Kobane in Gefahr

Foto: https://www.flickr.com/photos/mirallesnora/ CC BY-NC-SA 2.0
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Internationale Solidarität mit Rojava!

Seit Mitte September haben die mörderischen Banden des sogenannten Islamischen Staates die kurdische Stadt Kobane (arabisch: Ain-al-Arab) an der syrisch-türkischen Grenze attackiert. Dutzende Dörfer wurden überrannt, zehntausende Menschen sind geflohen. Kobane wird belagert, die IS-Einheiten sind den kurdischen VerteidigerInnen von der Bewaffnung her sowie zahlenmäßig überlegen. Viele KurdInnen hoffen jetzt auf Luftangriffe der US-geführten Allianz gegen die IS-Truppe und fordern die Lieferung von Panzerabwehrwaffen.

von Claus Ludwig, Köln

Flugblatt der SAV-Köln: [wpfilebase tag=file id=1976 tpl=simple /]

Wenn Kobane fällt, droht ein Massaker. Die reaktionären Killer des IS und deren Hintermänner hegen einen besonderen Hass gegen die links-orientierte kurdische Bewegung, weil diese sich dem IS mutig in den Weg stellt, für demokratische Rechte, das Selbstbestimmungsrecht der Kurden und die Gleichberechtigung der Frau eintritt.

Im Zuge des landesweiten Aufstandes gegen die Diktatur von Präsident Assad hatten sich 2011-2012 auch die im Norden Syriens ansässigen KurdInnen erhoben. Während der Rest Syriens in einem blutigen Chaos versank und sämtliche kämpfenden Seiten einen reaktionären Krieg gegen Teile der Zivilbevölkerung führten, entwickelten sich die kurdischen Gebiete, von der Bevölkerung „Rojava“ genannt, anders (Rojava heißt auf Kurdisch Westen, die kurdischen Gebiete Syriens werden als „Westkurdistan“ definiert).

Die Partei PYD, die eng mit der Türkei-basierten PKK, der Arbeiterpartei Kurdistans, verbunden ist, wurde zur stärksten Kraft. Sie bezog jedoch andere Kräfte ein, vor allem religiöse und ethnische Minderheiten. Mitten im Krieg entstand in Rojava ein autonomes Gebiet mit weitaus mehr demokratischen Rechten als im Rest des Landes. Es wurden militärische Einheiten namens YPG aufgestellt, die lediglich zur Verteidigung dienen. Die KurdInnen machten deutlich, dass sie keine anderen Communities angreifen werden. Die PYD versteht die Autonomie in Rojava als Alternative zu ethnischen und religiösen Konflikten in Syrien und im ganzen Nahen Osten.

Das kurdische Gebiet ist nicht zusammenhängend, sondern verteilt sich auf drei Gebiete, Kantone genannt: Efrin (arab: Afrin) im Westen nahe Aleppo, Kobane in der Mitte, südlich der türkischen Großstadt Urfa und das größte Gebiet um Qamislo (arab.: Qamisli) und Serekaniye (arab: Ras-al-Ain) sowie Heseke (arab.: Al-Hasaka) südlich der türkischen Städte Mardin und Cizre.

Seit 2013 haben die Angriffe des Islamischen Staates auf Rojava zugenommen. Bis zum Juli 2014 konnten die kurdischen Einheiten die Dschihadisten immer wieder zurückschlagen, obwohl diese neue Kämpfer über die für sie offene, für die KurdInnen allerdings geschlossene Grenze zur Türkei heranführen konnten. Inzwischen hat der IS im Irak erobertes schweres Gerät, Panzer und Artillerie, an Kobane herangeführt. Möglicherweise wurden schwere Waffen auch direkt seitens der Türkei geliefert. Gegen diese Übermacht können die mit leichten Infanterie-Waffen ausgestatteten kurdischen Verbände nur schwer bestehen, trotz ihrer hohen Kampfmoral.

US-Bomben für Kobane?

Die VerteidigerInnen von Kobane fordern die „internationale Gemeinschaft“ auf, ihnen zu Hilfe zu kommen und sie gegen die weitaus besser ausgerüsteten IS-Einheiten zu unterstützen. Sprecher kurdischer Organisationen haben gefordert, dass die US-Luftwaffe und deren Verbündete auch die IS-Einheiten vor Kobane angreifen und nicht nur Ziele im Hinterland.

Diese Hilferufe sind absolut verständlich. Auch viele der kurdischen KämpferInnen mögen wissen oder ahnen, dass der US-Imperialismus keine Lösung für die Region hat und ein schmutziges Spiel spielt. Aber sie stehen einer Bande von Halsabschneidern gegenüber, die eine unmittelbare Gefahr für das Leben von Zehntausenden Menschen darstellen. Die andere Gangsterbande, angeführt für die USA, mag die Region zukünftig in noch schlimmeres Chaos stürzen, aber aktuell würde deren Luftangriffe auf die Stellungen der IS vor Kobane den VerteidigerInnen Spielraum verschaffen.

Die US-Luftwaffe und ihre Verbündeten haben nach Medienberichten zum ersten Mal am 26.  September Stellungen der IS direkt an der Kobane-Front angegriffen, nachdem sie mehrere Tage lang den IS im Irak, Ölverarbeitungsanlagen im Osten Syriens, die „Hauptstadt“ des IS in Raqqa sowie den Grenzübergang Tall Abad bombardiert hatten.

Doch auch nach diesem ersten Eingreifen an der Kobane-Front wäre es naiv zu glauben, dass die USA die Stadt und die kurdische Autonomie durch die Zerschlagung der IS-Belagerung retten wollen. Es ist zwar möglich, aber keineswegs sicher, dass sie weitere Schläge gegen den IS austeilen, um die Eroberung der Stadt zu verhindern. Würden die IS-Killer Kobane im Sturm nehmen, würde das sowohl das Prestige des US-Imperialismus beschädigen als auch zu Problemen für die Türkei führen. Trotzdem ist es nicht auszuschließen, dass die USA und ihre Verbündeten es der IS überlassen, die kurdische Autonomie zu erwürgen.

Die USA führt die „Anti-IS-Koalition“ aus vierzig Staaten, darunter die reichsten und industriell sowie militärisch am meisten entwickelten Länder der Welt. Sie könnten sämtliches schweres Gerät des IS vor Kobane im Handumdrehen vernichten. Die Stellungen  liegen nicht im Hochgebirge oder im Dschungel, sondern relativ ungeschützt in einer steppenähnlichen Landschaft. Sie hätten das schon im Lauf der letzten Tage erledigen können. Dass dies noch nicht passiert ist, zeigt, dass der IS nicht komplett geschlagen werden soll, zumindest nicht um den Preis der Stärkung der kurdischen Selbstverteidigungskräfte.

Aber es könnte sowohl den USA als auch der Regierung Erdogan nutzen, wenn die Belagerung bestehen bleibt und sich IS und YPG-Einheiten gegenseitig aufreiben und neutralisieren. Dies könnte den USA Zeit geben, aus der „gemäßigten“ pro-kapitalistischen syrischen Opposition eigene Bodentruppen zu rekrutieren, um doch noch ihrem eigentlichem Ziel, den Sturz des Assad-Regimes, näher zu kommen.

Erdogan will Bodentruppen

Diese Situation könnte auch den Boden bereiten für ein türkisches Eingreifen in Nordsyrien, welches ohne Zweifel die Zerschlagung der Autonomie von Rojava zur Folge hätte. Der türkische Präsident Erdogan hat am 26. September angekündigt, sich am Kampf gegen die IS zu beteiligen und erklärt, dass Luftschläge alleine nicht reichen, sondern Bodentruppen nötig wären. Er hat vorgeschlagen, eine „Pufferzone“ im Norden Syriens einzurichten.

Dieses zynische Manöver von Erdogan würde von Obama und Merkel wohl als mutiger Schritt im „Kampf gegen den Terror“ gepriesen werden. Die Bundeswehr wäre an diesem Schritt zur Ausschaltung der kurdischen Autonomie und zum Angriff auf syrisches Territorium durch die „Operation Active Fence“ („Aktiver Zaun“) direkt beteiligt, denn die – in der öffentlichen Debatte hierzulande ausgeblendeten – Bundeswehr-Stellungen mit Patriot-Raketen und 420 SoldatInnen in Kahramanmaras und Gaziantep würden den Vormarsch des NATO-Verbündeten gegen mögliche Gegenwehr der syrischen Luftwaffe unterstützen.

Bis heute hat der türkische Staat den IS aktiv unterstützt – und wird dies wahrscheinlich auch weiterhin, ab jetzt wohl nicht mehr ganz so offen, tun; ähnlich wie der pakistanische Geheimdienst, der am US-geführten „Krieg gegen den Terror“ beteiligt ist und gleichzeitig als Verbündeter der Taliban im eigenen Land und Afghanistan operiert.

Der Islamische Staat kann offen in der Türkei um Unterstützung werben, islamistische Söldner konnten ungehindert durch die Türkei nach Syrien einreisen, verwundete Kämpfer werden dort versorgt und Waffen wurden bis vor wenigen Tagen geliefert.

Die Lage in Kobane ist verzweifelt und die Menschen dort begrüßen jede Art von Unterstützung, egal, woher sie kommt. Die grausame Wahrheit ist allerdings: Es gibt keine „internationale Gemeinschaft“, die sich für demokratische Werte und Menschenrechte einsetzt. Es gibt Bündnisse von kapitalistischen Staaten, die ihre Profit- und Machtinteressen durchsetzen, dabei die Lager wechseln, mit gefälschten Karten spielen, mal die eine, mal die andere Seite unterstützen.

Die USA bombardieren den Irak und Syrien nicht, um demokratische Verbesserungen durchzusetzen, sondern um ein unkontrolliertes Auseinanderbrechen dieser Staaten zu verhindern. Eines der von ihnen selbst geschaffenen Monster ist außer Kontrolle geraten und soll gestoppt oder zumindest gestutzt werden. Gleichzeitig nutzen sie den weltweiten Abscheu vor den Bestialitäten der Dschihadisten, um ihr Militär als einzige schnell greifbare Alternative ins Spiel zu bringen und mit Feinden abzurechnen, die sie sich bisher nicht anzugreifen trauten wie das syrische Assad-Regime.

Alternative zum Imperialismus

Die Bomben der US-Flieger treffen nicht nur die IS-Kämpfer, sondern auch die überwiegend sunnitische Zivilbevölkerung in den von den IS kontrollierten Gebieten. Sie werden dort neuen Hass und neue Spaltungen generieren und  den religiösen und nationalistischen Sektierern jeder Couleur das Geschäft erleichtern.

Die Lösung des Imperialismus für den Nahen Osten basiert auf permanenter militärischer Gewalt und der Aufrechterhaltung von Ausbeutung und repressiven Regimes. Frieden und demokratische Rechte sind nicht in Sicht. Das können nur die Völker selber schaffen, die unterdrückten und ausgebeuteten Massen, indem sie sich zusammenschließen, über nationale und religiöse Grenzen hinweg, und einen gemeinsamen Kampf für ihre gemeinsamen sozialen Interessen führen.

Dazu ist der Aufbau einer multiethnischen, demokratischen Arbeiterbewegung – von Selbstverteidigungsmilizen, Gewerkschaften und Arbeiterparteien – nötig, die auf Basis eines sozialistischen Programms die ArbeiterInnen und Armen der unterschiedlichen Ethnien und Religionen vereinigen kann.

Die führenden politischen Kräfte in der kurdischen Autonomie-Region Rojava, v.a. die Partei PYD, die mit der in der Türkei basierten PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) verbunden ist, erheben den Anspruch, eine demokratische Alternative zu den reaktionären Bewegungen und Despoten in der Region zu vertreten.

In den YPG genannten militärischen Einheiten in Rojava sind auch ethnische und religiöse Minderheiten vertreten. Die YPG agieren, zumindest gibt es keine anders lautenden Berichte, als Selbstverteidigungskräfte. Sie streben nicht die Eroberung von Territorium an, sondern verteidigen die überwiegend kurdischen Dörfer und Städte gegen Angriffe seitens des Islamischen Staats oder anderer reaktionärer, sektiererischer Kräfte.

Die linke kurdische Bewegung um die PKK und die PYD erheben den Anspruch, für die Befreiung der Frau zu kämpfen und die demokratischen Rechte aller Minderheiten zu garantieren.

Zum jetzigen Zeitpunkt ist nicht erkennbar, dass die linke kurdische Bewegung eine Strategie zum Sturz des Kapitalismus und zum Aufbau eines sozialistischen Nahen Ostens verfolgt. Tatsächlich gibt es wohl auch innerhalb dieser Bewegung die Illusion, eine demokratische Autonomie für die Kurden und andere Minderheiten bei Fortexistenz des Kapitalismus erreichen zu können.

Zudem besteht die Gefahr, dass sich ohne einen Kampf für soziale Gleichheit und ohne wirkliche demokratische Kontrolle sowie Selbstorganisation der Massen bürokratische und repressive Strukturen entwickeln, wie sie in vielen Ländern nach dem Sieg von nationalen Befreiungsbewegungen entstanden.

Aber allein das Eintreten für Frauenrechte, die Abwesenheit religiöser und ethnischer Gewalt, allein die Botschaft, für einen neuen, demokratischen Nahen Osten einzutreten, welche von der linken kurdischen Bewegung ausgehen, sind eine Bedrohung für die Islamisten, die regionalen Regime – v.a. für die türkische Regierung Erdogan – und den US-Imperialismus.

In Kobane sind nicht „nur“ viele Menschen durch die reaktionären Mordbrenner bedroht, dort wird auch ein Ansatz für eine Alternative im Nahen Osten verteidigt. Die Arbeiterbewegung und die Linke weltweit müssen handeln.

Soziale Revolution

Die linke kurdische Bewegung kann in den regionalen und globalen Imperialisten keine Bündnispartner finden. Ebenso würde es nicht reichen, wenn die Kurden sich einig wären. Es geht darum, eine wirklich multiethnische, multireligiöse Bewegung gegen Unterdrückung und Ausbeutung aufzubauen. Dies wird nur möglich sein, wenn es auch gelingt, die sunnitischen und schiitischen Massen sowie andere Minderheiten zu erreichen.

Der IS ist nicht nur wegen seiner reichen Geldgeber und seiner ungeheuren Brutalität stark geworden, sondern auch, weil er in den vom ihm kontrollierten Gebiet Stabilität und Abwesenheit von Krieg verspricht, weil er den Brotpreis gesenkt hat. Er hat eine Basis unter den verarmten Sunniten. Dieser soziale Rückhalt muss untergraben werden.

Die sunnitischen Communities in Irak und Syrien befinden sich in einer Verteidigungshaltung. Sie sind von der politischen Macht ausgegrenzt worden. Sie wurden und werden durch die Flieger Assads in Syrien und der US-geführten Koalition im Irak bombardiert.

Die britische Zeitung Independent kommentierte am 26.9.2014:

“Viele Sunniten in Mossul oder Raqqa, der Hauptstadt des Islamischen Staates, mögen diesen nicht. Sie sind von der Gewalt und deren vorsintflutlichen Werten abgeschreckt … aber sie haben noch mehr Angst vor den zurückkehrenden irakischen oder syrischen Armeen, die von mörderischen Pro-Regierungsmilizen begleitet werden und die Gebiete mit Hilfe alliierter Luftschläge unterwerfen wollen.”

Eine linke Bewegung im Nahen Osten müsste für Ziele kämpfen, die alle unterdrückten Völker und Ausgebeuteten nachvollziehen können. Demokratie alleine reicht nicht, die soziale Frage und damit die Eigentumsfrage müsste aufgeworfen werden. Eine linke Bewegung sollte erklären, dass die Ausbeutung des Ölreichtums durch Konzerne und regionale Despoten beendet werden muss, dass die Quellen und Raffinerien in öffentliches Eigentum unter der demokratischen Kontrolle der Beschäftigten und der Bevölkerung überführt werden müssten, um den Lebensstandard zu heben.

Von Rojava müsste die Botschaft ausgehen, dass es nicht “nur” um die Rechte der kurdischen Bevölkerung geht, sondern um die demokratischen Rechte aller geht sowie um die Perspektive einer sozialen Revolution für die gesamte Region. Dann würden die Chancen steigen, die Solidarität zu verbreitern und Teile der Basis der diversen nationalistischen und religiösen Sektierergruppen zu gewinnen. Allein deswegen wäre es schädlich für Rojava, wenn die kurdischen Organisationen auf eine Kooperation mit dem US-Imperialismus oder der korrupten Regierung Barzani im Nordirak setzen würden, die zu Recht bei vielen verhasst sind.

Der Widerstand gegen nationale Unterdrückung und religiöses Sektierertum in Rojava hat zu Solidarität geführt. Nicht nur KurdInnen, sondern auch Angehörige linker Gruppen aus der Türkei versuchen den Grenzübertritt nach Kobane, um den Kampf zu unterstützen.

In Deutschland hat die Partei Die LINKE. eine solidarische Position zu Rojava bezogen. Aber auf den Demonstrationen war bisher zu wenig von ihr zu sehen. Es ist nötig, dass die LINKE. diese Frage aktiv aufgreift und das Thema auch in die Gewerkschaften hinein trägt.

Der Widerstand der Linken und der Arbeiterbewegung sollte sich um folgende zentrale Punkte drehen

  • Solidarität mit Rojava und dem Widerstand der kurdischen Bevölkerung
  • Sofortige Aufhebung des Verbots der PKK und anderer kurdischer Organisationen in Deutschland
  • Organisierung von Hilfslieferungen für Rojava durch die internationale Gewerkschaftsbewegung
  • Sofortiger Abzug der Bundeswehr-Einheiten aus der Türkei
  • Keine Waffenexporte an die Türkei und die Barzani-Regierung im Nordirak, Einstellung sämtlicher militärischer und polizeilicher Zusammenarbeit mit der Türkei
  • Öffnung der türkisch-syrischen Grenze für alle Flüchtlinge aus Syrien und alle, die aus der Türkei nach Kobane wollen, um den Kampf zu unterstützen
  • Nein zur Festung Europa und zum mörderischen Grenzregime – Flüchtlinge aufnehmen statt sie zu bekämpfen
  • Kein Vertrauen in den Imperialismus – nein zur Intervention von USA, NATO, Türkei und arabischen Regimes in Syrien
  • Nein zu Unterdrückung und Kapitalismus – für Regierungen von demokratisch gewählten VertreterInnen der Arbeitenden und Armen, für einen sozialistischen Staatenbund des Nahen Ostens