Türkei: Repression geht weiter …

Türkei… aber: Wir müssen die Möglichkeiten erkennen

Nach dem gescheiterten Putsch findet ein umfassender Gegenputsch in der Türkei statt – mit dramatisch zunehmenden Angriffen auf demokratische Rechte. Mit einer Welle von Verhaftungen und Schließungen von Fernsehsendern, Tageszeitungen und Vereinen innerhalb haben die Repressionen eine neue Stufe erreicht. Auf der anderen Seite wachsen unter der Oberfläche Wut und Hass gegen Erdo ˘gan und seine AKP.

von Ismail Okay, Ankara

Wie wir vorhergesehen haben, hat die AKP-Regierung die Repressionen ausgedehnt. In den ersten Monaten nach dem Putsch im Juli richteten sich diese hauptsächlich gegen die Gülen-Bewegung, die für den Putsch verantwortlich gemacht worden war. So wurden viele AkademikerInnen, JournalistInnen und politische AktivistInnen verhaftet und tausende Staatsbedienstete haben ihren Job verloren, die mit der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht worden waren.

Nun richten sich die Repressionen vor allem gegen die kurdischen und linken AktivistInnen. Im Oktober wurden zwölf Fernsehkanäle und elf Radiosender an einem Tag per Dekret dicht gemacht. Am 29. Oktober wurden zehn Zeitungen, zwei Nachrichtenagenturen und drei politische Magazine geschlossen. Und viele MitarbeiterInnen und Journalistinnen wurden verhaftet.

Auch die beiden Ko-Bürgermeister der kurdischen Stadt Diyarbakir sind verhaftet worden. In den letzten Monaten wurden immer wieder demokratisch gewählte, kurdische BürgermeisterInnen willkürlich abgesetzt. An ihre Stelle traten von oben eingesetzte Verwaltungsbeamte, welche im Sinne der Zentralregierung agieren. All das geschieht unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den „Terrorismus“.

Wenige Tage später, in der Nacht des dritten November, fanden Razzien der türkischen Polizei in den Wohnungen führender Mitglieder und MandatsträgerInnen der linken, prokurdischen Partei HDP statt. Die beiden Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yuksekdag, sowie mindestens neun Abgeordnete, wurden verhaftet und in Gewahrsam genommen.

Eine Woche nach diesen Verhaftungen verbreitete sich die Nachricht, dass das Innenministerium 370 oppositionelle Vereine „vorübergehend“ geschlossen hat.

De Facto nationale Front und Todesstrafe

Seit den Wahlen im Juni 2015, wo die AKP einen Rückschlag erlitten hatte, trägt die nationalistische Partei MHP bewusst das Wasser in die Mühle von Erdoğan. Sie bilden gemeinsam eine inoffizielle nationale Front. So hat der MHP-Chef den Vorschlag, ein Präsidialsystem, was Erdoğan lang gehegtes Ziel ist, wieder auf die Tagesordnung gerückt.

Als Hauptoppositionskraft des Landes hat sie die HDP sich nicht dem sogenannten „nationalen Konsens“ angeschlossen, welcher aus dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli entstanden war. Die HDP wird von Erdoğan als das politische Hindernis für seinen weiteren Weg gesehen, insbesondere weil sie auch anfing unter der türkischen Arbeiterklasse Unterstützung zu gewinnen.

Die Haltung der CHP ist für viele in der Arbeiterklasse verwirrend. Sie hatte sich als eine rein bürgerliche Partei diesem „nationalen Konsens“ angeschlossen. Auch bei der kurdischen Frage ist sie nicht weniger nationalistisch als AKP oder MHP. Auf der anderen Seite repräsentiert sie als eine kemalistische Partei einen anderen Flügel der türkischen herrschenden Klasse und der Staatsbürokratie. Sie betrachtet die Einführung eines Präsidialsystems als einen Wechsel zu einem islamisch-konservativen Regime.

Die Wirtschaft wackelt

Bei all diesen Entwicklungen geriet die soziale Frage oft in den Hintergrund. Aber sie wird den Ereignissen der kommenden Monate ihren Stempel aufdrücken. Das Wirtschaftswachstum im Land geht bergab. die Arbeitslosigkeit wächst und liegt nach jüngsten offiziellen Angaben bei 11,3 Prozent. Das ist der höchste Stand seit April 2010. Unter Jugendlichen liegt sie bei zwanzig Prozent. Parallel dazu wächst das Haushaltsdefizit. Die türkische Wirtschaft basiert hauptsächlich auf Fremdkapital und das hat die Tendenz, das Land zu verlassen. Seit die Ratingagentur Moody’s im Oktober die Türkei herabgestuft hat, hat die türkische Lira gegenüber dem US-Dollar zehn Prozent verloren, seit März 2015 sogar 25,5 Prozent. Das wird zu einem Inflationsanstieg führen, die gerade bei acht Prozent liegt. Das wiederum wird die Armut weiter anwachsen lassen. Der Mindestlohn liegt jetzt schon unter der Armutsgrenze.

Wir müssen die Möglichkeiten erkennen

Bei jedem Schlag der Mächtigen, herrscht anfangs eine große Demoralisierung und ein Pessimismus unter den Oppositionellen. Aber die Dauer dieses psychologischen Zustands wird nach jedem Schlag kürzer. Selbst die nationalistische Karte der AKP und Erdoğan zieht nur noch begrenzt, da unter Oberfläche Hass und Wut gegen sie größer werden.

Vor diesem Hintergrund müssen die Linke und die Arbeiterbewegung die existierenden Möglichkeiten erkennen. Das AKP-Regime als faschistisch zu bezeichnen, wie es häufig getan wird, ist nicht nur falsch, sondern führt auch dazu, dass der Pessimismus gestärkt wird und dass die bestehenden Möglichkeiten für die Linke nicht erkannt werden. Dass die Regierung nicht allmächtig ist, zeigt sich daran, dass sie einen umstrittenen Gesetzentwurf zurückziehen musste, der Straffreiheit bei Kindesmissbrauch vorsah, sollten die Täter die Opfer heiraten. Dazu gab es schnell mutige Proteste und entwickelte sich eine breite gesellschaftliche Ablehnung, die die Regierung zwang, den Gesetzesentwurf zurückzunehmen.

Mehr als je zuvor ist Einheit der arbeitenden Bevölkerung und Solidarität gegen Repression, Terror und Krieg nötig. Die Arbeiter- und Studierendenbewegung, sowie der Rest der Linken auf beiden Seiten der ethnischen Gräben müssen zusammenkommen, um eine schnelle Antwort auf den Ansturm des türkischen Staats zu formulieren. Massendemonstrationen und -streiks müssen im ganzen Land organisiert werden, um – in Verbindung mit internationalen Solidaritätsaktionen – nachhaltige Kämpfe aufzubauen, welche Erdoğans Politik herausfordern können. Die erfolgreiche Massendemonstration am 20. November in Istanbul unter dem Motto „Wir werden nicht kapitulieren“ ist ein gutes Beispiel dafür, dass dies möglich ist. Das aber alleine reicht nicht. Es muss dabei nach einem Weg für die Bildung einer Massenkraft, die in der Lage sein wird eine sozialistische Alternative zum Erdoğan-Regime aufzuzeigen, gesucht werden.

Ismail Okay ist aktives Mitglied von Sosyalist Alternatif, der Schwesterorganisation der SAV in der Türkei