten. In Suleimaniyah sind alle unsere Aktivitäten verboten worden und wir können zur Zeit nicht offen arbeiten. Mir wurde dann über zwei Ecken von einem Mitglied der Sicherheitskräfte zu verstehen gegeben, dass ich entweder meine politischen Aktivitäten aufgeben oder das Land verlassen solle, da ich auf der schwarzen Liste stehe.

Wie sehen ansonsten die Aktivitäten Eurer Gruppe aus?

Wir haben als eine Art Verlag und Kulturzentrum begonnen, marxistische Schriften zu veröffentlichen. Dazu gehören auch die ersten Übersetzungen von Trotzki-Texten ins Kurdische. Viele der von uns herausgegebenen Bücher verkaufen sich bis zu dreitausend Mal, so zum Beispiel das Kommunistische Manifest oder auch Titel von Trotzki. Wir haben aber auch praktische Aktivitäten, wie die Durchführung von Seminaren und Demonstrationen gegen den IWF organisiert. Jetzt gehen wir dazu über eine politische Organisation zu gründen und werden nächsten Monat die erste Ausgabe eines neuen Magazins mit dem Titel „Alternative“ heraus bringen.

Warum Trotzki?

In Trotzkis Werk finden wir viele Ideen und Antworten, die für die Aufgabe von SozialistInnen im Mittleren Osten von Bedeutung sind. Wir haben heute kapitalistische Staaten in der Region, aber keine demokratischen Rechte. Wir müssen den Kampf für demokratische Rechte mit dem Kampf für eine sozialistische Veränderung verbinden. Die 25 Jahre Autonomie in der kurdischen Region des Irak zeigen ja, dass eine solche Form der Selbstbestimmung auf kapitalistischer Basis keine Probleme der Massen löst.

Peshraw Mohammed ist Aktivist des Socialist Review Venter in Irakisch-Kurdistan und erster Übersetzer von Trotzki-Texten ins Kurdische. Er spricht auf den Sozialismustagen 2017 in Berlin, die vom 14. bis 16. April stattfinden. Das Gespräch führte Sascha Stanicic.