Bewegte Zeiten: Instabilität, Solidarität, Polarisierung und Gefahr von Rechts

Beschlossene Resolution der SAV-Bundeskonferenz, 18.02.2017

Wir leben in einer extrem polarisierten Welt. Kriege, das millionenfache Schicksal geflüchteter Menschen, die Wahl eines offenen Sexisten und Rassisten zum US-Präsident, ökonomische Instabilität und Terror prägen das Bild in den Nachrichten. Die Realität ist komplexer. Zeitgleich zu Kriegs- und Krisenherden bahnen sich neue Kämpfe ihren Weg. 180 Millionen beim Generalstreik in Indien, Massenbewegungen in Simbabwe, Brasilien und Chilé, Massenstreiks in Quebec, Frankreich und Belgien, Großdemonstrationen gegen TTIP und CETA in Deutschland, Frauenstreiks in Lateinamerika und Teilen Europas und die Suche einer ganzen Schicht von Jugendlichen und ArbeiterInnen nach einer politischen Alternative in den USA und Großbritannien. Die herrschende Klasse und ihre Institutionen haben massiv an Legitimität verloren. Die letzten Beispiele hierfür waren das Brexit-Votum in Großbritannien und die Massenproteste in Rumänien.

Die vom CWI (Committee for a Workers International, der internationalen Organisation, der die SAV angeschlossen ist) geprägte These, dass wir mit Beginn der Weltwirtschaftskrise 2007/2008 in eine Ära von Revolution und Konterrevolution eingetreten sind, war korrekt. Wir haben es nicht mit einer geradlinigen Entwicklung, sondern mit einem Kampf zwischen den Kräften beider Pole zu tun. Diese Ära begann mit einer Phase starker spontaner Bewegungen in Nordafrika/Naher Osten (arabischer Frühling) und Südeuropa (Griechenland, Spanien), die aufgrund des Fehlens sozialistischer Kräfte zu Niederlagen und einer Phase konterrevolutionärer Prozesse im Nahen Osten und milder Reaktion in Europa führten.

Während sich diese Entwicklungsrichtung im Naher Osten weiter fortsetzt und mit dem Krieg in Syrien dominant ist, haben wir gesehen, wie das Pendel in Europa 2014 für eine Zeit wieder nach links ausgeschlagen ist und wir Zeuge großer Streiks in Großbritannien, der Massenrevolte gegen Wassergebühren in Irland, des schottische Unabhängigkeitsreferendums, Massenstreiks in Belgien und Frankreich, Kämpfe für sexuelle Selbstbestimmung in Spanien, Irland und Polen waren. All dies ist Ausdruck des Potentials für die politische Linke und die Arbeiterbewegung.

Gleichzeitig erleben wir erneut ein Erstarken rechtspopulistischer und reaktionärer Kräfte in einer Vielzahl von europäischen Ländern, den USA und auch in Deutschland. Der Nährboden dafür ist die jahrzehntelange neoliberale Politik, der Abbau sozialer Leistungen und staatlicher Rassismus durch die etablierten Parteien. Rechte Kräfte versuchen, die Ängste vor Zuwanderung, sozialem Abstieg und den Terror des sogenannten Islamischen Staats (IS) für ihre rassistische Hetze zu nutzen. In Zeiten der Krise ist eine Polarisierung zwischen rechten und linken Kräften unvermeidlich. In manchen Ländern sehen wir, wie beide Pole gleichzeitig anwachsen beziehungsweise wie es neben einer ansteigenden Wahlunterstützung für Rechtspopulisten zu einer Welle der Solidarität mit Geflüchteten aus der Arbeiterklasse kam. In den USA hat Bernie Sanders Vorwahlkampagne Millionen Menschen begeistert. Die Entwicklungen in Großbritannien um Jeremy Corbyn sind von zentraler Bedeutung für die Bewusstseinsentwicklung in der Arbeiterklasse. Sie repräsentieren eine Öffnung nach links und ermöglichen uns, mit sozialistischen Ideen und Programmpunkten in die Debatten einzugreifen.

Der Erfolg der Rechtspopulisten bei Wahlen ist in vielen Ländern eine Anklage an die Führungen linker Parteien und der Gewerkschaftsführungen, deren Reformismus in der heutigen Phase des Kapitalismus oftmals keinerlei Antworten auf die drängenden Fragen bietet. Dadurch wird das Potential nicht ausgeschöpft und die bestehende Polarisierung findet stärker ihren Ausdruck nach rechts. Das krasseste Beispiel hierfür ist die Wahl von Trump zum Präsidenten der USA. Verschiedene Umfragen hatten gezeigt, dass Sanders Trump hätte schlagen können. Auch die Entwicklungen in Frankreich und die Wahlerfolge des Front National machen vielen Menschen Angst (auch wenn es derzeit nicht danach aussieht, dass sich Marine Le Pen in der Stichwahl wird durchsetzen können). Während die Unterstützung für rechte Kräfte wachsen, sind diese jedoch nicht so verfestigt, dass der Trend durch eine klassenkämpferische Linke und soziale Kämpfe nicht aufgehalten und umgekehrt werden könnte. Im Fall der Wahlen in den USA haben wir erlebt, dass unmittelbar nach der Verkündung des Ergebnisses eine scharfe Polarisierung entstanden ist und Zehntausende dem Aufruf von Socialist Alternative zu Protesten gegen Trump, Rassismus und Sexismus gefolgt sind. Am 21. Januar 2017 kam es mit über drei Millionen DemonstrantInnen im Rahmen der ‚womens marches‘ zu den größten Protesten in der Geschichte der USA.

Unsere Aufgaben, für einen kämpferischen sozialistischen Kurs in den Gewerkschaften und linken Parteien zu kämpfen und eine revolutionäre Massenpartei aufzubauen, werden nicht kleiner sondern größer.

Deutsche Perspektiven internationalisieren sich zunehmend. Weltweite Entwicklungen haben unmittelbare Auswirkungen auf Deutschland und das Bewusstsein von Menschen. Mangels einer Alternative zu Krieg, Krise, Instabilität wächst derzeit vor allem die Angst, aber gleichzeitig auch die Solidarität. Diese Resolution zu Deutsche Perspektiven soll die politische Basis legen, um die SAV in einer komplexen Phase aufzubauen.

Internationale Entwicklungen

► Ökonomische Lage

Das starke Auf und Ab der Börsenkurse zu Beginn des Jahres 2016 und die Krise der Deutschen Bank, die schon mit der Lehman-Pleite 2008 verglichen wurde, sind ein Hinweis auf die globale ökonomische Instabilität. Zudem kann derzeit niemand voraussagen, ob die USA unter Trump auf verstärkten Protektionismus setzen werden und welche weitreichenden ökonomischen und politischen Auswirkungen dies auf die Weltwirtschaft und die Weltbeziehungen haben kann. Diese Frage ist Gegenstand des Beschlusses des Internationalen Vorstands zu Weltbeziehungen vom Dezember 2016 und von weiteren Artikeln.

Die Perspektiven der Weltwirtschaft können in einer Frage zusammengefasst werden: Kommt es zu einem erneuten Einbruch oder setzt sich die langanhaltende Stagnation fort? Wir können diese Frage nicht beantworten, aber es ist klar, dass wir es bestenfalls mit einer dauerhaften Stagnation zu tun haben. Unsere vorsichtige Herangehensweise bei der letzten Bundeskonferenz bezüglich genauer Zeiträume und der Verlaufs der ökonomischen Entwicklung hat sich als richtig erwiesen.

Das Weltwirtschaftswachstum verlangsamt sich. Im Jahr 2016 erreicht das globale Wachstum mit 2,7 Prozent einen Tiefstand seit dem Krisenjahr 2009 (Wirtschaftswoche, 21.09.2016, Stefan Bielmeier; der IWF nennt die Zahl 3,1 Prozent). Es ist keine Wachstumslokomotive in Sicht – im Gegenteil. Sowohl in den Schwellenländern China, Russland, Brasilien, Südafrika als auch in den großen Blöcken EU, Japan und USA weisen die Wachstumsdaten nach unten.

Zum einen gehen Investitionen in die sogenannte Realwirtschaft weiter zurück aufgrund globaler Instabilität und Krisenherde, sinkender Absatzmöglichkeiten und Profiterwartungen. Wir sind Zeuge eines Rückgangs des Welthandelswachstums seit 2012. Der IWF und andere Institutionen warnen vor zunehmenden protektionistischen Maßnahmen, die die Profitaussichten der Banken und Konzerne schmälern könnten. Überkapazitäten in zentralen Branchen wie Stahl, Zement, Autos und Solarenergie bestehen fort. Der niedrige Ölpreis erhöht den Druck auf ölproduzierende Staaten und heizt den Kampf zwischen ihnen um geostrategische Einflussgebiete im Nahen Osten weiter an.

Zum anderen führen mangelnde Anlagemöglichkeiten in der Realwirtschaft zu vermehrter Spekulation und Krisenpotential an den Finanzmärkten. Die Bekämpfung der Krise durch billiges Geld und die Nullzinspolitik haben neue Blasen (Kredite, Anleihemärkte) geschaffen, die Verschuldung exorbitant gesteigert und bereiten eine neue Bankenkrise vor.

Der IWF schätzt, dass die globale Gesamtverschuldung das Rekordniveau von 152 Billionen US-Dollar erreicht hat und damit 225 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts entspricht. Die chinesische Wirtschaft ist von einem kontinuierlichen Rückgang des Wachstums bei Anstieg des Schuldenstands gekennzeichnet. Die Entwicklungen in China haben enorme Bedeutung für die Weltwirtschaft, die deutsche Wirtschaft und auch für Ökonomien in Afrika, Australien und Lateinamerika, die eine sinkende chinesische Nachfrage nach Rohstoffen bereits in der Vergangenheit zu spüren bekamen.

Während US-Banken längst wieder mehr verdienen als vor dem Bankencrash, gibt es in Europa ein größeres Potential für eine Bankenkrise 2.0, auch wegen des Aufkaufens von Staatsanleihen und der Instabilität südeuropäischer Staaten im Zuge der Eurokrise. Deutliche Warnzeichen dafür sind die Krise des italienischen Bankensektors und der Zustand der Deutschen Bank. Zwischenzeitlich war die Panik über den Abzug institutioneller Investoren aus den USA aus der Deutschen Bank so groß, dass Vergleiche mit dem „Lehmanbank-Moment – jenem Punkt, an dem die Abwärtsspirale aus Gerüchten und Angst nicht mehr zu stoppen sind“ (Welt am Sonntag, 2.10.2016) die Runde machten. Allein dies hatte das Potential, die Weltwirtschaft erneut an den Abgrund zu bringen.

Es zeigt, dass ein Crash jederzeit möglich ist. In einem solchen Fall können viele der in diesem Dokument ausgeführten Perspektiven noch vor den Bundestagswahlen überholt sein. Was dann passieren würde, ist schwierig zu sagen. Für die Arbeiterklasse wird ein Crash materiell nichts Positives, sondern weitere heftige Angriffe auf den Lebensstandard bedeuten. Eine zweite tiefe Krise innerhalb von zehn Jahren würde die Legitimation des kapitalistischen Systems im Bewusstsein Vieler in Frage stellen und uns Möglichkeiten bieten, daran mit sozialistischen Ideen anzusetzen. Die generelle Tendenz der Polarisierung wird sich fortsetzen.

Die Warnungen vor einem Ende des billigen Geldes und Zinserhöhungen mehren sich. Die EZB steht vor einem Dilemma: Einerseits senkt die Nullzinspolitik die Gewinnaussichten für Kreditgeschäfte der Banken, andererseits wäre ein Ende des billigen Geldes eine Katastrophe für die südeuropäischen Länder mit hoher Schuldenrate und könnte auch die Blasen an den Anleihemärkten zum Platzen bringen. Im November 2016 warnte die Finanzaufsicht der Bundesbank davor, dass eine Anhebung der Zinsen auch zu Turbulenzen auf den Immobilienmärkten führen könnte. In Deutschland verteuern sich die Preise für Wohnungen und Häuser rasant: Allein im ersten Halbjahr 2016 stiegen die Preise um gut fünf Prozent. Die von Banken langfristig vergebenen Kredite zu günstigen Konditionen können zu neuen gefährlichen Blasen auf den Immobilienmärkten führen, die bei einem Ende der Nullzinspolitik platzen. (Berliner Zeitung, 17.11.2016) Noch dramatischer ist es in China: Hier lag der Mietpreisanstieg im August 2016 im Vergleich zum Vorjahresmonat bei 23,5 Prozent in Peking und 31,2 Prozent in Shanghai (Berliner Morgenpost, 4.10.2016).

Nichts ist sicher – das einzig Sichere ist die Unsicherheit. Niemand kann seriös etwas zu Zeitpunkten und genauen Krisenverläufen sagen. Klar ist jedoch, dass die politischen und sozialen aber auch militärischen Entwicklungen aufs Engste mit dem Verlauf der Weltwirtschaft verknüpft sind. Eine erneute weltweite Rezession wäre keine einfache Wiederholung der Krise 2007/2008, da die Probleme der vorigen Krise nicht gelöst wurden. Es wurden weder Überkapazitäten in großem Stil abgebaut noch die Verschuldung verringert oder die Spekulation eingedämmt.

Die Möglichkeiten der Herrschenden zur Abfederungen neuer Krisen sind nicht genau vorherzusagen. Klar ist jedoch, dass die Möglichkeiten zur Krisenabwehr in einer Reihe von Ländern aufgrund der massiven Verschuldung kleiner wären als 2007/2008 und es unsicher ist, ob manche Maßnahmen (wie billiges Geld in die Wirtschaft zu pumpen) überhaupt in gleichem Maße greifen würden.

► Kriege und Flüchtlingsdrama

Der Krieg in Syrien ist Ausdruck der verschärften ökonomischen Lage (sinkende Öleinnahmen auf Seiten der ölproduzierenden Staaten) und des Kampfes um Einflussgebiete im Nahen Osten. Der Stellvertreterkrieg, der auf syrischem Boden zwischen Russland und Iran einerseits und Saudi-Arabien und den USA andererseits geführt wird, nimmt Züge einer mittelöstlichen Version des 30jährigen Krieges an. Der IS ist zwar geschwächt, aber nicht besiegt und auf Seiten der sogenannten Rebellen Syriens entstehen neue dschihadistische Kräfte. Der internationale Vorstand des CWI hielt im Dezember 2016 zu Recht fest: „Alle Erfahrungen zeigen, dass die sozialen Kräfte und politischen Motive hinter den dschihadistischen Gruppen nicht einfach verschwinden werden durch imperialistische Bomben. So lange die Lebensbedingungen, die durch Kapitalismus und Imperialismus generiert werden, sich nicht radikal ändern, werden solche reaktionären Gruppen ein Bestandteil im Naher Osten und international bleiben. Neue ähnliche Gebilde können auftauchen (….) gemeinsam mit der Wahrscheinlichkeit neuer terroristischer Anschläge, denen der IS mehr Bedeutung zumessen könnte.“

Seit dem Eingreifen Russlands zur Unterstützung des Assadregimes ist ein Sturz Assads in weite Ferne gerückt und das Regime wieder in der Offensive. Die Ausweitung der Kriegszone auf den Jemen, Irak und andere Länder wird sich fortsetzen, wenn es nicht gelingt, eine multiethnische Arbeiterbewegung aufzubauen. Selbst direkte Konfrontationen zwischen dem Iran und Saudi-Arabien oder auch der Türkei sind nicht mehr ausgeschlossen.

Der internationale Vorstand des CWI hat den Krieg in Syrien und den Nachbarländern bereits mit Merkmalen des Ersten Weltkriegs verglichen (auch wenn diese im Ersten Weltkrieg ein größeres Ausmaß hatten): „Der Syrien-Krieg dauert nun schon beinahe sechs Jahre an, und es ist kein Ende in Sicht. Zusammen mit ihren ‚Verbündeten‘ vor Ort sind die ‚Großmächte‘ dieser Welt beteiligt (vor allem Russland und die USA). Aber weder sie noch die blutrünstigen Dschihadisten mit ihren Methoden, die denen des Faschismus ähneln, bieten langfristig eine Lösung. Nur die Arbeiterklasse und der Wiederaufbau der Arbeiterbewegung in der Region können in Zusammenarbeit mit der internationalen Arbeiterbewegung einen Ausweg aus diesem blutigen Morast bieten – durch Klassen-Einheit und sozialistischen Wandel.“

Das CWI geht jedoch nicht von einem Dritten Weltkrieg aus – zum einen aufgrund der atomaren Bewaffnung und der Möglichkeit der Vernichtung eines Großteils der Basis der kapitalistischen Produktion und zum anderen aufgrund des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen. Den USA ist es zwar daran gelegen, den Einfluss von Russland und China zu begrenzen, aber dies wird eher durch eine Eindämmungspolitik mit Hilfe von Sanktionen geschehen als durch einen heißen Krieg zwischen Russland und den USA. Ob sich diese Perspektiven durch die Wahl von Trump etwas in die ein oder andere Richtung ändern können, müssen wir weiter diskutieren. Die Hoffnung einiger FriedensaktivistInnen, dass es mit Trump als Präsident zu weniger Kriegen kommen wird, ist zu bezweifeln. Entscheidend ist letztendlich nicht, ob Trump ein besseres Verhältnis zu Putin hat (das hatte George W. Bush zu Beginn seiner Präsidentschaft auch), sondern was im Interesse des US-Imperialismus liegt. Bezüglich einer möglichen Kündigung des Iran-Atomabkommens hat Trump bereits eine härtere Linie angekündigt und zudem eine laxere Haltung gegenüber der israelischen Regierung.

In der Türkei erleben wir seit dem Putschversuch im Sommer 2016 eine weitere Zuspitzung. Die Verhaftung der Vorsitzenden der HDP, die Suspendierung von 80.000 Staatsbediensteten, Entlassung von über 11.000 Lehrkräften, Schließung von 170 Verlagshäusern und Medien und die Verhaftungswelle von Zehntausenden Menschen machen deutlich, dass die Türkei zu einem bonapartistischen Regime mit diktatorischen Elementen geworden ist. Während das Vorgehen gegen die Opposition im Interesse Erdogans ist, ist das Regime gleichzeitig mit der Schwäche der türkischen Wirtschaft und einer empfindlich geschwächten Armee konfrontiert, die nicht in der Lage sein wird, ihre militärische Präsenz in Syrien, Nordirak und im Südosten der Türkei gleichzeitig aufrecht zu erhalten. Die Ereignisse in der Türkei haben für uns auch deshalb eine Bedeutung, weil viele MigrantInnen aus der Türkei in Deutschland leben.

Kriege und das Elend der Menschen im Nahen/ Mittleren Osten und Afrika haben zu einem Flüchtlingsdrama geführt, dass es in diesem Ausmaß seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht gegeben hat. Die Herrschenden weltweit sind nicht willens und nicht in der Lage, dieses Drama zu lösen. Der blutige Deal mit der Türkei wird zu einem zunehmenden politischem Problem für die deutsche Regierung. Bisher überwiegen für die deutsche Regierung und die EU jedoch die „Vorteile“, Menschen die Einreise nach Deutschland und die EU zu verunmöglichen. Immer mehr Menschen werden an den Außengrenzen Europas festgehalten, und auch das blutige Frontex-Regime wurde mehrmals verstärkt. Die Flüchtlingszahlen derer, die es bis nach Deutschland schaffen, sinken stark. 2015 waren es 890.000, in 2016 wurden 280.000 Asylsuchende registriert.

Neben Kriegen, politischer Verfolgung und Diskriminierung trägt der Klimawandel eine erhebliche Verantwortung für Migrationsbewegungen. Dürren, Überschwemmungen und andere Naturkatastrophen führen dazu, dass Millionen Menschen ihre Länder verlassen müssen. Zum Jahr 2050 wird die Zahl der Klimaflüchtlinge auf bis zu eine Milliarde Menschen geschätzt. Der „Club of Rome“ spricht in seinem Zukunftsreport „2052“ davon, dass die Treibhausgasemissionen weiter steigen und dass weltweit mit ungeheuren Umweltzerstörungen zu rechnen sei. Sogar „eine Revolution könnte die Folge sein, da die Jüngeren nicht länger bereit seien, die Fehler ihrer Vorgänger auszubaden“. (http://www.br.de/themen/wissen/club-of-rome-klimawandel100.html)

Nötig wäre, den globalen Klimaanstieg auf zwei Grad Celsius zu begrenzen. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass die Temperatur bis 2080 um 2,8 Grad steigt. Laut des „Emissions-Gap-Report“würde die Temperatur bis Ende des Jahrhunderts sogar um 2,9 bis 3,4 Grad steigen, selbst wenn alle bisherigen Versprechen der Klimakonferenzen komplett erfüllt würden. (web.unep.org/emissionsgap/)

Rosa Luxemburgs schrieb einst, „dass der Militarismus in seinen beiden Formen – als Krieg wie als bewaffneter Friede – ein legitimes Kind, ein logisches Ergebnis des Kapitalismus ist.“ Die deutsche Bundeswehr geht mit dem Weißbuch vom Juli 2016 den Weg der weiteren Aufrüstung und der Einsatzorientierung. Nachdem ein Vierteljahrhundert bei der Bundeswehr gespart wurde, soll der Verteidigungsetat nun deutlich erhöht werden. Das steht auch im Zusammenhang mit der Aufforderung der NATO, dass alle NATO-Staaten zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben sollen. Deutschland liegt bei 1,2 Prozent des BIP. Bisher geplant ist die Aufstockung des Verteidigungsetats bis 2020 von derzeit 34,3 auf 39,2 Milliarden Euro. „Um das Zwei-Prozent-Ziel zu erreichen, müsste Deutschland allerdings mehr als 60 Milliarden Euro für Verteidigung ausgeben“, schrieb der Tagesspiegel am 23.06.2016.

► Europa zwischen Reaktion und Klassenkampf

Die EU wurde 2015/2016 von der tiefsten Krise seit ihrem Bestehen gebeutelt. Erst die Griechenland- und Eurokrise, dann das Flüchtlingsdrama und das mögliche Aus des Schengensystems und nun der Brexit. Die Zentrifugalkräfte innerhalb der EU nehmen zu. Keine dieser Krisen ist gelöst. Die Schulden Griechenlands sind untragbar und Schäubles Versuch, das Thema auf die Zeit nach den Bundestagswahlen zu verschieben, könnte am IWF scheitern. Die Spekulationen über ein mögliches neues „Rettungspaket“ für Portugal und eine neue Bankenkrise in Italien legen nahe, dass die Eurokrise noch lang nicht ausgestanden ist und auch die Folgen eines Brexits sind nicht genau absehbar. Die Einstellung gegenüber den EU-Institutionen ist in vielen Ländern auf einem Tiefpunkt angelangt. Die Legitimation vieler Regierungen wie in Frankreich und Großbritannien ist schwach und der Sturz oder die Abwahl von Regierungen in der Situation angelegt. Das jüngste Beispiel liefert Matteo Renzi, der nach dem verlorenen Verfassungsreferendum in Italien seinen Hut nehmen musste.

Während rechtspopulistische und reaktionäre Kräfte ihre Unterstützung in vielen Ländern ausbauen konnten, ist es – teilweise in denselben Ländern – zu großen Bewegungen gekommen. Die Massenstreiks in Frankreich sind ein Beispiel dafür, dass weder ein starker Front National noch Terroranschläge die Arbeiterklasse vom Kampf abhalten. Auch die Serie von Streiks in Belgien ist ein Beleg dafür, dass die Arbeiterklasse trotz der Terroranschläge in Brüssel intakt und aktiv ist. Beide sind ein Beispiel für die hohe Kampfbereitschaft und zugleich die Unfähigkeit der politischen Linken, in diesen Kämpfen eine Strategie vorzuschlagen und sich politisch aus ihnen heraus aufzubauen.

In mehreren europäischen Ländern hat es nach Terror-Anschlägen erheblichen Abbau von Grundrechten gegeben. Die Pariser Terror-Anschläge vom November 2015 wurden genutzt, um Massenproteste zur UN-Klimakonferenz, zu denen mehrere Hunderttausend Menschen erwartet worden waren, zu verbieten. Auch in Deutschland haben wir Angriffe auf demokratische Rechte erlebt, auch wenn sie bisher nicht das Maß eines flächendeckenden Notstands erreicht haben. Lokal wurden aber immer wieder sogenannte „Gefahrengebiete“ festgelegt, in denen die Polizei willkürlich Leute schikanieren durfte. Auch die Überwachung im Netz hat zugenommen. In der Vergangenheit haben wir teils starke Proteste gegen Überwachung, Freiheitsbeschränkung und Repression gesehen. Trotz wachsender Akzeptanz sogenannter Anti-Terror-Maßnahmen unmittelbar nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt ist das Potenzial für Proteste ist weiterhin vorhanden.

Potential für die Linke

Das Phänomen des Zuspruchs für Jeremy Corbyn in Großbritannien und die massenhaften Eintritte in die Labour Party und das Sanders-Phänomen in den USA sind keine Zufälle, sondern Ausdruck des politischen Vakuums und des Potentials für eine neue linke Massenkraft der Arbeiterklasse gegen die Herrschenden. Das kommt in der Begeisterung für Sanders Slogan „Für eine Revolution gegen die Milliardärsklasse“ zum Ausdruck. Im Ansatz gibt es dieses Potential aufgrund der Wut auf das Establishment, der Polarisierung und des Vertrauensverlusts in Regierungen international und auch in Deutschland. Ein Teil dieses Potentials mobilisiert in Frankreich der Kandidat der Front de Gauche Jean-Luc Mélenchon.

In den meisten Fällen wird das Bewusstsein der Arbeiterklasse heute das Stadium reformistischer Ideen durchlaufen. Reformistische Ideen und Programme erfahren im heutigen Stadiums des Kapitalismus aber schneller als früher ihre Begrenzung. In Ländern wie Griechenland hat sich das in atemberaubendem Tempo gezeigt. Bei unserer letzten Bundeskonferenz hatte SYRIZA auf einer Welle von Begeisterung gerade die Wahl gewonnen, heute finden erste Generalstreiks gegen die SYRIZA-geführte Regierung statt. Die Alternative zu Tsipras‘ Politik hätte in einem Bruch mit der EU und dem Kapitalismus bestanden. Zwischen dieser Alternative und der erfolgten Kapitulation gab es keinen Spielraum. In anderen Ländern mögen die Spielräume etwas größer sein, aber überall ist die Basis für Veränderungen, dass man sich mit den Herrschenden anlegen muss. Das drückt sich auch im erbitterten Kampf von Teilen des Labour-Party-Apparats gegen Jeremy Corbyn aus, auch wenn alles andere als klar ist, wie dieser Konflikt ausgeht.

Wenn es keine starke sozialistische Alternative gibt, werden wir noch viele Situationen erleben, in denen reformistische Führer die Interessen der Arbeiterklasse ausverkaufen. Doch selbst aus diesen Erfahrungen können wichtige Schichten von AktivistInnen wie beispielsweise in Griechenland oder den USA lernen und die nächsten Kämpfe können sich auf der Basis eines höheren Bewusstseins vollziehen. In den USA ist es möglich, dass die Entwicklungen die Herausbildung einer dritten Partei und das Ende des dysfunktionalen Zwei-Parteien-Systems beschleunigen, auch wenn dieser Prozess durch die Wahl von Trump verkompliziert wird. Es ist jedoch auch nicht ausgeschlossen, dass reformistische Kräfte durch den Druck von unten und den Erfahrungen der Massen weiter nach links gedrängt werden.

Der Klassenkampf entwickelt sich weder in Europa noch in Deutschland geradlinig. Es gibt einerseits ein atemberaubendes Tempo von Entwicklungen, doch aufgrund des Zustands der Organisationen der Arbeiterbewegung und den Fehlern ihrer Führungen brauchen wir einen langen Atem. Aufgabe des CWI ist, der Arbeiterbewegung zu helfen, die richtigen Schlussfolgerungen aus diesen Lehren zu ziehen, Erfahrungen zu sammeln, die Entwicklung zu beschleunigen und starke Organisationen aufzubauen mit dem Ziel, den Kapitalismus zu stürzen und eine sozialistische Demokratie zu erkämpfen.

Lage in Deutschland

► Deutsche Wirtschaft: „Risiken kleben wie Kaugummi am Schuh“

Unsere Positionen der Bundeskonferenz im Januar 2015 und des Bundesvorstands im Dezember 2015 haben sich bestätigt. Die ökonomische Sondersituation Deutschlands setzt sich fort und schwächt sich zugleich ab. Deutschland ist seit 2009 Krisengewinner, aber erstens auf ökonomisch niedrigem Niveau und zweitens auf der Basis einer gestiegenen Exportabhängigkeit. Drittens ist es nicht ausgeschlossen, dass ein erneutes Eintauchen in die Krise von Deutschlands Banken ausgehen könnte.

Erstens: Das Wachstum der deutschen Wirtschaft lag im Jahr 2015 nur bei 1,7 Prozent und in 2016 bei 1,9 Prozent; die Prognose für 2017 liegt mit 1,4 Prozent auf ähnlich niedrigem Niveau. Früher wurden Wachstumsraten erst ab zwei Prozent als Aufschwung bezeichnet. Die deutsche Industrieproduktion stagniert und die deutsche Exporte außerhalb der EU schwächeln. Das verbliebene Wirtschaftswachstum speist sich vor allem aus privatem und staatlichem Konsum. Letzterer wiederum basiert vor allem auf den Ausgaben im Zuge der Aufnahme von Hunderttausenden Geflüchteten. Dafür wurde mehr Geld ausgegeben als für die Abwrackprämie. Dieser Faktor wird mit sinkenden Flüchtlingszahlen abnehmen. Der private Konsum ist zwar gestiegen, aber ist viel zu begrenzt, um ein qualitativ höheres Wachstum einzuleiten.

Zweitens: Laut Ifo-Institut wird Deutschland China 2016 als Land mit dem höchsten Exportüberschuss (9 Prozent im Jahr 2016) ablösen. Die hohen Überschüsse sind den USA ein Dorn im Auge, die kritisieren, Deutschland würde Gewinne zu Lasten anderer Länder einfahren. Doch diese Abhängigkeit von der Weltwirtschaft birgt auch große Gefahren. VW verkauft jedes dritte Auto in China. Die deutsche Wirtschaft kann sich bei einer erneuten Rezession nicht entkoppeln. Der Kapitalmarktexperte Robert Halver fasste das so zusammen: „Die weltkonjunkturellen Risiken für die exportsensitive deutsche Industrie kleben weiter wie Kaugummi am Schuh.“ (börse-online.de: Bankenkrise, Wirtschaftskrise und kein Ende, 5.10.2016) Hinzu kommen jetzt die Risiken einer protektionistischen Politik der USA unter Trump.

► Bankenkrise 2.0 in Deutschland?

Drittens: In Deutschland wie auch in anderen europäischen Ländern stehen die Banken in einer starken Konkurrenzsituation. Grund sind dramatische Geschäftseinbrüche, sinkende Gewinnerwartungen im Kreditgeschäft im Zuge der Null- bis Negativzinspolitik der EZB und im Vergleich zum US-Markt ein Fortbestehen vieler Banken (Overbanking). Die EZB hält auch deshalb an der Nullzinspolitik fest, weil der billige Euro zu Exportvorteilen führt.

Die wichtigsten beiden deutschen Großbanken – Commerzbank und Deutsche Bank – sind in der Krise. Der Stellenabbau von einem Fünftel der Arbeitsplätze bei der zweitgrößten deutschen Bank – der Commerzbank – ist eine Antwort auf die sinkenden Profiterwartungen im Investmentgeschäft. Die Deutsche Bank steht aufgrund ihres im Nominalwert billionenschweren Umfangs an Derivaten, die unkalkulierbare Risiken für die Finanzmärkte bedeuten können, in der Kritik. Die Aktie der Deutschen Bank hat im Verlauf eines Jahres 60 Prozent an Wert verloren. Die USA nutzten die Gunst der Stunde und verlangten milliardenschwere Strafzahlungen von der Deutschen Bank. Die Schwächung der Deutschen Bank ist im Interesse des US-Bankensektors, der sich dadurch Vorteile erhofft. Halver: „Heute sind die amerikanischen Banken die Stärksten der Welt. Amerika weiß natürlich auch um die geostrategische Bedeutung seiner Institute und die ‚beeinflussende‘ Anlagekraft seiner großen Kapitalsammelstellen. Das sind die neuen Abschreckungswaffen in der Geopolitik.“ Die Krise der Deutschen Bank hat das Potential den gesamten globalen Finanzmarkt ins Wanken zu bringen.

► Handelskonflikte in Zeiten sinkender Profiterwartungen

Wir sehen zunehmend, wie Strafzahlungen im imperialistischen Machtkampf zwischen den Wirtschaftsblöcken dazu dienen, sich gegenüber Konkurrenten in eine bessere Position zu bringen. So wurde vermutet, dass die USA durch die Verschärfung der Krise der Deutschen Bank eine Rettung durch die Bundesregierung und eine offizielle Aufgabe der bail-in-Politik (Beteiligung von Gläubigern einer Bank an Verlusten) erzwingen wollten. Das Vorgehen wurde auch als Reaktion auf die von der EU von Apple geforderten Strafzahlungen gewertet. Dahinter steht, dass die EU versucht, die Macht der fünf größten IT-Konzerne in Europa zurückzudrängen. Hinter den Kulissen tobt ein erbitterter Kampf um Wettbewerbsvorteile in einer Phase der Weltwirtschaft, die von Stagnation geprägt ist. Ein ähnliches Bild ergibt sich in Bezug auf die milliardenschweren Entschädigungen durch VW im Zuge des Abgasskandals an US-Vertragshändler (der teuerste Vergleich in der Geschichte der Autoindustrie). Im globalen Wettbewerb nehmen Handelskonflikte angesichts sinkender Profitmargen zu. Die Süddeutsche Zeitung titelte am 30.09.2016 „Als Deutschland seinen guten Ruf zerlegte“. Dass die beiden ehemaligen deutschen Vorzeigeunternehmen VW und Deutsche Bank im Zentrum der Krise und der Angriffe stehen, kommt einem hohen Imageverlust für die deutsche Wirtschaft gleich und zeigt auch die potentiellen Risiken auf, die von VW und Deutsche Bank für die deutsche Wirtschaft ausgehen. Der Vorstand von VW hat bereits angekündigt, im Rahmen der Krise 23.000 Stellen in Deutschland abzubauen.

Doch natürlich entwickeln sich nicht alle Branchen gleichermaßen und gibt es sowohl innerhalb der Branchen als auch zwischen ihnen Verlierer und Gewinner. Während manche Branchen wie Airlines, Stahlindustrie, Photovoltaik, Containerschifffahrt von hohen Überkapazitäten gekennzeichnet und Konzentrationsprozesse zu erwarten sind, wurden Überkapazitäten in anderen Branchen bereits abgebaut. Dabei wurden zum Teil massiv Arbeitsplätze vernichtet (z.B. Druckmaschinen; Heidelberger Druck ist als einziger Player übrig geblieben).

Sinkende Profiterwartungen und eine wachsende Konkurrenz im Zuge einer stagnierenden Weltwirtschaft sind sowohl Ursache für die Bedeutung von Freihandelsabkommen wie CETA und TTIP als auch der Hintergrund für die Probleme in den Verhandlungen über TTIP. SPD und Union haben massiv Druck gemacht, dass trotz Massenprotesten Teile von CETA 2017 auf EU-Ebene vorläufig in Kraft treten. Doch die vom Bundesverfassungsgericht und durch Druck der Wallonen neu auferlegten Bedingungen bergen Zündstoff für mögliche Proteste in der Zukunft. Das TTIP- Abkommen ist noch nicht ad acta gelegt. Doch die Verhandlungen zwischen USA und EU gestalten sich schwierig, weil beide die Sorge eint, die jeweils andere Seite könnte zu ihren Ungunsten einen Vorteil daraus ziehen. In den USA tritt Trump einerseits als Gegner von Freihandelsabkommen auf und möchte TTIP nicht ratifizieren. Andererseits wollen Teile der herrschenden Klasse der USA dieses Abkommen. Auch wenn derzeit von einem Scheitern von TTIP ausgegangen wird, ist nicht hundertprozentig sicher, ob sich die BefürworterInnen von TTIP nicht doch durchsetzen.

► Soziale Lage der Arbeiterklasse

In den letzten Jahren sind verallgemeinerte Angriffe auf die Arbeiterklasse außer dem Gesetz zur Tarifeinheit ausgeblieben. Und auch das Gesetz zur Tarifeinheit wurde (u.a. aufgrund der Unterstützung durch Teile der Gewerkschaftsführungen) nur von Teilen der Arbeiterklasse als allgemeiner Angriff betrachtet. Die Steuerüberschüsse und die im internationalen Vergleich bessere wirtschaftliche Lage ermöglichten es der Bundesregierung, dem Druck für einen gesetzlichen Mindestlohn nachzugeben und die löchrige Mietpreisbremse einzuführen. Auch wenn letztere keine wirkliche Wirkung zeigt, hatten solche Maßnahmen die Wirkung auf das Bewusstsein, so dass die Sorgen vor einer Verschlechterung der eigenen ökonomischen Lage eine Zeit lang weniger ausgeprägt war.

Ein wichtiger Trend ist die größere Differenzierung in der Arbeiterklasse – es entwickelt sich eine „gespaltene Lohnwelt“. Teile der Arbeiterklasse mit Branchentarifverträgen haben in den letzten Jahren eine gewisse Reallohnsteigerung gesehen (auch aufgrund des unterdurchschnittlichen Anstiegs der Verbraucherpreise). Für eine Schicht hatte das eine gewisse spürbare Relevanz. Für einen anderen Teil ist das aufgrund steigender Mieten nicht der Fall. Ein wiederum anderer Teil von Beschäftigten arbeitet in nicht-tarifgebundenen Branchen und ist damit von der Entwicklung abgekoppelt.

Das spiegelt einen bereits länger anhaltenden Trend wieder. So sind laut Berechnungen des Büros des MdB Michael Schlecht (DIE LINKE) vom Juni 2016 die Tariflöhne von 2000 bis 2015 preisbereinigt um 12 Prozent angestiegen (erst in den letzten Jahren stiegen sie deutlicher, so dass dieses Gesamtergebnis zustande kommt). Aber der Anteil jener, die Tariflöhne erhalten, wird immer kleiner: Zuletzt arbeiteten 45 Prozent der Beschäftigten in einem tarifgebundenen Betrieb – das heißt in einem Betrieb, der entweder einem Branchen- (41 Prozent) oder einem Flächentarifvertrag (4 Prozent) unterliegt. Der Anteil der tarifgebunden Betriebe an allen Unternehmen lag gerade einmal bei knapp 15 Prozent. Für Beschäftigte ohne Tarifbindung sind die preisbereinigten Bruttolöhne zwischen 2000 und 2015 um 17 Prozent gesunken. Das spiegelt sich auch in den anhaltenden Mitgliederverlusten der DGB-Gewerkschaften wider. Die acht Mitgliedsgewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) hatten Ende 2016 noch 6,03 Mio. Mitglieder. Das waren etwa 55 000 weniger als ein Jahr zuvor, sagte der DGB-Vorsitzender Hoffmann gegenüber Südwest Presse. Vor allem bei nicht-tarifgebundenen Beschäftigten setzt sich die Prekarisierung der Lebensverhältnisse fort. Die Zahl der AufstockerInnen ist nicht rückläufig, die Zahl der LeiharbeiterInnen wächst und hat im Juni 2016 den Rekord von über einer Million Menschen erreicht (BA-Analyse zur Zeitarbeit, Februar 2017). Die Armutsgefährdungsquote im Jahr 2015 ist laut Statistischem Bundesamt höher als vor zehn Jahren. Die Armut in Ostdeutschland ist weiterhin höher als im Westen, aber das Armutsrisiko steigt derzeit vor allem im Westen (und hier vor allem in NRW und Bremen).

Die Allensbachumfrage 2016 hat gezeigt, dass nicht nur die Prekarisierten Angst vor der Zukunft haben. Auch diejenigen, deren Löhne gestiegen sind, beuteln massive Zukunftsängste – vor sozialem Abstieg und aufgrund der internationalen Instabilität.

Ostdeutschland

Die soziale Lage der Beschäftigten und Erwerbslosen in Ostdeutschland ist weiterhin in vielerlei Hinsicht schlechter als in Westdeutschland, vor allem die Lohn- und Gehaltsdifferenz besteht nach über 25 Jahre nach dem Mauerfall fort. Das bedeutet, dass sich hier viele Menschen schon seit Jahren abgehängt fühlen und es auch sind. Es verwundert nicht, dass 65 Prozent der Menschen in Ostdeutschland meinen, dass die Bundesregierung zu wenig unternimmt, um die Lebensverhältnisse in Ost und West anzugleichen. Gleichzeitig gibt es den Trend, dass sich die Situation von Beschäftigten und Erwerbslosen in Teilen Westdeutschlands in manchen Bereichen der sozialen Situation in Ostdeutschland annähert. So lag die Erwerbslosenquote in Ostdeutschland im Juni 2016 des WSI der Hans-Böckler-Stiftung zufolge bei 8,2 Prozent, in Westdeutschland bei 5,4 Prozent. Im Jahresvergleich 2015 zu 2016 sank diese Quote im Osten mit 7,5 Prozent stärker als in Westdeutschland (-2,1 Prozent). Dabei ist die Lage unter den verschiedenen Bundesländern sehr unterschiedlich und belegt mit Bremen ein westdeutscher Stadtstaat Platz 1 in der Statistik der höchsten Erwerbslosenquote (gefolgt von Mecklenburg-Vorpommern). Auch die Zahl der AufstockerInnen und Ein-Euro-JobberInnen ist im Osten gemessen an der Bevölkerungszahl deutlich höher als im Westen mit demselben Trend, dass ihre Zahl im Osten stärker sinkt als im Westen (bei den AufstockerInnen um 10,6 Prozent von 2015 bis 2016 im Vergleich zu 0,6 Prozent im Westen). Laut WSI steigt die Anzahl atypischer Beschäftigungsverhältnisse (Teilzeit, Leiharbeit, geringfügig Beschäftigte, kurzfristig Beschäftigte) sowohl im Osten als auch im Westen, liegt in Westdeutschland in Relation zur Bevölkerung heute jedoch höher als im Osten. Der Anteil der befristeten Arbeitsverträge ist im Osten mit 10,1 Prozent im Jahr 2015 leicht höher als im Westen mit 8,9 Prozent. In der Tendenz entwickeln und verfestigen sich sowohl in Teilen Ostdeutschland (und hier schon länger) als auch im Westen abgehängte und von Armut bedrohte Regionen. Dabei gibt es auch in Ostdeutschland große Unterschiede zwischen der sozialen Situation in einigen Großstädten wie Dresden und Leipzig und ländlichen Regionen wie beispielsweise in Vorpommern.

Rente

Das Rentenniveau kennt nur einen Weg: Nach unten. Davon darf auch die überdurchschnittliche Erhöhung in diesem Jahr nicht ablenken. Das Renteneinstiegsalter wurde erhöht, Altersarmut steigt, von der Riesterrente profitieren nur die Versicherungskonzerne. Ab 2030 drohen der Hälfte der RentnerInnen Altersarmut. Man muss 45 Jahre ohne Unterbrechung für einen Stundenlohn von zwölf Euro arbeiten, um dann eine Rente knapp über der Armutsgrenze zu erhalten. Schon heute müssen rund 550.000 RentnerInnen Grundsicherung beziehen, viele weitere müssen bis ins hohe Alter noch Nebenjobs ausüben. So nimmt auch die Gefahr und die Angst vor Altersarmut zu.

Die soziale Ungleichheit ist ein prägendes Merkmal der neoliberalen Periode und prägt auch die Klassenverhältnisse in Deutschland in hohem Maße: In keinem Land Europas ist die Kluft zwischen Arm und Reich so groß wie in Deutschland. Hierzulande besitzen die reichsten zehn Prozent der Haushalte fast zwei Drittel des Gesamtvermögens, die ärmere Hälfte gerade einmal 2,5 Prozent.

Gender-pay-gap

Frauen verdienen im Durchschnitt 21 Prozent weniger als Männer. Dieses Thema ist stärker in der öffentlichen Debatte angekommen, ohne dass sich dadurch etwas an den Verhältnissen geändert hat. Der Gesetzesvorschlag der Bundesregierung, demzufolge Frauen in Betrieben ab 200 Beschäftigten Recht auf Auskunft über das durchschnittliche Gehalt ihrer männlichen Kollegen bekommen sollen, greift zum einen viel zu kurz. Zum anderen zementiert es die Rechtmäßigkeit der Ungleichbehandlung von Frauen in Betrieben unter 200 Beschäftigten. Die größte gesellschaftliche Aufmerksamkeit zu Sexismus und Frauenunterdrückung hat derzeit jedoch nicht das Thema soziale Ungleichheit, sondern die Themen sexualisierte Gewalt, sexistische Sprüche, sexuelle Selbstbestimmung und die frauenfeindlichen Positionen und das reaktionäre Frauenbild der AfD und anderer Rechtsaußenpolitiker wie Donald Trump.

In vielen Bereichen, in denen Frauen beschäftigt sind, sind Arbeitsdruck, Burnout und Arbeitshetze ein wichtiges Thema gewerkschaftlicher Auseinandersetzung. Sowohl beim Kampf für mehr Personal im Krankenhaus als auch bei der Vorbereitung der nächsten Auseinandersetzung bei den Sozial- und Erziehungsdiensten im Jahr 2020 steht das Thema Arbeitsverdichtung im Mittelpunkt.

Junge Beschäftigte

Auch bei jungen Beschäftigten nehmen Stress und Arbeitsverdichtung erheblich zu. Der DGB Jugend Ausbildungsreport 20116 stellte fest: „So fühlten sich lediglich 17 Prozent der Auszubildenden beim Aufwachen frisch und ausgeruht, 55 Prozent hingegen zeigten bereits stressbedingt körperliche, emotionale oder kognitive Warnsignale. (Studie Uni Marburg)“. Die steigende Anzahl prekärer Arbeitsplätze trifft besonders junge Beschäftigte. So beträgt der Anteil befristeter Arbeitsverträge bei den 20- bis 25-Jährigen über 27 Prozent, bei den unter 20-Jährigen über 40 Prozent (ver.di WiPo Dezember 2016). Von Studierenden, die oft nebenbei jobben, geben 53 Prozent ein hohes Stressniveau an (AOK Studie). Die Belastung für SchülerInnen hat sich in den letzten Jahren durch die verkürzte Abiturlaufzeit und zusätzliche Zentralprüfungen ebenfalls gesteigert. Zwei von fünf SchülerInnen haben wöchentlich Kopfschmerzen vom Stress – fast vier von fünf mindestens alle drei Monate (Die Welt, Juni 2015).

Rückblick: Streik- und Protestjahr 2015

2015 war das Jahr mit den meisten Streiktagen seit Anfang der 1990er Jahre. Der Titel der von der Bundeskonferenz im Januar 2015 beschlossenen DP-Resolution „Von der Käseglocke zum Klassenkampf“ hat sich schneller bestätigt als wir selbst erwartet hatten. Der Grund für die Häufung der Kämpfe lag zum einen in den zeitgleich stattfindenen Tarifverhandlungen, zum anderen war er Ausdruck von Arbeitsdruck und Arbeitshetze und eines neuen Selbstbewusstseins einer Schicht von KollegInnen vor dem Hintergrund einer wachsenden Wirtschaft.

In der Resolution des Bundesvorstands von Dezember 2015 schrieben wir zu diesen Streiks treffend: „Diese hatten teilweise defensiven Charakter (Post, bei der Bahn hinsichtlich des Rechts der GDL überhaupt einen Tarifvertrag für das gesamte Zugpersonal abzuschließen), teilweise offensiven Charakter (Aufwertungskampagne SuE, Streiks für Tarifvertrag bei Amazon und Charité, bei der Bahn hinsichtlich der materiellen Streikziele). Sie drücken in Teilen der Öffentlichen Dienstes das Gefühl aus, beim Lohn hinterherzuhinken, aber auch ein gestiegenes Selbstbewusstsein von dortigen Beschäftigtengruppen.“

In manchen dieser Kämpfe hat sich eine Schicht von AktivistInnen neu entwickelt und wichtige Erfahrungen gesammelt – wie bei den Sozial- und Erziehungsdiensten, dem Einzelhandel und der Charité. Viele von ihnen können in den nächsten Kämpfen auf ihren Erfahrungen aufbauen. Doch ohne eine organisierte Gewerkschaftslinke werden die Möglichkeiten, diese Aktiven dauerhaft zu organisieren und in gewerkschaftliche Debatten einzubinden, verpuffen. Der Aufbau der Tarifberaterstruktur an der Charité hat gezeigt, dass es möglich ist, durch demokratische Einbeziehung einen organisierten Aktivenkern aufzubauen.

Einer der bedeutendsten Arbeitskämpfe im Jahr 2015 war der Streik der Charité-Beschäftigten für mehr Personal im Krankenhaus. Mit dem ersten Tarifvertrag für mehr Personal im Krankenhaus in der Geschichte der Bundesrepublik hat ver.di Charité bundesweit eine Debatte in Gang gesetzt über die Zustände in deutschen Krankenhäusern. Etliche Betriebsgruppen wurden ermutigt, sich selbst auf den Weg zu machen und ver.di hat das Thema bundesweit im Rahmen der angekündigten Tarifrunde Entlastung aufgegriffen. Ver.di gesteht damit ein, dass die Strategie, Tarifverträge zum Thema zu erkämpfen erfolgreich sein und die Forderung nach einer gesetzlichen Personalbemessung ergänzen kann. Wurde diese Strategie vor Jahren noch bezweifelt, wurde sie im November 2016 auf der Titelseite der ver.di publik als Vorbild bezeichnet. An der Charité hat der Streik zu einer enormen Politisierung unter KollegInnen geführt und die Selbstaktivität der KollegInnen gefördert. Der Streik und der Abschluss an der Charité sind ein historischer Erfolg.

Neben den wichtigen Fortschritten an der Charité stach der Streik im Sozial- und Erziehungsdienst hervor (S+E). Beim S+E handelt es sich um eine der größten hauptsächlich weiblichen Berufsgruppen, deren niedrige Löhne mit rückschrittlichen sexistischen Vorstellungen über die Beschäftigten und ihre Tätigkeiten einhergehen. Etwa 50.000 KollegInnen beteiligten sich an der vierwöchigen Arbeitsniederlegung. Außergewöhnlich war, dass es vielerorts tägliche Streikversammlung gab, wo diskutiert wurde, wie der Streik weitergehen sollte. Örtliche VertreterInnen wurden zu bundesweiten Versammlungen der Streikdelegierten entsendet. In einzelnen Städten gründeten sich zu dem Solidaritätskomitees, die eine wichtige Rolle dabei spielten, die Streikenden auf örtlicher Ebene zu unterstützen. Der Streik wurde durch eine von der ver.di-Führung mitgetragene Schlichtung ausgebremst. Entgegen der Empfehlung der ver.di-Führung stimmten bundesweit über 69 Prozent der betroffenen Mitglieder gegen den Schlichterspruch und für die unbefristete Fortsetzung des Streiks. Da die Auseinandersetzung im S+E-Bereich keinen ökonomischen Druck entfalten konnte, wäre mehr Solidarität nötig gewesen. Anstatt Auseinandersetzungen miteinander zu verbinden, wurden gleichzeitig verlaufende Tarifrunden (Post, Bahn, Einzelhandel, Versicherungen etc.) von ver.di jedoch strikt von einander getrennt. Notwendig gewesen wäre eine politisch geführte gewerkschaftliche Solidaritätskampagne – im Öffentlichen Dienst und bei freien Träger mit Personalversammlungen, Protestaktionen und Solidaritätsstreiks. Auf Initiative der ver.di Linken NRW und dem Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di wurde zwar ein entsprechender Antrag beim ver.di-Bundeskongress eingebracht und angenommen. Zu einer Fortsetzung des Streiks kam es jedoch nicht. Das Problem der Eingruppierung seit der Umstellung von BAT (Bundesangestelltentarifvertrag) auf TVöD trifft viele Berufsgruppen des öffentlichen Dienstes. Ein Erfolg im S+E hätte auch einen Durchbruch für diese bedeutet, den die Bürgerlichen und der VKA (Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände) um jeden Preis verhindern mussten. Dabei spielte die ver.di -Führung, der die Partizipation der Streikenden von unten zu weit ging, eine unrühmliche, unterstützende Rolle. So schrieben wir bereits in unserer Resolution vom Dezember 2015: „Das Ergebnis war ein schlechter Kompromiss, der weit hinter den Erwartungen der Beschäftigten bleibt und zu großer Enttäuschung und ungewöhnlich hoher Ablehnung in der letztlichen Urabstimmung führte. Hier zeigte sich, dass Vernetzung, die letztlich unter der Kontrolle des Apparates stattfindet, nicht ausreicht, sondern dass der Aufbau einer bewussten kämpferischen und handlungsfähigen Opposition zur derzeitigen Gewerkschaftsführung nötig ist.“

Antirassistische Proteste

2015 ist es als Reaktion auf Pegida und in Solidarität mit Geflüchteten ebenfalls zu großen antirassistischen Protesten und einer hohen Hilfsbereitschaft für Geflüchtete gekommen. Auf dem Höhepunkt haben sich laut DIW-Studie vom 25.02.2016 36 Prozent aller Deutschen – vor allem aus der Arbeiterklasse – in der Flüchtlingshilfe engagiert. Noch viel mehr haben Geld oder Sachwerte gespendet. Das ist Ausdruck davon, dass es eine Lüge ist, dass der Mensch von Natur aus gierig und nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist. Viele haben sich in Hilfsinitiativen organisiert, eine kleinere Schicht ist in der LINKEN und Linksjugend [’solid] aktiv geworden.

2016 gab es zwei Versuche auf bundesweiter Ebene neue antifaschistische/antirassistische Strukturen aufzubauen – Jugend gegen Rassismus und Aufstehen gegen Rassismus. Beide sind weit hinter den selbst gesteckten Erwartungen zurück geblieben, was zwar auch an der objektiven Lage liegt, aber vor allen an den politischen Schwächen und Fehlern der ProtagonistInnen dieser Bündnisse. Aufstehen gegen Rassismus verzichtete auf jede politische Kritik an staatlichem Rassismus und weigerte sich die soziale Frage als notwendigen Bestandteil antirassistischer Politik aufzugreifen, um SPD und Grüne in das Bündnis zu integrieren. Deshalb sind wir nicht Teil des Bündnisses geworden, wenn wir auch kritisch-solidarisch an der bundesweiten Demonstration im September 2016 teilgenommen haben. Wir haben in unserer Kritik daran darauf hingewiesen, dass angesichts der rechtspopulistischen Gefahr durch die AfD politische Antworten auf die Fragen, mit denen die AfD punktet, dringend nötiger Bestandteil antirassistischer Gegenstrategien sein müssen und darauf, dass es unter den gegenwärtigen Bedingungen eine Illusion ist, darauf zu hoffen, dass Demonstrationen dadurch größer werden, dass man sich an SPD und Grüne anpasst. Diese Kritik hat sich bestätigt.

Wir haben auch zurecht auf eine Teilnahme an Jugend gegen Rassismus verzichtet, weil dies eine Top-Down-Initiative linksradikaler Gruppen war, die in voluntaristischer Weise am Bewusstsein von Jugendlichen vorbei, Aktionspläne aufstellte und inhaltlich vom entgegengesetzten Standpunkt – einer einseitigen Betonung der politische Kritik am kapitalistischen Staat – gemeinsame soziale Interessen unterbetonte.

Unsere Herangehensweise, eine antirassistische und antifaschistische Strategie auf Basis eines Klassenstandpunktes zu formulieren, einerseits die gemeinsame Aktion von linken und Arbeiterorganisationen in den Mittelpunkt zu stellen und andererseits soziale und politische Antworten auf die rechte Propaganda zu geben, konnten wir exemplarisch, wenn auch im Kleinen, bei dem Berliner Bündnis „Soziales Berlin für Alle“ und der Dortmunder Demonstration unter dem Motto „Es reicht!“ gegen Nazi-Gewalt umsetzen.

Anti-TTIP/CETA, blockupy, Ende Gelände

Ein wichtiger Höhepunkt der Proteste waren im selben Jahr die Proteste gegen TTIP/CETA und TISA. Am 10. Oktober 2015 gingen in Berlin eine Viertelmillion Menschen auf die Straße – die größte Demonstration seit den Protesten anlässlich der Katastrophe von Fukushima 2011. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass viele DemonstrationsteilnehmerInnen radikaler eingestellt waren als die RednerInnen der Demonstration. Leider ist aus diesen Großmobilisierungen keine Bewegung entstanden und haben sich keine großen lokalen Anti-TTIP-Bündnisse gegründet.

Auch bei den blockupy-Protesten gegen die Neueröffnung der Europäischen Zentralbank in Frankfurt/Main lag die Teilnehmerzahl mit 20.000 Menschen über den Erwartungen. Der Protest hat vor allem Jugendliche und links politisierte Menschen umfasst.

Die Themen Umwelt, Energieversorgung und Ernährung haben 2015 und 2016 ebenfalls zu großen Mobilisierungen geführt (Wir haben es satt, Ende Gelände etc). Im Bereich der Themen Umwelt/Energieversorgung bleiben die Proteste noch hinter den Großprotesten von Gorleben und der Anti-Atombewegung zurück. Trotzdem politisiert sich in ihnen eine neue Schicht von Aktiven, die sich als Teil einer weltweiten, in manchen Ländern schnell wachsenden Bewegung verstehen und oftmals selbstbewusst an Aktionen teilnehmen, die sie auch in Konflikt mit der Polizei bringen.

All diese Proteste, Streiks und Demonstrationen haben eine starkes Potential für die Linke und die Arbeiterbewegung ausgedrückt.

Bewegungen und Klassenkampf bis zu den Bundestagswahlen 2017
Arbeitskämpfe

Bereits 2016 gab es eine Abnahme von Kämpfen und Streiks. Der Blick hat sich von der betrieblichen Ebene und sozialen Bewegungen auf die politische Ebene verlagert. Das wird sich auch 2017 fortsetzen. Der wesentliche Grund dafür ist, dass die Gewerkschaftsführungen im Wahljahr 2017 versuchen werden, den Frieden zu wahren oder Betriebsräte wie im Falle von VW Stellenabbauplänen zustimmen. Die tieferen Ursachen, die 2015 zu Streiks geführt haben, wirken fort, aber im Jahr der Bundestagswahlen ist mit weniger Streiks zu rechnen. Eine wichtige Ausnahme bilden mögliche Streiks im Krankenhaus für mehr Personal und Entlastung. Natürlich können Zuspitzungen auch in anderen Tarifauseinandersetzungen nicht ausgeschlossen werden. So sollten wir zum Beispiel die Tarifrunde im Einzelhandel, bei der es um die Frage einer neuen Entgeltordnung geht, im Blick behalten.

Die Lage sich bei einem erneuten ökonomischen Einbruch schnell ändern. Das muss nicht unmittelbare Angriffe bedeuten, aber kann zu einer enormen Politisierung führen über die Frage, wer für die Krise verantwortlich ist und wer dafür bezahlen muss. Sollte es nicht dazu kommen, sind im Jahr der Bundestagswahlen und Wahlen in drei Bundesländern 2017 keine großen allgemeinen Angriffe auf die Arbeiterklasse zu erwarten. Trotzdem steigt der Druck kontinuierlich und kommt es in verschiedenen Bereichen zu Verschlechterungen.

Erstens wird sowohl das Argument der „Modernisierung“ durch die sogenannte Industrie 4.0 als auch die altbekannte Drohung der Verlagerung ins Ausland von Unternehmern genutzt, um den Druck auf Beschäftigte und Gewerkschaften zu erhöhen, Flexibilisierung, Lohnverzicht und Arbeitszeitverlängerung zuzustimmen (zum Beispiel Telekom und Lufthansa Technik). Zweitens schreitet die Prekarisierung im Zuge von Outsourcing voran. Drittens nimmt das Union Busting neue Formen an, wie wir beispielsweise bei den Median-Kliniken gesehen haben, wo der Klinikbetreiber bei Lohnverhandlungen die Gewerkschaften umgehen und flexible Lohnabschlüsse mit Betriebsräten vereinbaren will. Viertens ist in einer Reihe von Betrieben weiterer Stellenabbau geplant (Kaisers Tengelmann, Airberlin, MAN, Commerzbank, Bombardier, Zumtobel, Goodgame Studios), um Wettbewerbsbedingungen zu verbessern und/oder Überkapazitäten abzubauen. Am weitesten geht der Stellenabbau bei VW. Hier sollen 30.000 Stellen – davon 23.000 in Deutschland – vor allem durch Altersteilzeit und Abbau von Leiharbeit gestrichen werden. Gleichzeitig ist jedoch der Stand offener und neuer Stellen von 450.000 (2013) auf rund 650.000 (2016) gewachsen. Allein 2016 kamen 100.000 neue offene Stellen dazu (Statistisches Bundesamt).

Bisher ist nicht davon auszugehen, dass sich aus diesen Bereichen vor den Bundestagswahlen eine bundesweite oder verallgemeinerte Dynamik für betrieblichen und gewerkschaftlichen Widerstand ergibt. Die meisten betrieblichen Kämpfe finden derzeit in prekarisierten Bereichen statt. Hintergrund dafür ist die Zunahme vieler Bereiche ohne Tarifbindung. Daraus folgen zunehmend Kämpfe für Tarifverträge wie bei CFM, Vivantes-Tochterunternehmen oder Amazon. Hierbei handelt es sich oft um sehr lange und schwierige Auseinandersetzungen aufgrund von Befristungen, Repression, Angst und dem Einsatz von Streikbrechern. Zudem kam es in manchen Betrieben wie bei Bombardier zu Arbeitsniederlegungen wegen Stellenabbau oder bei Zumtobel wegen Werksschließung. Im Bundestagswahljahr ist nicht mit einer Zuspitzung der Tarifrunde der TV-L-Beschäftigten zu rechnen. Auch bei der Bahn setzt die GDL (und auch die EVG) von Beginn an auf Verhandlungen. Weselsky sagte dem Tagesspiegel im September: „Alle Seiten haben ihre Lehren aus dem letzten Tarifstreit gezogen.“ Am ehesten kann die Tarifbewegung Entlastung und für mehr Personal im Krankenhaus Schwung in die gewerkschaftliche und betriebliche Auseinandersetzung bringen.

Ver.di hat für die Tarifrunde Entlastung einen bundesweiten Steuerungskreis aus Haupt- und Ehrenamtlichen gebildet und fordert dazu auf, nach dem Vorbild der Charité, Tarifberaterstrukturen zu gründen. Dies findet derzeit in einer Vielzahl von Bundesländern statt. Entscheidend wird sein, was an einzelnen Häusern wie Vivantes oder in Bundesländern wie im Saarland passiert und ob sich daraus eine Welle von Tarifkämpfen entwickelt. Ver.di Saar hat die Arbeitgeber von 21 Krankenhäusern im Saarland zu Tarifverhandlungen aufgefordert. Wenn es im Saarland zu Streiks und möglichen Erfolgen kommen sollte, hätte das den Charakter eines politischen Streiks und eine starke Wirkung auf KollegInnen bundesweit, die bereits Tarifberaterstrukturen und Solidaritätsbündnisse in ihren Orten aufgebaut haben und in den Startlöchern stehen. Wenn der Druck von unten wächst, ist es auch möglich, dass die Bundesspitzen von ver.di und VKA ein Interesse daran haben, die Auseinandersetzung auf die Bundesebene zu heben.

TTIP/CETA

Das Potential für große Proteste gegen die Freihandelsabkommen TTIP, CETA und TISA ist weiterhin gegeben. Die Verhandlungen zwischen EU und USA über TTIP wurden vor den US- Präsidentschaftswahlen aufgrund unterschiedlicher Interessen und der Angst die Gegenseite zu übervorteilen auf Eis gelegt. Ob es zu einer Wiederaufnahme davon kommt, ist nach der Wahl Trumps offen. Die Bundesregierung hat kein Interesse daran, das Projekt vor den Bundestagswahlen wieder aufzugreifen. Möglicherweise begnügen sie sich damit, CETA auf den Weg gebracht zu haben. Doch auch hier können die Proteste zu einem späteren Zeitpunkt erneut entflammen, dies ist aber eher eine Möglichkeit in der mittel- und lang- und nicht in der kurzfristigen Perspektive.

Mieterkämpfe

Da Wohnraum und Boden immer mehr zum Objekt von Kapitalverwertung und Immobilienspekulation wird steigen die Mieten in vielen Städten extrem schnell. Durch Abriss/Neubau und Modernisierungsvertreibung verlieren immer mehr MieterInnen ihre Wohnungen. Während die Wohnungsnot wächst, gibt es einen hohen spekulativen Leerstand bei Wohnungen, Büros und anderen Gewerbeflächen. Das hat dazu geführt, dass sich in vielen Städten Mieter in Mieterinitiativen organisieren, in Stadtteilen Gegenwehr stattfindet gegen Gentrifizierungsprozesse und Modernisierungsvertreibung. Der Widerstand gegen den Mietenwahnsinn beinhaltet auch Besetzungsaktionen, Blockaden gegen Zwangsräumungen und andere Aktionen des Zivilen Ungehorsams. Es hat sich eine Schicht von Mieteraktivisten herausgebildet, die weiter zunimmt. Hier kämpfen MieterInnen unabhängig von Nationalität und Religion gemeinsam für ihre Interessen. Das ist auch ein Mittel gegen Vorurteile und Rassismus.

Antirassismus

Der Höhepunkt der antirassistischen Proteste gegen Pegida und Co fand 2015 statt. Mit dem Niedergang der Pegidabewegung sind auch die antirassistischen Proteste etwas kleiner geworden. Wenn Nazis demonstrieren gibt es jedoch weiterhin das Potential für große Gegenproteste. Immer wieder kommt es zu großen lokalen Mobilisierungen gegen Nazis oder Rechtspopulisten, so zum Beispiel im Mai 2016 in Berlin, wo 12.000 Menschen gegen die zweite „Merkel-muss-weg“-Demo protestierten oder im Februar 2017, als in Münster 8000 Menschen gegen einen Auftritt der AfD-Vorsitzenden Petry auf die Straße gingen. Auch 2017 wird es viele Anlässe für solche Mobilisierungen geben. Ob sie erfolgreich sind, hängt vor allem vom Agieren der wesentlichen Akteure der antirassistischen Bewegung, nicht zuletzt der LINKEN und der Gewerkschaften, ab. Hinsichtlich von Protesten gegen die AfD, erscheint es zwar schwerer, diese durch Proteste zu stoppen, was Mobilisierungen erschweren kann. Die Radikalisierung von Teilen der AfD nach rechts hat aber andererseits das Potenzial für Gegenmobilisierungen wieder erhöht.

G20

Im Juli 2017 findet der G20 Gipfel in Hamburg statt. Die radikale Linke bereitet sich bereits Ende 2016 auf Gegenproteste vor. Diese werden in jedem Fall eine Anziehungskraft auf Jugendliche und die radikale Linke entwickeln. Da auch Trump und Erdogan an dem Gipfel teilnehmen, ist mit einer großen Beteiligung aus der türkisch-kurdischen Community zu rechnen als auch damit, dass die Proteste einen stärkeren antirassistischen Charakter erhalten. Es werden Zehntausende TeilnehmerInnen erwartet.

Bildungsproteste

Zwar gibt es im Gegensatz zu den früheren Bildungsprotesten keine neuen großen Aufreger mehr wie Turboabitur, Bachelor/Master-System, Engpässe durch doppelte Abiturjahrgänge, jedoch staut sich der Unmut über die seit langem nicht gelösten Probleme im Bildungssystem auf und hat das Potential, sich in neuen Protesten zu entladen. Die OrganisatorInnen des Bündnisses „Lernfabriken meutern“, das sich im November gegründet hatte und Demonstrationen und Bildungsstreiks organisieren wollte, scheint das Potential aufgrund seiner Schwächen und Methoden nicht ausschöpfen zu können. Eine verallgemeinerte bundesweite Bewegung ist bisher nicht abzusehen.

Klima

Im Sommer 2017 werden wieder tausende AktivistInnen die Kohleförderung im Rheinland behindern und während der UN-Klimakonferenz im November in Bonn protestieren. Führende Organisationen dieser Bewegung verstehen sich als antikapitalistisch. Dabei haben sie oftmals keine echten Alternativkonzepte, stattdessen betreiben sie Konsumkritik.

Doch auch wenn die Ausgangsbasis für Gegenwehr und Widerstand 2017 nicht auf demselben Niveau liegt wie 2015, ist der Trend nicht vom Klassenkampf zurück in die Käseglocke, sondern von Instabilität und Polarisierung geprägt. Die Polarisierung drückt sich zwar derzeit vor allem rechts aus, aber Gegenreaktionen sind in der jetzigen Situation und Stimmung angelegt. Auch internationale Entwicklungen wie beispielsweise in der Türkei und den USA können jederzeit zu Großprotesten führen. Das Potential für Widerstand und Solidarität, dass wir 2015 gesehen haben, ist nicht verschwunden, sondern wird derzeit nur weniger abgerufen und mobilisiert.

2016 und 2017 im Vergleich zu 2015:

► Entwicklung der AfD, Nazis, Bewusstsein und das Potential für LINKE und Gewerkschaften

Trotzdem stellen sich viele die Frage, ob es im Jahr 2017 – angesichts weniger Kämpfe, Erfolgen der AfD, dem Anschlag am Breitscheidplatz, einem Anstieg von rechtem Terror und einer unzureichenden Reaktion von LINKE und Gewerkschaften – zu einer Rechtsverschiebung kommen kann.

Die Flucht verzweifelter Menschen in die EU und von 890.000 Menschen nach Deutschland in 2015 hat zum einen zu einer Welle von Solidarität geführt (im Jahr 2016 waren es 280.000). Zum anderen haben AfD, CSU und Nazis Ängste vor Zuwanderung geschürt und für ihre rassistische Propaganda genutzt. Unter dem Druck der CSU und den Erfolgen der AfD bei verschiedenen Landtagswahlen ist Merkels CDU von ihrem oberflächlichen „Wir schaffen das“ zu „Deutschland wird Deutschland bleiben, mit allem was uns lieb und teuer ist“ und mehr staatlichem Rassismus übergegangen. Das zeigt sich auch bei der Positionierung des CDU-Bundesparteitags 2016 für das Burkaverbot und gegen die doppelte Staatsbürgerschaft.

Die Spannungen in der Union haben erheblich zugenommen. Die Positionierung des CDU-Bundesparteitags 2016 gegen die doppelte Staatsbürgerschaft entgegen des Wunsches von Merkel macht das deutlich. Die herrschende Politik hat sich weiter nach rechts verschoben. Asylrechtsverschärfungen werden von SPD und Grüne zum Großteil mitgetragen. Auch die Erweiterung des Befugnisse von Frontex und die Ausweitung der sogenannten sicheren Herkunftsstaaten sind in diesem Zusammenhang zu sehen.

Der Terroranschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt Ende 2016 und die Verunsicherung in der Bevölkerung wurden von der Bundesregierung geschickt ausgenutzt, um Druck für schnellere Abschiebungen, eine Ausweitung von Überwachung und weitere Maßnahmen zu machen. Dass sie damit derzeit auf Zustimmung in der Bevölkerung stößt, hat sich an der Akzeptanz des Polizeieinsatzes in der Kölner Silvesternacht 2016 gezeigt. Das Thema Innere Sicherheit droht zum Hautpthema im Bundestagswahlkampf zu werden.

► AfD im Aufschwung

Die Landtagswahlen 2016 waren ein Erfolg für die AfD. Seit der Durchsetzung der rechtsnationalistischen Kräfte um Petry/Gauland gegen den professoralen Lucke, wurde die AfD für breitere Schichten zum Instrument, ihre Wut auf das Establishment und ihre Ängste zum Ausdruck zu bringen. Die AfD ist vor allem Ausdruck der Radikalisierung der Mittelschicht, verzeichnet aber Wählerzugewinne aus allen Schichten – sowohl vom Abstieg bedrohten KleinbürgerInnen, gut situierten ehemaligen CDU-WählerInnen als auch Erwerbslose und ArbeiterInnen. Die Ursachen für die Erfolge der AfD liegen in der neoliberalen Politik und des staatlichen Rassismus der etablierten Parteien, dem Versagen der Führungen der Arbeiterbewegung und der sozialen Unzufriedenheit und Abstiegsängsten begründet, die vor allem im Osten und im ländlichen Raum größer sind. Letzteres hängt auch mit einer etablierten LINKEN in Ostdeutschland und einer schwachen LINKEN und Linken im ländlichen Raum zusammen. Der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt hat die AfD bisher nur leicht gestärkt, die von ihr geschürte rassistische Hysterie hat nicht in der Breite verfangen. Das kann sich mit weiteren möglichen Anschlägen ändern.

Die Hinzugewinne für die AfD drücken teilweise, aber nicht nur, etwas Neues aus. Ein gewisses Potential für rechte Kräfte gibt es zum Beispiel in Westdeutschland schon lange. Dieses wurde meist von CDU/CSU gebunden, kam aber auch manchmal – wie in Baden-Württemberg 1992 und 1996 – den Republikanern mit 10,9 und 9,1 Prozent zu Gute. Aber auch in Ostdeutschland gab es in den vergangenen Jahren bereits hohe Ergebnisse für die DVU in Sachsen-Anhalt (12,9 Prozent in 1998) oder die NPD in Sachsen (9,2 Prozent in 2004) und Mecklenburg-Vorpommern (7,3 Prozent in 2006).

Diejenigen, die heute AfD wählen, sind sich des Programms der AfD zu Geflüchteten bewusst. Ein Teil wählt die AfD aufgrund dieses Programms. Ein anderer Teil wählt die AfD, um ihren Protest gegen die etablierten Parteien auszudrücken und nimmt das Programm der AfD zu Geflüchteten in Kauf. Auch wenn wir die Gefahr wahrnehmen müssen, dass sich die Position der AfD-WählerInnen rechts verfestigt, gibt es einen Teil unter ihnen, die vor allem davor Angst haben, dass die Geflüchteten den Druck auf die Löhne steigern, ihnen den Kita-Platz für ihr Kind oder die Wohnung wegnehmen. Diese Angst vor weiterer Zuwanderung ist – wie wir auch in Großbritannien um das Brexitvotum gesehen haben – von Verwirrung und Vorurteilen geprägt und wird durch die Praxis im Umgang mit Geflüchteten verstärkt. Nicht alle mit Angst vor Geflüchteten und Zuwanderung, haben rassistische Einstellungen.

Unsere Einschätzung des Charakters der AfD hat sich bestätigt. Auch wenn sie weiter nach rechts gerückt ist und einige Faschisten in ihren Reihen hat, ist sie ist nicht faschistisch. Die Ausschlüsse von Faschisten im Saarland und eines Faschisten aus der AfD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus und nun auch aus der Partei weisen darauf hin, dass die Parteispitze weiter darum bemüht ist, kein faschistisches Image zu bekommen, um breitere Wählerschichten anzusprechen. Gleichzeitig bedienen sich einige ihrer Kader immer wieder eines Nazijargons, um auch Faschisten an sich zu binden. Zudem wirkt die AfD in der jetzigen Situation als geistige Brandstifterin für faschistische und rassistische Übergriffe und ermutigt die Naziszene.

Politisch greift die AfD weniger soziale Themen auf als zum Beispiel der Front National in Frankreich. Letzterer versucht gezielt mit sozialer Rhetorik die Arbeiterschaft anzusprechen und sich in der Tendenz moderater zu geben. Die AfD greift zwar teilweise soziale Forderungen auf, aber im Kern ist ihr Programm neoliberal und nicht darauf ausgerichtet, breitere Teile der Arbeiterklasse, mit einem demagogisch „sozialen“ Programm an sich zu binden. Das hängt auch mit dem Führungspersonal der AfD zusammen, das aus einer Mischung aus ehemaligem Adel, Bürgertum und Kleinbürgertum besteht. Nicht wenige der Mandatsträger der AfD sind Unternehmer.

Die Polarisierung in der AfD um den richtigen Kurs zwischen dem Rechtsaußenflügel um Höcke, Meuthen und Gauland einerseits und Petry und Pazderski andererseits besteht weiter. Diese basieren nicht nur auf politischen Differenzen, sondern auch auf Machtansprüchen. Derzeit wird die AfD durch ihre Wahlerfolge erstmal weiter zusammengehalten. Dies wird sich mit den zu erwartenden weiteren Wahlerfolgen bei den Landtagswahlen und den Bundestagswahlen weiter fortsetzen. Trotzdem ist die AfD in der Realität politisch instabil und Niederlagen in der Zukunft können zu Zerreißproben führen.

► Entwicklung der Nazis: Militanter auf der Straße, Verluste bei Wahlen

Die Naziszene wird aufgrund des Erfolgs der AfD und der Zunahme des staatlichen Rassismus durch Union, SPD und Grüne selbstbewusster und militanter. Diese Militanz schlägt sich vor allem in einer Zunahme von Gewalttaten und weniger in kollektiven Großaufmärschen nieder. Laut Zahlen des Bundesinnenministeriums hat die Polizei zwischen Januar und September 2016 507 Fälle fremdenfeindlicher Gewalt erfasst. Es kam zu mehr als 1800 Straftaten gegen AsylbewerberInnen und Geflüchteten. Das ist ungefähr eine Verdoppelung gegenüber den Zahlen aus dem Vorjahr. Die faschistischen Übergriffe in Bauzen und Köthen sind Ausdruck der Bedrohungslage.

Die Gida-Bewegungen hatten 2015 ihren Höhepunkt und sind 2016 zurück gegangen. Pegida und ihre Ableger mobilisierten nicht nur, aber vor allem Mittelschichten, die angesichts der weltweiten Krise in den Abgrund schauen. Wie in der AfD ist es auch bei Pegida zur Spaltung und einer Rechtsentwicklung gekommen. In vielen Städten wurden die regelmäßigen Demonstrationen mangels TeilnehmerInnen eingestellt. In nennenswerter Anzahl mobilisiert Pegida nur noch in Dresden den Kern ihrer AnhängerInnen, die mit 1500 bis 2500 TeilnehmerInnen (Stand Januar 2017) weiterhin eine ernste Bedrohung darstellen. Auch die HoGeSa-Bewegung ist geschwächt. Nach zahlreichen Spaltungen kamen beispielsweise zu dem Aufmarsch von „Gemeinsam stark Deutschland“ (GSD) am 8.10. in Dortmund deutlich weniger Nazis und Hooligans als erwartet. „Die Rechte“ und die sogenannten „Autonomen Nationalisten“ konnten trotz verstärkter Bemühungen ihr Mobilisierungspotential nicht qualitativ steigern. Trotzdem ist auch hier keine Entwarnung angesagt.

Während Nazis militanter werden, haben sie auf der Wahlebene (und auch bei manchen Großmobilisierungen) mit Problemen zu kämpfen. Ein Teil der bisherigen NPD-WählerInnen wählt nun die AfD, die weniger nazimäßig wirkt. In Mecklenburg-Vorpommern konnte die NPD bei den Landtagswahlen 2016 nur noch StammwählerInnen mobilisieren (3 Prozent), in Niedersachsen erhielt sie bei den Kommunalwahlen 2016 nur noch die Hälfte der Stimmen. In Berlin halbierte sie ebenfalls ihren Stimmenanteil und kam nur noch auf 0,6 Prozent und Pro Deutschland auf 0,4 Prozent. Die Verluste können im Endeffekt zu einem erneuten Strategiewechsel bei den Nazis führen, die wieder stärker auf Straßenmobilisierung und direkte Angriffe setzen als auf die Wahlebene, da diese derzeit von der AfD besetzt ist.

► Bewusstsein: Angst vor sozialem Abstieg nimmt zu

Sowohl die prekarisierten Teile der Arbeiterklasse als auch jene, denen Lohnsteigerungen zuteil geworden sind verspüren Ängste. Hinzu kommen die Abstiegsängste des Kleinbürgertums. Laut Allensbachumfrage von September 2016 fürchten 60 Prozent, dass mit den Geflüchteten auch Anhänger von Terrororganisationen nach Deutschland kommen. Interessant ist jedoch, dass das größte Risiko für die Zukunft des Landes für die Befragten nicht von Geflüchteten oder terroristischen Anschlägen, sondern von der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich ausgeht. 68 Prozent „sehen darin in den nächsten zehn Jahren große Gefahren für die weitere Entwicklung Deutschlands“. Der größte Wunsch von Befragten ist – und das ist vor allem der Wunsch der Arbeiterklasse – von Arbeit auch leben zu können.

Dieses Ungerechtigkeitsgefühl hat sich eine Zeitlang vor allem gegen „die da Oben“, die Reichen, die Banken und Großkonzerne gewendet. Die Gefahr wächst nun, dass diese berechtigte Wut sich nun stärker gegen Geflüchtete richtet. Nach dem Terroranschlag in Berlin ist keine Hysterie und Panik entstanden, aber die Verunsicherung und Offenheit für repressive Maßnahmen ist gestiegen. So wuchs die Zahl derjenigen, die sich eine Obergrenze für Asylsuchende wünschen, von 62,7 auf 67 Prozent (Insa-Umfrage, 23.12.2016). 73 Prozent sind für die Aufstockung von Polizeikräften, 60 Prozent für eine stärkere Videoüberwachung und 50 Prozent für mehr Kompetenzen für die Bundeswehr (YouGov- Umfrage für dpa, 21.-23.12. 2016). Viele sehen erst mal keine Alternative zu mehr Überwachung, um Terroranschläge oder sexistische Übergriffe zu verhindern. Wir sind mit unseren Positionen gegen Abschiebungen, Überwachung und racial profiling in der Minderheit und müssen diese – wie beispielsweise in der Debatte um den Kölner Polizeieinsatz zum Jahreswechsel 2016/2017 – geduldig erklären.

Treffend hielten wir in der Resolution der Bundeskonferenz vom Januar 2015 fest: „Es ist eine weltweite Erscheinung, dass die Verhältnisse als ungerecht betrachtet werden und der Unmut auf die etablierten Institutionen, Banken, Finanzmärkte, aber auch auf die politischen Eliten und Kapitalisten im allgemeinen zunimmt. Die Entfremdung von den etablierten Parteien und Institutionen, die wir seit vielen Jahren beobachten können, setzt sich fort. Das lässt ein politisches Vakuum entstehen, das von der Arbeiterbewegung und der Linken gefüllt werden kann, wenn sie eine richtige Politik betreiben. Gleichzeitig sehen wir eine Polarisierung, da rechte Kräfte Teile der Mittelschichten und auch solche Teile der Arbeiterklasse erreichen können, die ein niedriges Klassenbewusstsein haben – vor allem wenn die Linke versagt.“

Das hat sich bestätigt. In der vom Bundesvorstand beschlossenen Resolution von Dezember 2015 haben wir festgestellt: „Dabei ist das Bewusstsein in der Arbeiterklasse und der Bevölkerung insgesamt extrem unterschiedlich, widersprüchlich und im Fluss. Das Gefühl, dass die Welt immer mehr aus den Fugen gerät und die Auswirkungen davon nun auch die Menschen in der Bundesrepublik betreffen, hat in den letzten Monaten zweifellos zugenommen. Das muss zwangsläufig zu Abwehr- und Verteidigungsreaktionen im Denken der Menschen führen, die ihre Lebenssituation durch diese Entwicklungen diffus bedroht sehen. Da dies aber immer noch vor dem Hintergrund einer relativ stabilen ökonomischen und haushaltspolitischen Situation geschieht, gibt es zwar eine Zunahme, aber weiterhin relativ wenige, und vor allem keine verallgemeinerten, Klassenkämpfe und Situationen, in denen ArbeiterInnen, Erwerbslose und Teile der Mittelschichten sich durch akute Maßnahmen der Herrschenden stark angegriffen fühlen. Das führt bei einem Teil dazu, dass sich ihr Denken und ihre Angstgefühle – auch aufgrund der bürgerlichen Medien, des staatlichen Rassismus und der Hetze der AfD – auf die Flüchtlingsfrage und die angebliche Terrorgefahr stärker fokussieren. Gleichzeitig kann vor allem die AfD sich als Anti-Establishment-Partei trotz ihrer bürgerlichen Politik aufstellen und davon profitieren, dass die Regierungsparteien keine Lösung anbieten und DIE LINKE immer mehr als Partei wie jede andere gesehen wird.“

Genau das ist geschehen. Und trotzdem ist das Bild eher von Polarisierung als von einer einseitigen Rechtsverschiebung geprägt. Laut Allensbachumfrage halten ebenfalls 68 Prozent die „steigende Fremdenfeindlichkeit“ für einen großen Risikofaktor. Beim „Deutschlandtrend“ von Oktober 2016 wurde sogar deutlich, dass die Gefahr von Rechts als am größten eingeschätzt wird: „84 Prozent der Befragten halten die Gefahr von rechtsextremen Anschlägen oder Übergriffen für eher oder sehr groß.“ Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass es einen Großteil von NichtwählerInnen gibt, die ihren Protest nicht durch Wahl der AfD zum Ausdruck bringen (aber eben auch nicht DIE LINKE wählen). Das alles sind Zeichen dafür, dass es keine stark verfestigten rassistischen Vorstellungen sondern vor allem Vorurteile und Ängste gibt, die von einer klassenkämpferischen Massenkraft aufgebrochen werden könnten. Sollte es zu einem erneuten Kriseneinbruch kommen, kann sich die Debatte auch schneller wieder gegen die herrschende Klasse richten.

Offenheit für sozialistische Positionen

Wie wir schon in vergangenen Jahren geschrieben haben, zeigen verschiedene Umfragen immer wieder überraschende Ergebnisse über die Offenheit gegenüber sozialistischen Ideen. In einer Umfrage von YouGov von Anfang 2016 gab es folgende Ergebnisse: „45 Prozent der Befragten hierzulande haben eine positive Meinung zum Sozialismus, 26 Prozent eine negative. Beim Kapitalismus liegt die Sache genau umgekehrt: Jeder Vierte (26 Prozent) hat eine positive, knapp die Hälfte (47 Prozent) der Befragten eine negative Meinung. Einen Altersunterschied gibt es in Deutschland allerdings nicht. Jene Generationen, die den „real existierenden Sozialismus“ der DDR noch mitbekommen haben, sehen Sozialismus und Kapitalismus im Prinzip genauso wie die nach der Wende geborenen.“

Verschwörungsideologien – und theorien

Dass das Bewusstsein widersprüchlich ist, zeigt sich auch an der wachsenden Popularität von Verschwörungsideologien und -theorien. Während das Problem in bürgerlichen Medien rein auf „postfaktische“ Uninformiertheit oder auf den Aufstieg des Internets zurückgeführt wird, ist unsere Analyse, dass diese ebenfalls ein Symptom der Kombination eines allgemeinen niedrigen Klassenbewusstseins mit einer beträchtlichen Entfremdung von der etablierten Politik sind. Verschwörungsideologien und -theorien drücken einerseits das nachvollziehbare Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen und bürgerlichen Medien aus. Andererseits ist ihre Verbreitung dadurch möglich, dass sich in der aktuellen politischen Situation viele Menschen auf die Suche nach Antworten und Lösungen begeben und Organisationsstrukturen und Diskussionszusammenhänge der ArbeiterInnenklasse nur rudimentär vorhanden sind, die diesem Bedürfnis gerecht werden können. Nichtsdestotrotz sind Verschwörungsideologien und -theorien gefährlich und falsch – wir lehnen die Idee, dass der Kapitalismus an sich gut sei und nur von Verschwörungen gesäubert werden müsse ebenso ab wie die, dass eine geschlossene Elite die Kontrolle über ihn hat: Dieses System hat seine eigenen wirtschaftlichen und historischen Gesetzmäßigkeiten, denen auch die Kapitalisten unterliegen, und diese sind selbst gespalten ob der richtigen Strategie. Diese Theorien fördern Misstrauen und Entsolidarisierung und führen nicht zu einem Verständnis davon, dass Organisieren und Kämpfen erfolgreich sein kann. Verschwörungsideologien stehen daher nicht zufällig häufig in Verbindung zu rechten Ideologien. Das zeigen die vielen „Reichsbürger“-Vorfälle der letzten Monate und auch deren Verbreitung durch AfD-Mitglieder. Dennoch sind AnhängerInnen von Verschwörungsideologien nicht unbedingt rechts. Wir lehnen aber pseudolinke Verschwörungstheorien ab, die z.B. Massenbewegungen, deren Teilnehmer- Innen zweifellos ein widersprüchliches Bewusstsein haben, auf von imperialistischen Stiftungen etc. inszenierte „Farbenrevolutionen“ reduzieren. Wenn es in Zukunft zu mehr Klassenkämpfen und einer Reorganisation der ArbeiterInnenklasse kommt, können Verschwörungsideologien zugunsten eines breiten antikapitalistischen Bewusstseins zurückgedrängt werden. Aber es bedarf auch jetzt eines konsequenten Umgangs mit diesem Symptom. Insbesondere bekämpfen wir solche Verschwörungsideologien und -theorien, die ohnehin schon diskriminierte Minderheiten dämonisieren.

Bewusstsein unter Jugendlichen

Unter Jugendlichen geht die Politisierung eher nach links, wenn auch nicht an den klassischen sozialen Themen (Zeit Campus-Studie). Jugendliche sind bei antirassistischen Protesten überrepräsentiert, weitere wichtige Themen für Jugendliche sind Krieg, Umwelt, Feminismus und LGBTIQ. Aus Angst vor der AfD wählen mehr Jugendliche DIE LINKE. 2016 ist die Zahl der Unter-35-Jährigen, die Mitglied der LINKEN geworden sind, angestiegen. Dazu kam Ende 2016 auch der Trump-Effekt. So traten in der ersten Woche nach den US-Wahlen 314 Neumitglieder in die LINKE ein, davon zwei Drittel unter 35 Jahren.

Bei den U18 Umfragen vor der Berliner Abgeordnetenhauswahl 2016 wurde klar, dass die AfD bei Jugendlichen keine große Chance hat. Sie kam lediglich auf 3,9 Prozent. Besonders stark punkten hier aber die Grünen mit 21,4 Prozent vor der LINKEN mit 10,4 Prozent (Berliner Zeitung, 9.9.2016)

Die Sinus-Studie „Generation What?“ (veröffentlicht am 2.11.2016) zu Einstellungen unter Jugendlichen, fand heraus, dass „junge Deutsche mehrheitlich weltoffen sind und nationalistische Tendenzen ablehnen. Immerhin drei Viertel der Befragten nehmen einen Trend zum Nationalismus in Europa wahr. Ein Großteil sieht den kritisch – nur 12 Prozent der Befragten finden diese Entwicklung positiv. Bemerkenswert ist auch die Meinung der jungen Bevölkerung gegenüber Migranten und Flüchtlingen. (…) Zuwanderung wird nicht als Bedrohung gesehen, sondern es wird wirklich als Bereicherung der kulturellen Vielfalt im eigenen Land betrachtet. Immerhin drei von vier Befragten sind dieser Meinung, 22 Prozent sehen das anders.“ (Deutschlandfunk, 16.11.2016)

Dieselbe Studie belegt, dass 71 Prozent der Jugendlichen in Deutschland kein Vertrauen in die deutsche Politik haben. Nur ein Prozent gab an, der Politik „völlig zu vertrauen“. Auch das Vertrauen in die Medien und religiöse Institutionen ist sehr gering. Diese Ablehnung der etablierten Politik geht aber nicht mit einer Politikverdrossenheit einher. Mehr als die Hälfte der Befragten gab an, bei einer politischen Organisation mitarbeiten zu wollen, siebzig Prozent würden dies bei einem Hilfswerk oder einer NGO tun. Das wirft die Frage auf, ob eine gewisse Anti-Parteien-Haltung, welche wir in den letzten Jahren unter Jugendlichen vermehrt feststellten, zurück geht. Die weltweite Instabilität und infolgedessen auch einzelne Ereignisse wie z.B. die Trump-Wahl bewirken besonders bei jungen Menschen das Gefühl, irgendwo aktiv werden zu müssen, um etwas gegen den Wahnsinn zu tun.

Auch in den Gewerkschaften ist seit 2010 – gegenüber einer negativen Entwicklung in den Jahren davor – ein Aufwärtstrend beim Mitgliederzuwachs von Beschäftigten unter 27 zu verzeichnen. So sind z.B. 43 Prozent der 2016 neu eingetretenen IG-Metall-Mitglieder junge Beschäftigte bis 27 Jahre und die IG Metall bleibt damit mit rund 234.000 Mitgliedern eine der größten Jugendorganisationen in Deutschland (IGM-Jahrespressekonferenz 2017)

►Potential für LINKE und Gewerkschaften besteht, bleibt aber weitgehend ungenutzt

Das Potential für DIE LINKE und Gewerkschaften ist weiterhin vorhanden. Das wurde 2016 bei mehreren Gelegenheiten deutlich. Wir sollten die Zahl von 320.000 Menschen, die am 17.09. gegen CETA und TTIP protestiert haben, nicht unterschätzen. Zudem kam es auch 2016 zu antirassistischen Mobilisierungen. Es ist eher so, dass das vorhandene Potential derzeit nicht oder nur unzureichend abgerufen wird.

Doch die gesellschaftliche Polarisierung besteht weiter. Gäbe es einen Bernie Sanders oder Jeremy Corbyn, der die soziale Frage in den Mittelpunkt stellt und zu einer Bewegung gegen das obere Prozent aufruft, würde dies auch in Deutschland eine Basis finden – wenn auch vielleicht nicht ganz so stark wie in den USA und Großbritannien aufgrund der höheren Intensität von sozialen Kämpfen und den stärkeren Auswirkungen der Wirtschaftskrise in diesen Ländern. Der neue SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz ist nicht mit Jeremy Corbyn oder Bernie Sanders vergleichbar, da Schulz in der Realität Teil des Establishments ist. Aber die sehr schnell gewachsene Zustimmung in der Bevölkerung für die SPD aufgrund von Schulz, der im Gegensatz zur realen Politik der SPD der letzten Jahre das Thema soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt rückt, ist ein verzerrter Ausdruck des Potentials, dass eine echte starke linke Alternative mobilisieren könnte. Wenn die Gewerkschaften wollten, könnten sie im Wahljahr 2017 Zehntausende bis Hunderttausende an der Rentenfrage mobilisieren oder zur Forderung nach mehr Personal im Krankenhaus bundesweit koordinierte Streiks auf die Beine stellen. Auch für große Mobilisierungen gegen Rassismus, aber auch gegen Sexismus und für sexuelle Selbstbestimmung, gibt es ein Potential.

Damit existieren Chancen für DIE LINKE und Gewerkschaften, die Stimmung gegen die herrschende Klasse zu wenden und die soziale Frage in den Mittelpunkt zu stellen. Wenn diese jedoch nicht genutzt werden und verallgemeinerte Kämpfe erstmal ausbleiben und gleichzeitig die Erfolge der Rechten, staatlicher Rassismus, antimuslimischer Rassismus zunehmen, kann die Ausgangslage 2017 schwieriger werden. Durch die unzulänglichen Reaktionen der LINKEN und der Gewerkschaften erleben wir, wie Zukunftsängste gerade vor allem von rechts besetzt werden. Die Gefahr der Spaltung der Arbeiterklasse entlang religiöser und nationaler Linien kann sich mit möglichen Terroranschlägen weiter verschärfen.

Doch die Situation ist offen. Da die Polarisierung und die Kampfbereitschaft weiter vorhanden ist, kann sich der Wind auf der Basis neuer ökonomischer oder politischer Entwicklungen auch schneller wieder drehen und die Arbeiterbewegung wieder in die Offensive bringen.

Entwicklung DIE LINKE und Linksjugend [’solid]

Der LINKE-Parteitag in Magdeburg hat die Rechtsverschiebung der Partei etwas gebremst. Die ReformerInnen konnten sich weder politisch noch personell mit ihren Vorschlägen durchsetzen. Der linke Flügel wurde bei den Wahlen zum Parteivorstand leicht gestärkt. Trotzdem wurde die Anpassung der Partei insgesamt nicht aufgehalten oder gar umgekehrt. Das hat verschiedene Gründe: Erstens gibt es an den zwei wesentlichen Fragen – Verhältnis zu SPD und Grünen und der Flüchtlingspolitik – keine gemeinsame Haltung der Parteilinken. Zweitens fahren die Vorsitzenden zu r2g einen Schlingerkurs, der sich von der Positionierung der SPD abhängig macht. Drittens gibt es wenig Klassenkämpfe, die die Partei unter Druck setzen oder zu neuen massenhaften Eintritten führen könnten. Dadurch wird der starken parlamentarischen Orientierung der Partei wenig entgegen gesetzt.

Bei den letzten Wahlen hat DIE LINKE im Arbeiter- und Erwerbslosenmilieu WählerInnen verloren und im urbanen, akademischen Milieu Stimmen gewonnen (ein Teil von diesen ist selbst prekarisiert). Das Problem der Verluste im Arbeiter- und Erwerbslosenmilieu ist Teilen der Parteispitze bewusst. Um das Problem anzugehen, braucht es jedoch mehr als einige Modellprojekte in sozialen Brennpunkten, sondern einen Kurswechsel hin zu einer Anti-Establishment-Kraft, die soziale Themen und das Thema Integration/Geflüchtete als Klassenthema aufgreift und die Wut auf die Reichen und Vermögenden lenkt. DIE LINKE muss sich viel stärker als bisher in Kämpfen und Bewegungen verankern, wie beispielsweise an der Charité und bei den Mieterprotesten in Stuttgart-Bad Cannstatt.

Zwei Debatten

Es gibt zwei wesentliche Debatten in der LINKEN und Linksjugend, die derzeit polarisieren: Der Umgang mit der Flüchtlingsfrage und die Regierungsfrage.

Zum Umgang mit Geflüchteten kommt die für die Partei und Parteilinke gefährlichste Position von Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine. Beide sprechen sich für Kontingente, gegen sogenannte „Parallelgesellschaften“ und für mehr staatliche Sicherheit aus. Diese nationalstaatsbasierten, staatstragenden Positionen führen innerhalb der Parteilinken zu erheblicher Verwirrung und beschädigen das Ansehen der LINKEN unter Jugendlichen und einer wichtigen Schicht von AktivistInnen. Wir kritisieren diese Position, ohne die heuchlerische Positionierung der ReformerInnen, die Sahra Wagenknecht kritisieren während sie selbst Geflüchtete abschieben, zu schonen. Die Position der Vorsitzenden, die soziale Frage in den Mittelpunkt zu stellen, ist richtig, reicht aber nicht aus. Es ist nötig, die soziale Frage und das Thema Geflüchtete/Integration offensiv als Klassenfrage aufzugreifen und gegen die Reichen und Vermögenden zu wenden und die Ängste vor Instabilität, Krisen und Kriegen mit antikapitalistischen Positionen und Rhetorik zu beantworten.

ReformerInnen und Teile von „Mittelerde“ arbeiten durch r2g-Treffen im Bundestag, die keine Legitimation durch Fraktion oder Parteivorstand haben, an der Simulation eines angeblichen linken Lagers. Aber auch die Vorstellung von Bernd Riexinger und Katja Kipping eines eigenständigeren Wahlkampfes, der zugleich ausstrahlt, dass eine Regierungsbeteiligung nicht an der LINKEN scheitert, wenn Bedingungen erfüllt werden, macht sich vom Links-Blinken der SPD abhängig und wird nicht in der Lage sein, NichtwählerInnen in großem Maße zu erreichen.

Die Mehrheit des Jugendverbands wird wahrscheinlich einen bürokratischen Jugendwahlkampf führen, der eigene Inhalte setzen wird, aber sich einer Kritik an der Partei oder einer Orientierung auf eine mögliche Regierungsbeteiligung enthält.

Es gibt bisher keine Wechselstimmung oder eine Begeisterung für r2g im Bund. Bei den Berliner Abgeordnetenhauswahlen 2016 haben wir jedoch erneut erlebt, dass eine größere Schicht r2g für das kleinere Übel hält. Vielen sind die negativen Auswirkungen der Politik unter Rot-Rot in Berlin von 2001 bis 2011 nicht mehr bewusst und auch die Thüringer Koalition unter Bodo Ramelow erzürnt zwar Aktive in der Bewegung für Geflüchtete, aber es ist noch nicht zu einer Desillusionierung in der Breite der Thüringer Arbeiterklasse gekommen. Mit dieser Stimmung müssen wir auch bei den Bundestagswahlen umgehen – insbesondere dann wenn sich arithmetische Mehrheiten für r2g ergeben und die SPD links blinken sollte. Das ist mit der Nominierung von Martin Schulz als SPD-Spitzenkandidat wahrscheinlicher geworden.

Die Berliner LINKE-Führung hatte die Illusion, durch einen Staatssekretär Andrej Holm Druck innerhalb des Senats zur Durchsetzung einer sozialeren Wohnungspolitik aufbauen zu können. Der Angriff auf Holm war deshalb keine innerbürgerliche Auseinandersetzung, sondern ein Kampf der Immobilienlobby und pro-kapitalistischen Kräfte gegen die Mieterbewegung und gegen die Forderungen der LINKEN.

Für einen Wahlkampf gegen das Establishment

Wir schlagen einen kämpferischen, bewegungsorientierten Bundestagswahlkampf gegen das Establishment vor, der soziale Themen wie steigende Mieten, sinkende Renten, Armut und die Situation von Geflüchteten offensiv aufgreift und dies mit einer scharfen Kritik an den Eigentumsverhältnissen, zunehmender Militarisierung, Kriegen und dem kapitalistischen System verbindet. Dabei muss uns bewusst sein, dass DIE LINKE die Debatte um Innere Sicherheit nicht kurzfristig, sondern nur langfristig gewinnen kann, in dem sie erstens die zugrunde liegenden sozialen Ängste aufgreift und beantwortet und zweitens neokoloniale Ausplünderung, Rüstungsexporte und Auslandseinsätze der Bundeswehr als Ursachen von zunehmendem Terror benennt. Wir lehnen es ab, dass sich Sahra Wagenknecht oder ReformerInnen die Argumente nach einer Aufrüstung der Polizei, Abschiebungen und ein Mehr an Überwachung zu eigen machen.

Es gibt, befördert durch Mediendarstellungen und bürgerliche Politik, in breiten Teilen der Arbeiterklasse Sorgen bezüglich verschiedener Aspekte des Themas Innere Sicherheit. Durch eine zunehmende Gefahr von rechts, Kriege in der Welt, aber auch mögliche islamistische Anschläge in Deutschland, wird das Thema präsent bleiben. Das mit der deutschen Außenpolitik verbundene, zunehmende Risiko von Anschlägen sowie mögliche Proteste und Klassenkämpfe im Innern sorgen seit Jahren für eine Kampagne der inneren Aufrüstung. Der Bundeswehreinsatz im Inneren wird schon lange unter dem Deckmantel der sogenannten Terrorbekämpfung forciert. Ein sozialistisches Programm zu diesem Thema geht über die Ablehnung von Positionen, die eine staatliche Aufrüstung fordern bzw. die Aufgabe in die Hände des kapitalistischen Staats legen und über die Erklärung grundsätzlicher Positionen zur Staatsfrage hinaus. Auch die Ablehnung von Rüstungsexporten, Auslandseinsätzen, sonstiger Kriegsunterstützung und staatlichem Rassismus sind zwar notwendige Bestandteile eines sozialistischen Programms, aber nicht hinreichend, um die bestehenden Ängste vor Übergriffen verschiedener Arten zu beantworten. Entscheidend für uns ist es, einen Klassenstandpunkt einzunehmen. Das heißt einerseits zu erklären, warum die Klassengesellschaft und die Politik der herrschenden Klasse die Ursache für verschiedene Formen der Unsicherheit sind und andererseits Forderungen zu entwickeln, die die Kontrolle der Arbeiterklasse über die so genannte Innere Sicherheit und die unabhängige Aktion der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen in den Mittelpunkt rückt.

Wir schlagen einen eigenständigen oppositionellen Wahlkampf vor, der an inhaltlichen Punkten erklärt, warum es mit der LINKEN keine Regierung mit SPD und Grünen geben wird, sondern wir für eine grundlegende Veränderung der Macht- und Eigentumsverhältnisse streiten. Wir machen deutlich, dass es derzeit keine Koalitionspartner für eine solche Politik gibt und DIE LINKE starke Bewegungen aufbauen will, um ihre Forderungen durch Druck von unten durchzusetzen. Die Krise der Deutschen Bank kann durch uns propagandistisch aufgegriffen werden, um zu erklären, warum wir nicht für die Sozialisierung der Verluste einer Bank sondern für die Verstaatlichung des gesamten Bankenwesens eintreten. Wir halten an unserer Taktik der Einzelfallentscheidung und der Möglichkeit fest, eine rot-grüne Minderheitsregierung ins Amt zu bringen. Konkrete Vorschläge haben wir mit einem Artikel zur Wahlstrategie bereits vorgelegt.

Widersprüchliche Entwicklung

DIE LINKE gibt bisher keine ausreichende Antwort auf die Probleme. Trotzdem gibt es den Trend, dass mehr Menschen – vor allem Jugendliche – in die LINKE eintreten und sie als wichtige Antwort auf die Gefahr von Rechts betrachten. Von den Neueintritten im ersten Halbjahr 2016 waren fast 60 Prozent unter 36 Jahren. Die etwas gestiegenen Mitgliedergewinne kompensieren jedoch nicht die Verluste der Partei durch Austritte, Beitragssäumigkeit oder Todesfälle.

Alles in allem entwickelt sich DIE LINKE widersprüchlich: Einerseits gibt es die neuen Regierungsbeteiligungen in Thüringen und Berlin, andererseits markieren der letzte Bundesparteitag und der neue Parteivorstand eine relative Bremse für die „schleichende Rechtsentwicklung“ der Partei; einerseits tätigt Sahra Wagenknecht wiederholt inakzeptable Äußerungen gegen MigrantInnen, andererseits gibt es in verschiedenen Stellungnahmen der Partei und auch im Programm zur Bundestagswahl zu diesem Thema klare linke Aussagen; einerseits setzt sich die Parlamentsfixiertheit auf allen Ebenen fort, andererseits spielt die Partei weiterhin eine gewisse Rolle bei Streikunterstützung, antirassistischen Protesten und der Vorbereitung des Widerstands gegen den G20-Gipfel; einerseits finden Lafontaine und Wagenknecht positive Worte für Donald Trump, andererseits treten verstärkt junge Menschen in DIE LINKE ein, um etwas gegen Rechtspopulismus und Trump zu tun. Diese Widersprüchlichkeit ist nicht neu. Sie zeigt unter anderem, dass noch Leben in der Partei ist und diese ein umkämpftes Feld ist.

SDS und Linksjugend [’solid]

Der Jugendverband Linksjugend [’solid] und der Studierendenverband SDS haben aufgrund der Gefahr durch die AfD und die Wahl von Trump in den USA, neue Mitglieder dazu gewonnen, bleiben aber trotzdem weit unten den Möglichkeiten. Beim SDS gründet sich derzeit alle zwei Wochen eine neue Gruppe. Der bundesweite Verband von Linksjugend [’solid] hat 400 Mitglieder hinzugewonnen, ist aber der neuen Gefahr der AfD und der Nazis überhaupt nicht gerecht geworden. Die weitgehende Untätigkeit des BundessprecherInnenrats im Kampf gegen die AfD hat zu einer politischen Stagnation des Jugendverbands geführt. Trotzdem gab es örtlich Möglichkeiten für den Aufbau. Wo kämpferische Linksjugend-Gruppen existieren, gibt es oftmals gute Erfahrungen beim Aufbau und teilweise auch bei der Gewinnung von jungen Frauen. Mit der Gründung des BAK Revolutionäre Linke haben wir gemeinsam mit anderen Verbandslinken wesentliche Fortschritte erreichen können.

Wahljahr 2017

Wesentliche Themen im Bundestagswahlkampf und den Landtagswahlkämpfen werden voraussichtlich sein: Soziale Gerechtigkeit, Rente, Mieten, Krieg, Geflüchtete/Integration, Innere Sicherheit, EU. Wir müssen damit rechnen, dass die AfD in alle drei Landtage einziehen wird und die Auseinandersetzung mit der AfD zu einem Hauptthema im Bundestagswahlkampf wird.

Politisch wird der Wahlkampf zwischen den Parteien polarisierter sein, da es wegen des wahrscheinlichen Einzugs von AfD und FDP und der Zuspitzung zwischen SPD und CDU und der offenen Frage, wer KanzlerIn wird, für die Parteien um Machterhalt geht. Eine stärkere Polarisierung zwischen den Parteien ist nicht gleichbedeutend damit, dass die Wahlkämpfe die Arbeiterklasse in ihrer Breite berührt. Aber unter einer Schicht von Aktiven und einem Teil der Arbeiterklasse wird es zu einer Politisierung führen.

Aufgrund des Drucks durch die AfD werden CDU/CSU mehr auf einen Law and Order-Wahlkampf setzen. Die SPD wird dasselbe mit mehr sozialen Versprechen, vor allem in NRW, vermischen. Wir müssen davon ausgehen, dass sie stärker links blinken wird und trotzdem wie bei CETA, Erbschaftssteuer und Leiharbeit rechte Politik betreibt.

► Landtagswahlen

Am 26. März finden Landtagswahlen im Saarland und im Mai in Schleswig-Holstein (7.Mai), NRW (14. Mai) statt. In Schleswig-Holstein und NRW kämpft die LINKE um den (Wieder-)Einzug in den Landtag. Die NRW-Wahlen und der Wiedereinzug in den Landtag haben eine hohe politische Bedeutung für die Parteilinke. Die NRW-Wahlen sind auch für die SPD ein wichtiger Ausgangspunkt für die Bundestagswahlen. Eine rot-rot-grüne Regierung in NRW ist aufgrund des politischen Charakters des Landesverbands der LINKEN nicht wahrscheinlich und auch Hannelore Kraft (SPD) ist sehr kritisch gegenüber r2g. Die Perspektive einer rot-rot-grünen Regierung im Saarland ist möglich und ein Kurs darauf oder gar das Zustandekommen von r2g würde zu einer Belastung für die Parteilinke bundesweit werden.

► Bundestagswahlen

Die Nominierung von Martin Schulz hat die Ausgangslage der SPD und der Union für die Bundestagswahlen geändert. Die SPD befand sich lange im Sinkflug und niemand rechnete ernsthaft damit, dass sich dies bis zu den Bundestagswahlen ändern könnte. Der „Schulz-Effekt“ führt im Februar 2017 zu Umfragewerten für die SPD von 29 bis 31 Prozent, die damit in manchen Umfragen über denen der Union liegen. Es ist zu früh, um zu bewerten, ob dieser Trend bis zum Wahltermin anhält oder verpuffen wird. Derzeit verzeichnet die SPD sowohl neue Eintritte als auch hohe Zustimmungswerte für Schulz als Kanzler. Die Hälfte der Bevölkerung wünscht sich ihn und nur 34 Prozent wollen Merkel als Kanzlerin, 50 Prozent wollen, dass die SPD die nächste Regierung anführt (Deutschlandtrend, 02.02.2017). Es ist ebenfalls offen, ob sich daraus eine nachhaltige Wechselstimmung ergibt, bisher ist das nicht der Fall. Der Kern dieser Entwicklung ist, dass Schulz das Thema soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt gerückt hat, sich als Mann aus „einfachen Verhältnissen“, als Vertreter „der hart arbeitenden Mitte, die sich an Regeln hält“ profiliert und dass er nicht unmittelbar mit der Großen Koalition identifiziert wird. Das kommt in Teilen der Arbeiterklasse und Mittelschichten gut an, obwohl er im Grundsatz keine andere Politik als Gabriel und die bisherige SPD-Spitze vertritt und es auch keinerlei Anzeichen gibt, dass sich die SPD mit den Reichen anlegen will. Doch Schulz versteht es geschickt, mit einer vorsichtigen Distanzierung von der „Einseitigkeit“ der Agenda 2010 (diese sei nicht falsch, aber einseitig gewesen), Kritik an Zeit- und Leiharbeit und der auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich, das Ohr ehemaliger SPD-WählerInnen, Nicht-WählerInnen und WählerInnen anderer Parteien (teilweise auch der AfD) zu erreichen. Seine Kandidatur hat das Potential zur Projektionsfläche für Hoffnung auf soziale Veränderung bei gleichzeitiger Stabilisierung der Verhältnisse zu werden. Ob Schulz‘ Politik eines „sozial flexiblen Neoliberalismus“ diese Illusion bis zum Wahltermin transportieren kann, ist eine offene Frage. Trotzdem reagiert die Union panisch und vergleicht Schulz mit Trump und wirft ihm vor, sich ungerechtfertigterweise als Anti-Establishment-Kandidat darzustellen.

Mit der Positionierung Schulz‘ ist es möglich, dass das Thema soziale Gerechtigkeit einen höheren Stellenwert im Bundestagswahlkampf erhält (was auch Vorteile für DIE LINKE im Wahlkampf birgt) und in den Gewerkschaften und Betrieben zu einer größeren aktiven Unterstützung für die SPD führen kann.

Die Koalitionsperspektiven sind offen. Ziel der SPD ist eine Große Koalition mit Schulz als Kanzler, die Union will die Fortsetzung der Großen Koalition unter Merkel. Sollte Merkel scheitern, wird dies die bereits bestehenden Spannungen in der Union weiter anheizen. Mit einem möglichen Einzug von AfD und FDP und einer gestärkten SPD, rückt die Perspektive für Schwarz-Grün in weitere Ferne. Den Richtungskampf bei den Grünen haben die Schwarz-Grün-VerfechterInnen um Özdemir und Göring-Eckardt vorerst für sich entschieden, stehen nun aber ohne wahrscheinliche Regierungsoption dar. Wobei offen ist, welche Koalitionsoptionen es geben wird und auch eine Jamaika- oder Ampelkoalition nicht ausgeschlossen werden kann.

Die Aufstellung von Schulz macht eine rot-rot-grüne Koalition nicht qualitativ wahrscheinlicher. Neu ist, dass r2g arithmetisch in den Bereich des Möglichen rückt. Dies wird vor allem die Debatten über r2g in der LINKEN anheizen und den Druck erhöhen, sich für das vermeintlich kleinere Übel auszusprechen. Vor allem die ReformerInnen werden Druck in diese Richtung ausüben. Doch die politische Positionierung der LINKEN – vor allem zur NATO, der EU und ihr Nein zu Kriegseinsätzen – macht es unwahrscheinlich, dass die SPD auf r2g setzt.

Trotzdem hat sich im Vergleich zu 2013 der Widerstand der SPD und des Kapitals gegen r2g etwas abgeschwächt. Für die Herrschenden könnte ein großer Erfolg der AfD womöglich eine größere Gefahr als r2g sein. Trotzdem ist das alles andere als die Wunschoption für das Kapital, die eigentlich weiter an der Union in der Regierung als Garant für deutsche Exportinteressen interessiert ist. Die gemeinsame Nominierung Frank Walter Steinmeiers – ein Vertreter der Agenda 2010 Politik – durch SPD und Union drückt aus, welche Position in der SPD dominant ist.

DIE LINKE wird einen Schlingerkurs fahren mit einem eigenständigen Wahlkampf, roten Linien und inhaltlichen Forderungen an die SPD. Damit läuft sie Gefahr über die Stöckchen der SPD zu springen. Die Linie wird sein: An der LINKEN wird r2g nicht scheitern, wenn es zu einem Politikwechsel kommt. Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass es zu r2g kommt, werden diese wiederholten Angebote an SPD und Grüne und weitere Klüngeltreffen zur Auslotung angeblicher Gemeinsamkeiten weitere Illusionen in deren Reformierbarkeit schüren und der LINKEN politisch schaden.

► Perspektive nach den Bundestagswahlen

Die Perspektiven hängen mit dem Ausgang der Bundestagswahlen und der ökonomischen Entwicklung zusammen. Die ersten Monate bis Ende des Jahres werden von Koalitionsverhandlungen geprägt sein. Ob es zu größeren Angriffen kommen wird und wenn ja, zu welchem Zeitpunkt, ist offen. Viele ungelösten Themen wie die Schuldenkrise Griechenlands und die Eurokrise werden nach den Bundestagswahlen wahrscheinlich wieder auf die Tagesordnung kommen. Die Themen Krieg, Flucht und Rassismus werden uns weiter begleiten.

Sanktionen gegen Streiks und die Versammlungsfreiheit werden weiterhin zunehmen. In Deutschland gab es 2015 die Diskussion und Durchsetzung des Tarifeinheitsgesetzes, welches Streiks und das Recht von Beschäftigten sich in der Gewerkschaft ihrer Wahl für einen Arbeitskampf zu organisieren, massiv einschränkt. In Großbritannien wurde ebenfalls eine Verschlechterung des Streikrechts verhandelt. In Frankreich wurde das Versammlungs- und Streikrecht durch die Verlängerung des Ausnahmezustandes außer Kraft gesetzt. In Zukunft ist mit weiteren Angriffen dieser Art zu rechnen. Darüber hinaus gibt es immer häufiger seitens der Unternehmen den Versuch, Streiks per gerichtlichem Eilantrag verbieten zu lassen. Diese Verschärfungen gehen mit einer von EU-Ebene diktierten und von den neoliberalen Regierungen der einzelnen Mitgliedsstaaten dankbar aufgenommenen Schleifung der Löhne und Arbeitsverhältnisse im privaten und öffentlichen Sektor einher.

Da kleinere Fachgewerkschaften vor allem durch Erlasse wie dem deutschen Tarifeinheitsgesetz oder der Anhebung der Quorumregelung in Großbritannien stärker von der verschärften Situation getroffen werden, kommt der Solidarisierung zwischen den Gewerkschaften eine besondere Bedeutung zu. Es gilt eine Strategie zu entwickeln, wie künftig Arbeitskämpfe gegebenenfalls trotz staatlich untersagter Streiks durchgeführt werden können. Diese beinhaltet den Auf- und Ausbau von Solidarität zwischen den kämpfenden Belegschaften, die Durchführung gemeinsamer Streiks sowie die Unterstützung von außen.

Mit dem Thema Digitalisierung und Industrie 4.0 und ihren realen und vermeintlichen Auswirkungen müssen wir uns weiter beschäftigen. Von den bisherigen Beschäftigten, die in hohen oder sehr hohen Maß digitalisiert arbeiten, sagen laut DGB Index Gute Arbeit 46 Prozent, dass ihre Arbeitsbelastung höher geworden ist, 45 Prozent sehen keine Veränderung, 9 Prozent fühlen sich durch Digitalisierung entlastet. Erste Langzeit-Studien für Deutschland von A.T. Kearney (2015) gehen davon aus, dass in den nächsten 20 Jahren etwa 45 Prozent der Arbeitsplätze in Deutschland teilweise oder vollständig automatisiert werden könnten. Davon wären einige Bereiche (Bürokräfte, Beschäftigte Einzelhandel, Gastronomie) deutlich stärker betroffen als Berufe wie zum Beispiel in der Kindererziehung. Eine andere Studie der ING-DiBa prognostiziert, dass 59 Prozent der Arbeitsplätze automatisiert werden könnten. Wieviel davon Propaganda der Kapitalisten ist, um die Gewerkschaften weiter zu schwächen, werden wir genauer diskutieren.

Schluss

Die Welt ist von ökonomischer, politischer und sozialer Instabilität gekennzeichnet. Die Legitimität der Herrschenden schwindet. Das Potential für einen Aufschwung der Arbeiterbewegung ist in anderen Ländern derzeit stärker sichtbar als in Deutschland. Aber alles ist im Fluss und wir haben 2015 erlebt, wie schnell sich die Lage auch in Deutschland ändern kann. Aber auch wenn es vor den Bundestagswahlen nicht zu großen Veränderungen in der objektiven Lage und im Klassenkampf kommen sollte, bieten die gesellschaftliche Polarisierung, der Kampf gegen Rechts und die Politisierung in den Wahlkämpfen ausreichend Möglichkeiten, um die Organisation weiter aufzubauen.