Blatter geht – sein System bleibt

Foto: https://www.flickr.com/photos/121483302@N02/ CC BY-SA 2.0
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Der Fußball zwischen Kommerz, Korruption und Konkurrenz der Staaten

von Seán McGinley

Die Festnahme führender Funktionäre des Fußball-Weltverbandes Fifa, die Ermittlungen des FBI wegen Korruption in Zusammenhang mit der Vergabe der Ausrichterrolle für Turniere sowie der Rücktritt des umstrittenen Fifa-Präsidenten Sepp Blatter bestätigen das, was viele Fußballfans und interessierte BeobachterInnen schon seit langem gewusst haben: An der Spitze des populärsten Sports des Welt geht es keineswegs mit fairen und demokratischen Mitteln zu – stattdessen geben finanzielle und machtpolitische Interessen den Ton an. Das Milliardengeschäft Fußball ist zu einem Selbstbedienungsladen für korrupte Funktionäre geworden.

Korruptes Patronagesystem

Die Fifa hatte 2014 Gesamteinnahmen in Höhe von rund 2,1 Milliarden Dollar – vorwiegend aus Sponsorengeldern und der Vermarktung von Fernsehrechten. Rund ein Fünftel der Einnahmen werden nach Angaben des Weltverbandes für Maßnahmen zur „Sozialen Verantwortung“ verwendet. Das hört sich zunächst gut an, doch wer dabei spontan an neue Sportplätze und spendierte Trikots und Fußballschuhe für Kinder in ärmeren Teilen der Welt denkt, liegt falsch. Es sind nämlich gerade diese Gelder, gezahlt von der Fifa an die einzelnen Mitgliedsverbände, die als „Schmierstoff“ des korrupten Apparates kritisiert werden, mit dem sich Blatter und seine Gefolgschaft die Unterstützung einer Mehrheit der Mitgliedsverbände vor allem in Asien und Afrika sichern konnten. Indem ein Großteil der Gelder im Rahmen von Fifa-Programmen wie „FAP“ (Financial Assistance Programme) oder „Goal“ (Unterstützung beim Bau von Fußball-Infrastruktur wie Gebäüde für Fußballverbände) in ähnlicher Höhe an alle Länder ausgeschüttet werden, profitieren kleinere Mitgliedsverbände stärker. So haben zwischen 2010 und 2014 90% der Mitgliedsverbände FAP-Mittel zwischen 1,8 und 2 Millionen Dollar erhalten. Auch wenn offiziell keine Bedingungen an die Vergabe dieser Mittel geknüpft sind – in der Praxis ist allen Beteiligten sehr wohl bewusst, dass die kleinen Verbände, die von dieser Regelung profitieren, als Gegenleistug einen verlässlichen Abstimmungsblock zugunsten Blatters stellen. Zum einen aus Dankbarkeit für die erbrachte Unterstützung, zum anderen aus Angst davor, dass ein anderer FIFA-Präsident das Finanzierungssystem reformieren könnte.

Simataa Simataa, ehemaliger Präsident des Fußballverbandes von Sambia, bestätigte dies gegenüber der britische Zeitung „Guardian“ mit den Worten: „Eine gute Idee wird gegen die Prinzipien der Demokratie verwendet. Menschen tendieren dazu, jemanden zu unterstützen, der ihnen Gutes tut. Sie nehmen Wohnungen, die ihnen Pablo Escobar mit Drogengeld baut. Das ist leider beim Goal-Programm auch so gewesen. Es gibt ihm [Blatter] einen Vorteil gegenüber anderen, auch wenn sie bessere Ideen haben. Er hat die Stimmen sicher, denn alle denken, wenn ein anderer drankommt, gibt es kein Goal-Programm mehr.“

Im gleichen Bericht stößt der Reporter auf diverse Fifa-finanzierte Projekte in Sambia, die kleiner ausfielen als die gezahlten Summen vermuten lassen würden. In einem Fall war ein Bauvorhaben nach fünf Jahren nicht einmal angefangen worden. Die mangelnde Transparenz bei der Verwendung dieser Gelder erhöht die Gefahr, dass Funktionäre in die eigene Tasche wirtschaften

2011 wurde das Abstimmungsverfahren zur Vergabe von Weltmeisterschaften geändert. Anstatt wie davor vom 24-köpfigen Exekutivkomittee wird der Ausrichter seitdem von allen Mitgliedsverbänden gewählt, wobei jeder Verband unabhängig von seiner Größe eine Stimme hat. Damit erhöhte sich auch die Wahrscheinlichkeit, dass das korrupte System aus Patronage und Beeinflussung kleiner Verbände mittels Abhängigkeitsverhältnissen, die durch die Vergabe von Fifa-Geldern entstehen, auch über die WM-Vergabe mit entscheidet.

Umstrittene WM-Vergabe an Russland und Katar

Unmittelbarer Auslöser der aktuellen Ermittlungen war die Kontroverse um die Vergabe der Weltmeisterschaften 2018 und 2022 an Russland und Katar. Die Kritik vor allem an Katar hat seit der Entscheidung im Jahr 2010 stetig zugenommen. Neben dem Klima, das den traditionellen WM-Termin im Sommer unmöglich macht, standen die Menschenrechtslage, die katastrophalen Arbeitsbedingungen der zum großen Teil migrantischer Arbeiter auf den Baustellen, sowie Korruptionsvorwürfe im Zentrum der Kritik.

Der internationale Gewerkschaftsbund schätzte 2014, dass rund 1200 Bauarbeiter bereits ums Leben gekommen waren, und dass bis zum Anstoß des ersten WM-Spiels um die 4000 weitere sterben würden. Trotz klarer Beweise durch Zeugenaussagen und sogar schriftlicher Dokumentation der Todesfälle bestreiten die WM-Organisatoren vollkommen realitätsfremd, dass überhaupt ein einziger Arbeiter gestorben ist.

Direkt nach der Entscheidung zugunsten Katars und Russlands sind Vorwürfe laut geworden, wonach das Abstimmungsergebnis mittels Bestechung von Delegierten beeinflusst worden sei. Der ehemalige FIFA-Vizepräsident Mohammed bin Hammam soll fünf Millionen Dollar an Schmiergeld gezahlt haben, um die Vergabe des Turniers 2022 an Katar zu sichern. Der ehemalige Chef der englischen Bewerbung um die WM 2018 berichtete, dass fünf Delegierte mit der Aufforderung nach Schmiergeldzahlungen im Gegenzug für ihre Stimmen an ihm herangetreten waren.

2012 beauftragte die Fifa den US-amerikanischen Juristen Michael Eckert mit der Untersuchung der Korruptionsvorwürfe. Er legte dem Weltverband im September 2014 seinen Abschlussbericht vor. Diese beschloss jedoch, den Bericht nicht in voller Länge zu veröffentlichen, sondern nur eine 42-seitige „Zusammenfassung“ davon. Darin wurde die Schlussfolgerung gezogen, dass bei den Entscheidungen zugunsten Russlands und Katars alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Eckert widersprach dieser Darstellung und sah das Ergebnis seiner Ermittlungen in der Zusammenfassung nicht richtig wiedergegeben. Er forderte die Veröffentlichung der vollständigen Fassung seines Berichts. Als diese ausblieb, trat er aus Protest zurück. Der vermeintliche Aufklärungsversuch der FIFA wurde zum Eigentor.

Spielball der Weltpolitik

Dass die Fifa ein Korruptionsproblem hat, ist keine neue Erkenntnis. Schon in den vergangenen Jahren ist es mehrfach zu Rücktritten von Spitzenfunktionären gekommen – acht Mitglieder des Exekutivkomittees mussten seit 2010 im Zusammenhang mit Korruption ihre Ämter aufgeben. Sepp Blatter und das von ihm geschaffene System schienen jedoch unantastbar. Was hat sich so plötzlich geändert?

Zunächst muss festgehalten werden, dass alles wohl nicht ganz so plötzlich passiert ist. Spätestens seit 2012, als sich der in Miami ansässige Nord- und Mittelamerikanische Kontinentalverband Concacaf selbst wegen Steuerhinterziehung anzeigte und dessen ehemaliger Chef Chuck Blazer, seines Zeichens Mitglied der Fifa-Exekutive, als Informant zur Verfügung stellte, nehmen die US-Behörden ein Interesse an den Machenschaften der Fifa. Die USA waren bei der Abstimmung über die Vergabe der WM 2022 hinter Katar auf Platz zwei gelandet. Unmittelbar nach der Abstimmung hatte es aus dem Umfeld der US-Bewerbung Korruptionsvorwürfe gegen Katar gegeben. Der Ökonom Andrew Zimablist, der sich mit dem wirtschaftlichen Aspekt sportlicher Großereignisse beschäftigt, vermutet den Auslöser für die Ermittlungen an dieser Stelle.

Die zunehmenden Spannungen zwischen Russland und dem Westen im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt haben die Auseinandersetzungen um die WM-Vergabe eine zusätzliche Brisanz verliehen. Einige Fußballfunktionäre und Politiker haben offen von einem Boykott gesprochen – der ukrainische Präsident Petro Poroschenko rief explizit zu einem solchen auf.

Eine Fußball-WM gibt dem Ausrichter die Gelegenheit, sich im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit positiv darzustellen und bietet einen erheblichen Prestigegewinn, der gerne auch propagandistisch ausgeschlachtet wird. Dass die USA dem Rivalen Russland eine solche Plattform am liebsten wegnehmen würde, ist sicherlich mit ein Grund, warum so energisch daran gearbeitet wird, korrupte Machenschaften im Zusammenhang mit der WM-Vergabe nachzuweisen.

Doch selbst wenn man anerkennt, dass geopolitische Interessen ein Grund sind, warum ausgerechnet die US-Behörden jetzt gegen die Fifa tätig werden, sollte man nicht der Versuchung unterliegen, die Vorwürfe mit dem Argument abzubügeln, es würde sich dabei lediglich um eine westliche Verschwörung gegen Russland handeln. Die Vorwürfe sind nicht aus der Luft gegriffen, die Beweise erdrückend. Die Frage ist eigentlich, warum es so lange gedauert hat, bis jemand etwas unternommen hat. Europas Regierungen und Fußballverbände haben trotz gelegentlichen Murrens das System Blatter nie ernsthaft herausgefordert. Zwar wäre dies aufgrund der Mehrheitsverhältnisse innerhalb der Struktur der Fifa auch kaum möglich gewesen, doch auch von politischer oder juristischer Seite wurde nichts Wirksames unternommen.

Doch nicht nur Russland und Katar haben dem Anschein nach von fragwürdigen und undurchsichtigen Entscheidungsabläufen innerhalb der Fifa profitiert. Auch im Zusammenhang mit der WM 2014 sind Vorwürfe aufgetaucht. Dabei soll der brasilianische Ableger der deutschen Firma Bilfinger durch Bestechung Aufträge im Sicherheitsbereich erhalten haben. Die Liste lässt sich fortsetzen: Auch bei der Entscheidung zugunsten Südafrikas als Ausrichter der WM 2010 sollen Schmiergelder geflossen sein – schon zur WM 1998 habe es eine solche Praxis gegeben (damals von unterlegenen Bewerber Marokko). Und sogar Deutschlands „Sommermärchen“ 2006 bekommt bei näherer Betrachtung einige Kratzer, wenn man sich zahlreiche Ungereimtheiten im Zusammenhang mit der Vergabe des Turniers betrifft. Großzügige Geschäftsvereinbarungen zwischen deutschen Firmen und Ländern einiger Fifa-Exekutivmitglieder, die dann zu Unterstützern der deutschen Bewerbung wurden – die Vorwürfe sind nicht neu, und sie werden von Blatter-Unterstützern wieder vorgebracht, auch mit der Absicht, von aktuellen Skandal abzulenken. Doch auch hier gilt: Die Forderung nach einer Überprüfung der Ungereimtheiten ist berechtigt.

Was tun?

Von den korrupten System haben über die Jahre Regierungen und Fußballverbände auf der ganzen Welt profitiert – unabhängig davon, ob sie sich in der letzten Phase pro oder anti-Blatter gestellt haben. Von daher ist Kritik an den Machenschaften der Fifa von innerhalb der Welt der Fußballfunktionäre kaum glaubwürdig (Blatter erhielt immerhin nach der WM 2006 das Bundesverdienstkreuz). Daher sollten Fußballfans keinen Vertrauen haben in Ermittlungen und Untersuchungen haben, die von Regierungen und Fußballverbänden ausgehen – zu groß ist die Gefahr, dass es dabei nicht um umfassende Aufklärung, sondern um die Beförderung der eigenen Interessen geht. Eine grundsätzliche Änderung der Strukturen der FIFA, die die Korruption befördern, ist erst recht nicht zu erwarten.

Immerhin könnte Blatter trotz seines Rücktritts fast ein Jahr im Amt bleiben: Er behält seine Stellung als Präsident, bis ein außerordentlicher Fifa-Kongress einen Nachfolger gewählt hat. Dieser Kongress soll zwischen November und März stattfinden. Bis dahin will der noch-Präsident einen „Reformprozess“ anstoßen – er hat also noch ausreichend Gelegenheit, über seine gut eingespielten Seilschaften den weiteren Gang der Ereignis mit zu beeinflussen.

Die Entwicklung des Fußballs zeigt, wie der Kapitalismus sämtliche Bereiche des Lebens durchdringt und seinen Gesetzmäßigkeiten unterwirft. Das Massenpublikum macht gerade die WM zu einer begehrten Bühne für Sponsoren  und „offizielle Partner“, die der Fifa Millionenbeträge zahlen, um im Stadion und drumherum für sich zu werben und ihre Produkte zu verkaufen. Am anderen Ende der „Nahrungskette“ werden kleine HändlerInnen aus dem Stadienumfeld vertrieben, um die Monopolstellung der „offiziellen Partner“ zu schützen, Fans sehen sich mit hohen Eintrittspreisen konfrontiert, und in Katar schuften sich weiterhin Arbeiter auf den WM-Baustellen zu Tode.

Transparente und demokratische Entscheidungsstrukturen bei der Fifa sowie eine umfassende unabhängige Untersuchung der Korruptionsvorwürfe der letzten Jahrzehnte sind nötig. Ebenso eine völlige Neuorientierung bei der Organisation von Weltmeisterschaften und anderen sportlichen Großereignissen, bei denen Prestigeprojekte wie Stadionneubauten gegen die Interessen von (ärmeren) AnwohnerInnen und der Umwelt durchgesetzt werden, und bei denen die Profitmaximierung der Fifa (die sich von jedem WM-Gastgeberland Steuerfreiheit gewähren lässt) und ihrer Sponsoren im Vordergrund steht. Diese Probleme wird man nicht gänzlich im Kapitalismus lösen können, vielmehr sind sie zusätzliche Gründe dafür, warum das System als Ganzes abgeschafft werden muss.