Für eine sozialistische EU-Kritik

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Reform der EU oder Bruch mit dem Club der Kapitalisten?

Die „Brexit“- Abstimmung hat die kontroverse Debatte über die Haltung zur Europäischen Union auf der Linken wieder angeheizt. Teile der Partei DIE LINKE fordern, bei viel korrekter Kritik an Staatenbündnis und unter Abgrenzung von Nationalismus, eine Reform der EU. Aber kann man die EU einfach „neu starten“, wie ein fehlerhaftes Betriebssystem nach ein paar Korrekturen und Updates?

von Conny Dahmen, Köln

Dieser „Neustart“ soll viele wichtige Maßnahmen beinhalten, wie ein Programm von hundert Milliarden Euro im Jahr für öffentliche Infrastruktur und gegen Jugendarbeitslosigkeit, ein Ende des Stabilitäts- und Wachstumspakts, die Einführung europaweiter Mindestlöhne, von Mindeststeuersätzen für Unternehmen und einer Finanztransaktionssteuer und einen solidarischen Umgang mit Flüchtlingen.

Um dies durchzusetzen soll unter anderem die Sozial-, Wirtschafts- und Steuerpolitik der einzelnen Mitgliedsstaaten aufeinander abgestimmt werden, die EU-Institutionen sollen demokratisiert und das Europäische Parlament dieselben Befugnisse wie ein nationales Parlament bekommen.

Dabei sei es nicht einmal nötig, die alten EU-Verträge zu vernichten. Katja Kipping meint dazu in einem Interview in der jungen Welt vom 27. Juni 2016: „Diese Verträge enthalten den Geist des Neoliberalismus. Aber auch innerhalb dieser Verträge wäre eine andere Politik im Sinne von mehr Demokratie und mehr sozialer Gerechtigkeit möglich – wenn sich die nationalen Regierungen anders verhalten würden.“

Wenn aber erst mal in allen Mitgliedsländern linke Regierungen an die Macht kommen müssen, ist ein Neustart nicht in Sicht. Wenn aber in einzelnen Ländern linke Parteien die Regierung stellen, dürfen sie nicht darauf warten, sondern müssen alle nötigen Maßnahmen ergreifen, um eine Politik im Interesse der arbeitenden Bevölkerung und damit auch gegen die EU durchzusetzen. Die jüngsten Erfahrungen in Griechenland haben gezeigt, dass die Troika und Co. versuchen werden, eine linke Regierung in die Knie zu zwingen.SYRIZA wurde erpressbar, weil sie den Rahmen von EU und Euro nicht verlassen wollte. Ihr Programm hätte die Tsipras-Regierung nur umsetzen können, wenn es eine sozialistische Regierungspolitik umgesetzt und dadurch den Rauswurf aus Euro und EU in Kauf genommen hätte . Das ist die entscheidende Lehr der griechischen Erfahrung.

Zumindest auf dem Papier scheinen einige linke Kräfte in Europa ähnliche Schlussfolgerungen gezogen zu haben: Der portugiesische Linksblock, der 2010 noch als glühender Verteidiger von Euro und EU dem Memorandum für Griechenland zugestimmt hatte, hat sich diesbezüglich um 180 Grad gewendet.

Und der neue Vorsitzende der spanischen Izquierda Unida (Vereinte Linke), die bei letzten Wahlen gemeinsam mit Podemos angetreten war, bezeichnet die EU als „nicht reformierbar und inkompartibel mit der Souveränität der Völker oder jeder Politik sozialer Transformation”. Garzón versichert: „Wenn es an der Zeit ist, werden wir bereit sein, die Konsequenzen einer uneingeschränkten Wirtschaftspolitik zum Vorteil der Mehrheit zu tragen, wie zum Beispiel den Ausschluss unseres Landes aus der EU.”

Ein sozial gerechtes, demokratisches und friedliches Europa steht in krassem Gegensatz zur EU, nicht nur ihrem derzeitigen Zustand, sondern zu ihrem kompletten Konzept als Projekt des Großkapitals.

International für Profit und Kapital

Die EU wurde nie dafür geschaffen, uns allen das Leben angenehmer zu machen, sondern um den Kapitalisten Vorteile und höhere Profite zu verschaffen.

Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es einige Versuche, innereuropäische Wirtschaftsverträge zu schließen, bis schließlich 1952 mit der Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Frankreich, Italien, die Benelux-Staaten und Deutschland den Vorläufer der EG und EU gründeten.

Schon damals als Friedensprojekt angepriesen, diente dieser vor allem dem möglichst effektiven Aufbau der Kohle- und Stahlindustrie in Westeuropa und der Stärkung des antisowjetischen Blocks im beginnenden Kalten Krieg.

Ein weiterer Zweck bestand in der Imagerettung des Kapitalismus in einem Nachkriegseuropa, wo eine große Masse der Bevölkerung sozialistische Ideen vertrat und zum Beispiel Verstaatlichungen der Industrien forderte. Doch trotz des vermeintlich positiven Zukunftsbildes erkannte bereits damals die Arbeiterbewegung schnell, dass diese Montanunion vor allem das Privateigentum in der Kohle- und Stahlerzeugung sichern sollte.

Mit steigendem Druck durch den wirtschaftlichen Vorsprung der USA, Japan und später dem aufstrebenden Konkurrenten China wurde seit den 1980er Jahren der Binnenmarkt immer weiter ausgebaut, eine „gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ entwickelt, die EU gegründet, der Euro eingeführt und eine Reihe neuer Mitgliedsstaaten angeschlossen, die jedoch ökonomisch eine untergeordnete Rolle spielen.

Herrschende einig gegen die Arbeiterklasse

Sie alle vereint die EU im gemeinsamem Kampf gegen die große Mehrheit der Bevölkerung in- und außerhalb der EU. Verschärfung der Ausbeutung, Steigerung der Arbeitshetze, Ausbau des Niedriglohnsektors und andere Angriffe werden auch außerhalb der EU gefahren. EU und Euro sind aber wirksame Werkzeuge, um das alles noch effektiver umzusetzen, um neoliberale Politik durchzusetzen und mühsam erkämpfte Errungenschaften der Arbeiterbewegung und sozialer Bewegungen wieder zu beseitigen, mit TTIP soll noch ein weiteres hinzukommen.

So verbietet das EU-Recht beispielsweise generelle (Rück-)Verstaatlichungen, eine Forderung, die der neue, dem linken Flügel angehörende Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn im Bezug auf die britische Eisenbahn aufstellt und die nach Umfragen siebzig Prozent der britischen Bevölkerung unterstützen. Der Sieg der Massenbewegung gegen die Einführung von Wassergebühren in Irland wird ebenfalls durch EU-Verträge infrage gestellt.

Die Verträge zu verbessern wird nicht ausreichen, ihr Sinn besteht ja eben darin, Standards allein zum Vorteil der Banken und Konzerne festzuschreiben und ihre Interessen zu sichern, nicht die der arbeitenden Bevölkerung. Daran werden auch andere Mehrheiten im EU- Parlament oder den nationalen Regierungen nichts ändern, da helfen nur Reißwolf und Papierkorb. Warum sollten wir die Werkzeuge der Herrschenden weiter benutzen, wenn sie für unsere Zwecke völlig ungeeignet sind? Wer würde einen Hammer zum Schraubenziehen verwenden?

Die EU als Spaltungsinstrument

Natürlich möchte keiner die Reisefreiheit, das Aufenthaltsrecht für EU-BürgerInnen in allen Mitgliedsstaaten, die offenen Grenzen aufgeben. Diese Verbesserungen machen die EU aber noch lange nicht zu einem internationalistischen oder gar zu einem Friedensprojekt.

Ja, die EU macht es möglich, dass EU-BürgerInnen relativ frei im Ausland arbeiten, studieren und wohnen können. Nur, heutzutage macht es ihre Politik nicht nur möglich, sondern für viele leider nötig. Vor allem junge Menschen aus südeuropäischen Ländern haben kaum eine andere Möglichkeit, als zu versuchen, der Massenarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit zuhause ins Ausland zu entfliehen.

Und gerade im letzten Jahr haben wir gesehen, wie schnell sich die offenen Grenzen schließen können, wenn es darum geht, Flüchtlinge draußen zu halten, und wie die gegensätzlichen nationalen Interessen der einzelnen EU-Mitgliedsstaaten immer schärfer an die Oberfläche kommen.

Trotz offensichtlicher Vorteile für die Kapitalisten, die Produktivkräfte über die Grenzen des Nationalstaats hinaus zu entwickeln, ist es ihnen letztendlich unmöglich, ohne ihn auszukommen. Denn spätestens in Zeiten der Wirtschaftskrisen brauchen sie ihn, sei es, um sich gegen ausländische Konkurrenten oder den Widerstand der Arbeiterklasse im Inneren zu schützen.

Zu keinem Zeitpunkt hat der Konkurrenzkampf unter den EU-Mitgliedsländern aufgehört, er ist sogar noch intensiviert worden, wobei die wirtschaftlich schwächeren Ländern verlieren. Vor allem durch den Euro haben sich Wettbewerbsnachteile für viele Länder um ein Vielfaches verschärft, da sie nun nicht mehr, wie zuvor, als Exportvorteil ihre Währung abwerten können.

So hat die EU statt mehr Wohlstand für alle die Deindustrialisierung der europäischen Peripherie befördert und vor allem den deutschen Konzernen einen leicht zugänglichen Markt ohne gefährliche Konkurrenz bereitgestellt.

Statt einer Solidargemeinschaft hat sie die „PIGS“- Staaten (so wurden Portugal, Italien, Griechenland und Spanien genannt) fast zu Kolonien degradiert, die von der Troika und den EU-Institutionen kontrolliert und drangsaliert werden, mit den „Reformauflagen“ und einer de facto Kontrolle der Haushalte und der Politik. Die irische Regierung, die eigentlich als vorbildliche Krisenmanagerin gilt, muss immer noch zweimal im Jahr der Troika ihre Pläne und Berichte zur Kontrolle vorlegen!

Kriege untereinander führten die europäischen Mächte nicht, aber dafür an vielen anderen Orten. Allein die Kriegseinsätze der deutschen Bundeswehr von Serbien bis Afghanistan und der Krieg in der Ukraine vor den Toren der EU straft den vermeintlich pazifistischen Ansatz dieses Bündnisses Lügen.

Kapitalismus ist Auslaufmodell ohne Ersatzteile

Seit der „Euro-Krise“ nutzen die europäischen Herrschenden unter Federführung des deutschen Kapitals auch die so genannten „Rettungspakete“, um eine Abwärtsspirale bei Lohn- und Sozialleistungen immer schneller drehen zu lassen.

Das enorme Elend und die sozialen Zerstörungen, die dies in vielen Ländern ausgelöst hat, sind keine Folgen einer undurchdachten Politik, sondern im Sinne des kapitalistischen Klassensystems genauso beabsichtigt.

Da Wirtschaftskrisen ein unvermeidbarer Bestandteil des Kapitalismus sind und aufgrund weniger Anlagemöglichkeiten für die Unternehmen, Überproduktion und Überkapazitäten in der Produktion immer wiederkehren werden, können dies auch „schlauere“ oder linke Regierungen nicht verhindern und haben im Rahmen des Systems wenig Handlungsspielraum, die Folgen für die Masse der lohnabhängigen Bevölkerung abzuwenden.

Um Politik im Interesse von Lohnabhängigen, Erwerbslosen, Jugendlichen, RentnerInnen zu betreiben und mit Sozial- und Arbeitsplatzabbau, Privatisierung, und Rassismus zu brechen, ist nicht nur der Rahmen der EU zu eng. Es erfordert letzten Endes die Bereitschaft, mit dem gesamten kapitalistischen Marktmechanismus zu brechen.

Der Kapitalismus kann heute keine dauerhaften Verbesserungen und keine lebenswerte Zukunft mehr bieten. Er führt zu weiteren Krisen, Kriegen, Diskriminierung, einfach einem immer schlechteren Leben. Linke sollten nicht versuchen, ihn mit allen möglichen ausgeklügelten Tricks zu reparieren, sondern aufzeigen, wie wir ihn überwinden können.

Dazu müssen wir nicht auf den Zusammenbruch der EU warten ( auch wenn der infolge ihrer inneren Widersprüche in nicht allzu ferner Zukunft erfolgen könnte), sondern bereits ein Ausscheren einer oder mehrerer individueller sozialistischer Regierungen könnte der europäischen Arbeiterklasse den Weg ebnen, sich zu erheben und eine neue Alternative auf internationaler Ebene aufzubauen.

Hätte sich die Syriza-Regierung widersetzt und sozialistische Maßnahmen wie die Rücknahme von Kürzungen und Privatisierungen, die Überführung von Industrien in Gemeineigentum, Investitionen in Arbeitsplätze usw. unternommen, wäre Griechenland aus der Eurozone und EU geworfen worden und hätte mit seinem Beispiel Millionen Menschen inspiriert, den Kampf gegen die Banken und Konzerne in ihren eigenen Ländern aufzunehmen.

In den Betrieben, Schulen, Unis, der Schlange vorm Arbeitsamt von Cádiz bis Reijkjavik haben wir dieselben gemeinsamen Interessen, denn in ganz Europa (und weltweit) haben wir dieselben Probleme. Erfolgreiche Bewegungen in einem Land bekämen riesige Unterstützung, würden sich über den Kontinent verbreiten und den Anfang einer Bewegung für ein wirkliches „Europa der Menschen“ bilden, welches das Potential hat, Grenzen dauerhaft zu überwinden.

Eine wirklich internationalistische, solidarische, demokratische Staatengemeinschaft im Sinne der Masse der europäischen Bevölkerung kann nur – machen wir uns nichts vor – auf Basis eines sozialistischen Wirtschaftssystems funktionieren.

Nationale und europäischer Laberparlamente, von denen keines der breiten Masse viel Einflussnahme ermöglicht, und repressiver Kontrollgremien könnten durch tatsächlich demokratische Staatsstrukturen ersetzt werden. Ausgehend von demokratisch gewählte Komitees in den Betrieben und Nachbarschaften könnten regionale, landesweite Netzwerke entstehen und aus ihren Reihen eine Regierung wählen, die sich wiederum international vernetzen und einen sozialistischen Staatenbund koordinieren könnten.

Statt überbezahlter, realitätsferner DauerparlamentarierInnen müssten die VertreterInnen jederzeit wähl- und abwählbar sein und dürften nicht mehr verdienen als einen Durchschnittsarbeitslohn.

So könnte die Wirtschaft demokratisch geplant und koordiniert und die Produkte und Ressourcen innerhalb eines Landes und zwischen Ländern im Interesse von Mensch und Natur verteilt und eingesetzt werden.

Conny Dahmen ist Mitglied des SAV Bundesvorstands und aktiv im Bündnis Köln gegen Rechts.