Berlin: Tausende protestieren gegen Europa- und Asylpolitik

Stop Killing Refugees Zubringerdemonstration
Stop Killing Refugees Zubringerdemonstration

Am Samstag und Sonntag in der Hauptstadt große Demonstrationen gegen internationale Politik der deutschen Regierung

An zwei Tagen gingen bis zu 20.000 Menschen auf die Straße, um gegen die Flüchtlingspolitk der Merkels und der EU zu demonstrieren und Solidarität mit den Geflüchteten und Griechenland zu zeigen

von René Kiesel, Berlin

Unter dem wenig aussagenden Titel „Europa. Anders. Machen.“ oder „Remake.Europe“ fanden sich am Sonnabend, 20. Juni 2015 in Berlin bis zu 10.000 Menschen anlässlich einer bundesweit mobilisierten Demonstration ein. Ursprünglich als unterschiedliche Demonstrationen zu den Themen „Flüchtlingspolitik“ und „Solidarität mit Griechenland“ geplant, wurde ein gemeinsames Komitee für den 20. Juni gebildet. DIE LINKE, Teile der DGB-Gewerkschaften, attac und andere Gruppen und Parteien (darunter teilweise Grüne und SPD) warben in der ganzen Republik für den Protestmarsch von Oranienplatz (ehemals zentraler Ort der Berliner Flüchtlingsbewegung) zum Brandenburger Tor. Zeitgleich ist der 20. Juni der internationale Tag des Flüchtlings und die Demonstration soll den Ausgangspunkt einer Griechenland-Aktionswoche des Weltsozialforums bilden. Einen Tag danach gingen in Brüssel ebenfalls 5000 Menschen in Solidarität mit Griechenland auf die Straße.

Europa. Anders. Machen?

Die Breite der unterstützenden Organisationen, bis hin zu Parteimitgliedern in Grüne und SPD, die die soziale und Flüchtlingskatastrophe in Süden Europas mit zu verantworten, lässt Rückschlüsse auf den bewusst neutral gewählten Titel des Protestmarsches zu. Am Brandenburger Tor wurde ein Antirassistisches Konzert unter dem Slogan „Flüchtlinge Willkommen! Flucht ist kein Verbrechen!“ veranstaltet. Der Aufruf wendet sich gegen Entsolidarisierung, aufkeimenden Rassismus und Nationalismus und gegen die Spaltung Europas. Leider bleibt es bei moralischen oder symbolischen Aussagen, klare Aussagen zu nächsten Kampfschritten werden nicht getroffen – dafür allerdings darf gegen die Verschärfung des Asylrechtsgesetzes der bürgerlichen Regierung in Deutschland getanzt werden. Gerade weitere Angriffe auf das Asylrecht oder der anstehende Beschluss über Hilfskredite an den griechischen Staat (und weitere Erpressung), erfordern konkrete Vorschläge zum Widerstand dagegen. Wie beispielsweise die Streichung der Schulden des griechischen Staates. Wie beispielsweise Stopp aller Abschiebungen und Bleiberecht für alle Geflüchteten. Wie beispielsweise Stopp aller Rüstungsexporte (ob nach Griechenland oder Saudi Arabien) deutscher Waffenkonzerne. Ebenso hätten konkrete Vorschläge zur Organisierung des Kampfes größere Anziehungskraft bei der Mobilisierung zu bundesweiten Demonstrationen. Ein positives Beispiel dafür zeigen die verschiedenen Streiks in Deutschland und die betriebsübergreifende Solidarität, die sie erfahren. So war die Rede des ver.di-Sekretärs Kalle Kunkel zum anstehenden Streik der KollegInnen an der Charité eine willkommene Abwechslung zum politisch schwachen Aufruf der Demo. Auch dass KollegInnen von Amazon anwesend waren, zeigt, dass es ein Interesse der ArbeiterInnen gibt, über den eigenen Betrieb hinaus aktiv zu sein und sich zu politischen Fragen zu positionieren. Daran kann und muss angeknüpft werden.

Der Marsch der (Un-)Entschlossenen oder: Die (Un-)Toten kommen

Das „Zentrum für politische Schönheit (ZPS)“, eine Gruppe von internationalen KünstlerInnen, die durch radikale Aktionskunst eine alternative Außenpolitik betreiben wollen, haben vor allem die Großen im Visier: Rüstungskonzerne, Kriegstreiber der deutschen Regierung, die EU und nichtzuletzt die Vereinten Nationen. Ausgehend von eigenen Beobachtungen, haben sie die Aktion „Die Toten kommen“ ins Leben gerufen. Am 30. Mai verfolgten sie die Bergung von 17 von der EU-Außenpolitik ermorderten Flüchtlingen. Und deren unwürdige Behandlung im Anschluss, um den Skandal öffentlich zu machen. Auf die Empörung folgte die Aktion. Von Spenden finanziert und in Absprache mit den Familien der Getöteten, die oftmals nicht genau wissen, wo die Leichen bestattet werden, haben sie die menschlichen Überreste überführt und beigesetzt – auch als medienwirksame Aktion, um auf die Situation aufmerksam zu machen. Dies wurde von Teilen der bürgerlichen Öffentlichkeit als pietätlos dargestellt. Dass an den EU-Außengrenzen gestorbene Flüchtlinge kostensparend in anonymen Massengräbern verscharrt werden, entspricht dann wieder der Konformität bürgerlicher Moralvorstellungen.

Teil der Aktion war das Ausheben von Scheingräbern an öffentlichen Plätzen mit Holzkreuzen und politischen Botschaften versehen, um auf die Situation aufmerksam zu machen. Mittlerweile finden sich diese Flüchtlingsgräber sogar außerhalb Deutschlands. Seit heute auch in über hundertfacher Ausführung vor dem Bundeskanzleramt.

Als Höhepunkt der Kunstkampagne war „der Marsch der Entschlossenen“ von der Neuen Wache zum Bundeskanzleramt in Berlin geplant, um auf dem Vorplatz einen symbolischen Friedhof für die toten Geflüchteten zu errichten. Weder die Polizei, noch das ZPS rechneten mit der Teilnahme von 8000 Menschen an der Aktion. Die Demonstration wurde mit erheblichen Auflagen der Polizei versehen und der Platz vor dem Kanzleramt wurde für den Zutritt gesperrt – vergeblich. Denn bei 400 Anwesenden Polizeieinheiten fiel der Zaun ziemlich schnell und Gräber wurden gebraben, Kreuze aufgestellt und symbolische Särge beigesetzt.

Überrascht von der großen Teilnahme, waren die technischen Kapazitäten des Zentrums zu begrenzt, um die Demo mit Reden oder Sprechchören anzuführen. Doch die Stimmung war kämpferisch, die Teilnehmenden skandierten selbst Sprechchöre der Flüchtlingsbewegung wie „We are here and we will fight – freedom of movement ist everybody’s right.“ 

Auffällig war die Zusammensetzung der Demonstration. Abgesehen von Teilen der antifaschistischen Bewegung waren mehrheitlich nicht politisch organisierte Menschen anwesend – im Gegensatz zur Vortagsdemonstration. Sicher spielte eine Rolle, dass keine politische Partei sichtbar anwesend war, so auch nicht DIE LINKE. Dies spiegelte sich in fehlenden Forderungen oder Reden wieder, bzw. auch in einer mangelnden Perspektive, was auf die Aktion folgt. 

Die große Anzahl erklärt sich jedoch sicher aus an Hand anderer Aspekte: es war das Gefühl, selbst ein Zeichen setzen zu können, indem die Kanzlerinnengrünfläche in einen Friedhof verwandelt wird. Es war das Gefühl, die Empörung für die Katastrophe im Süden Europas und der Welt direkt zu den Verantwortlichen ins Regierungsviertel tragen zu können. Und es war eine der wenigen zentralen Kundgebungen, die im jetzigen Zeitraum in der Stadt statt finden. Das Zentrum für politische Schönheit spricht zusätzlich breitere Schichten der Bevölkerung an, was durch ihren zwar themenpolitischen, aber nicht allgemein politischen Bezug befördert wird.