Junge Menschen und das EU-Referendum in Großbritannien

Leitartikel aus „The Socialist“, der Wochenzeitung der „Socialist Party“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in England & Wales)

„Ausgeschaltet“, „abgemeldet“ und „verwirrt“ – das sind nur einige Attribute, die bemüht werden, um den Umgang junger Leute mit der zurzeit stattfindenden Debatte um das EU-Referendum zu beschreiben. Aber ist das ein Wunder? Die führenden Köpfe sowohl des „Ja“- wie auch des „Nein“-Lagers bestehen vor allem aus Vertretern der klitzekleinen aber super-reichen Elite des Landes. Schaltet man die Nachrichten an, so wird man im Allgemeinen von Politikern der konservativen „Tories“ begrüßt, die darüber sinnieren, welche Folgen ein Verbleib bzw. ein Austritt aus der EU für die Konzerne hat.

Für junge Menschen, die das tatsächliche Ausmaß der Austerität in Großbritannien erleben (immense Studiengebühren, ständig sinkende Löhne und nicht mehr bezahlbaren Wohnungen) ist es kaum überraschend, dass eine Debatte, die von Austeritäts-Befürwortern beherrscht wird, keine Begeisterungsstürme hervorruft. Folgt man den Umfragen, so sind nur 52 Prozent der jungen Leute „definitiv sicher“, sich am 23. Juni am Referendum zu beteiligen. Vor kurzem brachte eine Erhebung des Meinungsforschungsinstituts „YouGov“ ans Licht, wie stark die Desillusionierung angesichts der momentanen Debatte schon um sich gegriffen hat. Demnach sagen lediglich zehn Prozent der jungen Menschen, sie würden den Politikern vertrauen, dass diese ihnen die Wahrheit über das EU-Referendum erzählen. Nur 13 Prozent trauen in diesem Zusammenhang den Medien und 16 Prozent setzen auf die Vertreter der Wirtschaft.

Weil dieselben Umfragen aktuell aber auch die Befürworter eines „Brexit“ knapp vorne sehen, beginnt sich im Lager um Premier Cameron allmählich Panik breitzumachen, das sich für den Verbleib in der EU stark macht und von der überwältigenden Mehrheit der kapitalistischen Klasse unterstützt wird. Deren Antwort besteht darin, ihre Angst-Kampagne weiter zuzuspitzen. In dieser Woche wird die Drohkulisse aufgebaut, nach der ein „Brexit“ wie eine „ökonomische Zeitbombe“ wirken würde. Dabei scheint es so zu sein, dass die apokalyptischen Prophezeiungen und düsteren Warnungen bislang ins Leere laufen. Momentan hat man eher den Eindruck, als würden diese Drohungen unter den arbeitenden Menschen das exakte Gegenteil von dem bewirken, was sie eigentlich erreichen sollen. Im Grunde könnte es doch tatsächlich kein besseres Argument für den EU-Austritt geben als David Cameron selbst. Schließlich verkörpert er die Zerschlagung des öffentlichen Dienstes, den Verlust von Arbeitsplätzen und die Demontage des Gesundheitssystems NHS wie kein anderer. Und dann geht er auch noch hin, und fleht dich verzweifelt an, das Gegenteil von dem zu tun, was du eigentlich willst!?

Aus Angst, das Referendum zu verlieren, stützen sich die führenden Köpfe der Befürworter eines Verbleibs in der EU auf rechtslastige (und bedauerlicherweise auch auf einige eher linke) Gewerkschaftsfunktionäre sowie den Dachverband „Trade Union Congress“ (TUC), der die Arbeiterschaft mobilisieren soll, um für einen Verbleib in der EU zu stimmen. Indem sie es den „Tories“ gestatten, sich auf diese Weise benutzen zu lassen, helfen die Gewerkschaftsspitzen objektiv, die Haut von Cameron zu retten.

Massenhafter Kampf der Arbeiterklasse

Letztere rechtfertigen ihre Haltung mit dem Argument, dass die EU als Verteidigerin von Arbeitnehmerrechten fungiert. In Wirklichkeit ist jedoch das Gegenteil der Fall. Die meisten EU-Gesetze und -Direktiven sorgen dafür, dass gewerkschaftliche und Arbeitnehmerrechte ausgehöhlt werden. Abgesehen davon gilt sowieso, dass den Menschen aus der Arbeiterklasse noch nie mehr Rechte und ein besserer Lebensstandard geschenkt worden ist. Diese mussten immer erkämpft und in der Folge auch noch verteidigt werden – durch den Kampf der Massen aus der Arbeiterklasse.

Es ist schon der Gipfel der Ironie, wenn sich die Führung des TUC, die sogar darin versagt hat, wenigstens eine Demonstration gegen die schlimmsten gewerkschaftsfeindlichen Gesetze einer gesamten Generation auf die Beine zu stellen, jetzt mit aller Energie neben dieselben Politiker stellt, die diese gewerkschaftsfeindlichen Gesetze auf den Weg gebracht haben. Und das alles auf der Grundlage, dass man sich angeblich um die „Arbeitnehmerrechte“ sorgen würde.

Angesichts der Tatsache, dass das Ergebnis des Referendums noch völlig offen ist, hoffen die Befürworter der EU-Mitgliedschaft, sich auf die jüngeren WählerInnen stützen zu können, um auf diese Weise einen Verbleib Großbritanniens in der EU sicherzustellen. Vielleicht gehen Cameron und seine Freunde zynischer Weise davon aus, dass der Instinkt der meisten Menschen aus der Arbeiterklasse, der in Richtung internationale Solidarität und Antirassismus tendiert (was umso mehr für die junge Generation zutreffend ist!), dafür sorgt, dass sie ausreichend angewidert sind von Farage, dem Vorsitzenden der rechtspopulistischen UKIP, und Co. Vielleicht wird wirklich angenommen, dass das ausreicht, um für den Beibehalt des status quo zu sorgen.

Es stimmt, dass die ausländerfeindliche Rhetorik von Boris Johnson (vom rechten „Troy“-Flügel; Erg. d. Übers.) und Farage, die übrigens auch im Lager der EU-Befürworter permanent zur Anwendung kommt, vor allem auf junge WählerInnen abstoßend wirkt. Der Grund dafür ist, dass jungen Leute – vielleicht noch stärker als der älteren Generation – häufig sehr bewusst ist, dass sie ihre Interessen mit anderen Beschäftigten und jungen Menschen in Europa und dem Rest der Welt teilen. Einigen ist auch bewusst, dass der Kampf gegen die brutale Austerität und das kapitalistische System nicht an den Grenzen eines Landes Halt machen kann.

In den vergangenen Jahren kam dieser oben beschriebene Instinkt, diese Tendenz zum Internationalismus auf spektakuläre Weise zum Ausdruck, als die Bewegung der „Indignados“ in Spanien und die „Occupy“-Bewegung entstanden, die wie ein Lauffeuer um sich griffen und ganze Kontinente in Beschlag nahmen. Das waren Bewegungen, die zu einem großen Teil durch den Widerstand gegen die verheerende und von der EU diktierte Austeriät ausgelöst worden sind. Diese Austerität ist in allen Ländern Südeuropas durchgesetzt worden. Und es waren genau diese Bewegungen, für die die Ländergrenzen keine Hürde darstellte.

Viele der von diesen Bewegungen angewendeten Methoden, die im Verlauf dieser sozialen Kämpfe zum Zuge kamen (z.B. Massenbesetzungen von Straßen und öffentlichen Plätzen) sind von der riesigen Bewegung, die wir derzeit in Frankreich erleben dürfen, wieder aufgegriffen worden. Das Land wird von „Nuit Debout“-Protesten (Plätze werden nächtelang besetzt gehalten; Erg. d. Übers.) erschüttert, die mit einem mächtigen Kampf der Gewerkschaften einhergehen. Dieser Kampf zur Verteidigung von Arbeitnehmerrechten (wie etwa dem Recht auf Tarifverhandlungen und der 35-Stundenwoche) wird in Frankreich richtiger Weise als Kampf für die Zukunft der nächsten Generation verstanden.

Dabei wird jedoch kein positiver Bezug zur EU hergestellt, die wie auch immer im Sinne der Rechte der französischen ArbeiterInnen und/oder jungen Leute agieren würde. Würde man der Rhetorik so vieler GewerkschaftsvertreterInnen in Großbritannien folgen, so müsste dies jedoch der Fall sein.

Die VerteidigerInnen dieser Rechte – die selbst das Resultat massenhafter Kämpfe der Beschäftigten sind – trifft man auf der Straße und bei den Protestkundgebungen. Unter den Bürokraten in Brüssel sucht man sie vergebens.

Fakt ist, dass der EU-Kommissar für den Euro und den „sozialen Dialog“, Valdis Dombrovskis, dem Arbeitsrecht, das momentan der Stein des Anstoßes in Frankreich ist, begeistert das Wort geredet hat. Dombrovkis hat wiederholt betont, wie wichtig es sei, endlich das „Problem der Härten“ auf dem Arbeitsmarkt in Frankreich anzugehen (gemeint sind damit die Hürden für Arbeitgeber, die Löhne absenken und Arbeitsbedingungen verschlechtern wollen).

Festzuhalten bleibt, dass nicht Juncker, Merkel, Lagarde und Cameron die wahren Internationalisten sind und dass die EU nichts an sich hat, das im Wortsinn als wirklich internationalistisch zu bezeichnen wäre. Dafür muss man den Blick nur nach Griechenland richten, wo die soziale Katastrophe in Form einer Jugendarbeitslosigkeit von über 50 Prozent zum Ausdruck kommt. Wenn man das sieht, dann weiß man, dass jedes Gerede von einem fortschrittlichen und „sozialen Europa“ nichts als eine Lüge ist. Echte Solidarität mit den jungen Leuten und den Menschen aus der Arbeiterklasse – ob in Griechenland oder anderswo – hängt nicht vom Entscheid über die „Vertrauensfrage“ in einer der wichtigsten Institutionen ab, die Armut erzeugt. Das genaue Gegenteil ist der Fall.

SozialistInnen und GewerkschafterInnen, die sich für den EU-Austritt einsetzen, haben absolut nichts gemein mit den pro-kapitalistischen und fremdenfeindlichen Kampagnen für einen „Brexit“, wie Johnson und Farage sie führen. Der geschmacklose Charakter der derzeitigen Debatte mit ihrer ganzen ausländerfeindlichen Rhetorik, die die Schlagzeilen beherrscht und in beiden Lagern zur Anwendung kommt, macht mehr als deutlich, weshalb es so tragisch ist, dass Jeremy Corbyn (neuer und linker Vorsitzender der „Labour Party“; Erg. d. Übers.) es zugelassen hat, sich von den Anhängern eines Tony Blair in seiner eigenen Partei derart tyrannisieren zu lassen, dass er sich nun ebenfalls für einen Verbleib des Landes in der EU ausspricht. Dabei hatte seine klare Haltung gegen die Austerität, die er im Wahlkampf um den Vorsitz der britischen Sozialdemokraten vertreten hatte, viele tausende junger Menschen begeistert.

Wäre Jeremy Corbyn in seiner historisch einmaligen Position standhaft geblieben und hätte er sich für einen EU-Austritt stark gemacht, dann wäre die gesamte Debatte um das Referendum völlig anders verlaufen. Wenn eine Kampagne für den EU-Austritt unter Führung von Corbyndamit verbunden worden wäre, eine Bewegung aufzubauen, die sich für ein Ende der Austerität einsetzt, dann hätte das gerade unter jungen Leuten für große Begeisterung gesorgt. Man stelle sich nur vor, eine solche Bewegung bzw. Kampagne würde sich für kostenlose Bildung, einen Mindestlohn von zehn brit. Pfund, eine Mietobergrenze, sozialen Wohnungsbau und die Rück-Verstaatlichung der Eisenbahn stark machen!

Stattdessen ist Corbyn in die Ecke getrieben worden. Er macht den Eindruck ein Mensch zu sein, der nur mäßig von dem überzeugt ist, was er in seinen eigenen Reden von sich gibt. Unterdessen springen prominente Vertreter der britischen Sozialdemokratie – wie z.B. Sadiq Khan, der neue Bürgermeister von London, und Harriet Harman (bisherige Interimsvorsitzende der „Labour Party“; Erg. d. Übers.) – Cameron bei, und üben Druck auf Corbyn aus, es ihnen gleichzutun.

Die „Socialist Party“ steht für einen Austritt aus der EU auf sozialistischer, internationalistischer und antirassistischer Grundlage. Für junge Leute in Großbritannien könnte das stärkste Argument für eine Stimme gegen den Verbleib in der EU darin bestehen, dass Cameron und möglicherweise der gesamten konservativen Regierung damit ein schwerer Schlag versetzt werden würde.

Man muss sich nur den „Bürgerkrieg“ innerhalb der „Conservative Party“ ansehen, der mit immer härteren Bandagen ausgetragen wird. Obwohl das Referendum erst in einigen Wochen ansteht, fordern Camerons eigene Fraktionsmitglieder aus der zweiten Reihe bereits seinen Kopf. Nadine Dorries, eine von ihnen, spricht davon, dass Cameron – sollte er am 24. Juni mit dem „Brexit“ aufwachen – „innerhalb weniger Tage gegrillt“ werden wird. Das Eingreifen des ehemaligen konservativen Premiers John Major, einem entschlossenen Vertreter der EU-Mitgliedschaft, hat noch mehr Schärfe reingebracht. Die Annahme, dass diese Partei am Tag nach dem Referendum ohne Weiteres wieder geeint auftreten kann (vor allem wenn es für einen „Brexit“ ausgeht oder am Ende nur ein knappes „Ja“ für den Verbleib dabei herauskommt), ist vollkommen irreal.

Potential

Sollte am Ende der „Brexit“ stehen, dann ist ein Rücktritt dieser Regierung, die bis dato für eine Unmenge an Attacken vor allem auf die jungen Menschen in diesem Land verantwortlich zeichnet, sehr wahrscheinlich. Erinnert sei nur daran, dass eine erneute Erhöhung der Studiengebühren und weitere Privatisierungen sowie die Ökonomisierung der Hochschulbildung auf dem Plan stehen. Dass die Universitäten zu Unternehmen gemacht werden sollen, geht im Übrigen ebenfalls auf EU-Beschlüsse zurück. Der „Bologna-Prozess“ ist das Mittel, mit dem dieses Modell allen Hochschulen des Kontinents übergestülpt werden soll.

Für den Fall, dass es zum „Brexit“ kommt, würde dies – wie einige mit Sicherheit behaupten – nicht den rechten Flügel und die Austeritätsbefürworter stärken. Ein EU-Austritt wird viel mehr dazu führen, dass die „Tories“ in einen Zustand völliger Verwirrung versetzt werden und enormes Potential für eine Stärkung der Kräfte liefern, die sich gegen die Austerität einsetzen und die Entwicklung von Massenbewegungen zur Verteidigung von Arbeitnehmerrechten befördern. Das beinhaltet auch den Kampf für die Rechte von ausländischen Arbeitskräften. Umgekehrt könnte dies helfen, das Selbstbewusstsein der abhängig Beschäftigten in ganz Europa und im Kampf gegen die Austerität zu stärken.

Was auch immer das Referendum Ende Juni bringen wird: Will man die Austerität beenden und für sozialistischen Wandel kämpfen, wird es weiterhin nötig sein, eine Massenbewegung aufzubauen. In diesem Sinne wird uns ein „Nein“ zum Verbleib in der EU neue Möglichkeiten bieten, da wir Cameron und den „Tories“ den Todesstoß versetzen könnten. Das würde aber nicht das Ende allen Übels bedeuten. Die jungen Leute müssen sich organisieren – sowohl, um gegen die nächsten Angriffe zu kämpfen, die bereits in der Mache sind, als auch, um für eine lebenswerte Zukunft sorgen zu können. Es geht darum, Sicherheit zu gewährleisten für angemessene Löhne, bezahlbaren Wohnraum, Arbeitnehmerrechte, kostenlose Bildung und so weiter.

Wer dafür kämpfen will, muss sich mit ArbeiterInnen und Gewerkschaften sowohl in Großbritannien wie auch international verbinden. Und das bedeutet, sich darauf vorzubereiten, das gescheiterte System des Kapitalismus herauszufordern, das permanent das Leid der Menschen aus der Arbeiterklasse einfordert – auf diesem Kontinent und weltweit. Das bedeutet, für eine sozialistische Gesellschaft der viel zitierten „99 Prozent der Bevölkerung“ zu kämpfen, die einzige Gesellschaftsform, die in der Lage ist, den Bedürfnissen und Wünschen dieser und der kommenden Generation gerecht zu werden.