Sozialismus und nationale Rechte

Foto: https://www.flickr.com/photos/mediactivista/ CC BY-NC-SA 2.0
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Ukraine, Israel/Palästina und andere Länder

von Peter Taaffe, CWI

Der blutige Konflikt in der Ukraine und das Schlachten der palästinensischen Bevölkerung in Gaza hat das Thema der „nationalen Frage“ einmal mehr auf die politische Tagesordnung gesetzt. Wie können wir einen Weg finden, um an die Lösung dieser scheinbar uralten, unlösbaren Probleme zu gehen? Diese Frage stellt sich für die ArbeiterInnenbewegung vor allem in den Regionen, die unmittelbar von Krieg betroffen sind, aber auch für die internationale ArbeiterInnenbewegung. Ein Kommentar von Peter Taaffe.

Die Ereignisse der letzten Monate haben deutlich untermauert, dass die verschiedenen kapitalistischen Mächte nicht willens und völlig unfähig sind, eine demokratische und gerechte Lösung für die Situation in der Ukraine anzubieten. Die schiere Heuchelei des US-Imperialismus und europäischen Kapitalismus auf der einen Seite und Russlands oligarchisches Putin-Regime auf der der anderen, werden mit dem Versuch, sich als die Verteidiger der „unterdrückten Nationen und Minderheiten“ auszugeben, wenige ArbeiterInnen zum Narren halten können. Es ist eine reine Profitrechnung, in Verbindung mit ihren strategischen politischen und militärischen Interessen, die auf dem Spiel stehen. „Das Recht zur Selbstbestimmung“ ist politisches Kleingeld, eine hohle Phrase, die schnell verworfen werden wird, sobald sie ihnen im Weg ist.

„Wir werden Russland durch Sanktionen verkrüppeln“ warnen die großen westlichen imperialistischen Mächte, geführt von den USA. „Wir werden uns mit eigenen Sanktionen rächen, beginnend mit dem Einfrieren sich in Russland befindlicher Vermögen von britischen Unternehmen, einschließlich Shell und British Petrolium (BP)“, antwortet das Putin-Regime.

Während die KapitalistInnen und ihre Parteien und RepräsentantInnen keine Lösung haben, zeigt die Linke, einschließlich einiger, die sich selbst als MarxistInnen bezeichnen, völlige ideologische Verwirrung und Hilflosigkeit angesichts der schrecklichen nationalen und ethnischen Konflikte in der Ukraine und im Nahen Osten.

Beispielsweise verkündet ein Flugblatt, verteilt von „Solidarity with the Antifascist Resistance in Ukraine“ (Solidarität mit dem antifaschistischen Widerstand in der Ukraine)“ auf der kürzlichen Londoner Demonstration zu Gaza: „Wir sind gegen die Unterstützung des rechtsextremen Regimes in Kiew durch die britische und andere westliche Regierungen“. Daran ist nichts falsch, speziell weil die Regierung in Kiew sich in ihrer mörderischen Kampagne in der Ostukraine auf rechte und sogar neofaschistische Kräfte gestützt hat.

Aber wo ist eine ebenbürtige Verdammung des imperialistischen russischen Oligarchen-Regimes Putins, das offen seine Absicht, das „nahe Ausland“, einige Länder der früheren Sowjetunion, zu dominieren zeigt und in diesem Prozess demokratische und nationale Rechte mit Füßen tritt?

Das wird nicht erwähnt, aber ein bekannter Unterstützer dieser Kampagne erklärte auf ihrer Auftakt-Veranstaltung: „Es ist nicht meine Aufgabe, die russische Oligarchie zu kritisieren, aber würde ich sie kritisieren, dann nicht dafür, zu viel zu intervenieren sondern dafür, dass sie überhaupt nicht eingreift!“ Er erklärte unglaublicherweise auch, dass die „nationale Frage kein Thema“ in der Ukraine sei und dass er, wenn auf einer Seite US-Imperialismus, NATO, Angela Merkel, Con-Dem-Regierung (britische Regierung aus Konservativen und LiberaldemokratInnen) und ukrainische FaschistInnen stehen, wisse auf welcher Seite er steht. Die klare Folgerung daraus ist, dass die ArbeiterInnenbewegung – zur Erinnerung: das kommt von einem „Marxisten“ – auf der Seite von Putins oligarchischem Regime und seiner Intervention in der Ukraine stehen sollte.

Wir andererseits haben stets die legitimen nationalen Ansprüche der Volksgruppen der Ukraine, Krim und so weiter betont und zugleich rechtsextreme und offen faschistische Kräfte in der Ukraine, die bei den kürzlichen Wahlen nicht mehr als 3% der Stimmen bekamen, abgelehnt und bekämpft. Zur gleichen Zeit versuchen wir, Klasseneinheit zu formen und zementieren indem wir ehrliche, sozialistische Kräften kritisch unterstützen, auch wo sie schwach sind.

Keine Patentrezepte

Es ist wesentlich, die ernstgemeinten demokratischen und nationalen Forderungen der Bevölkerungsgruppen der Ukraine und in der Region zu unterstützen. Beispielsweise war es in Verbindung mit der Krim richtig, das Recht auf Selbstbestimmung – einschließlich einer Abspaltung von der Ukraine, die offenbar der Wunsch der überwältigenden Mehrheit ihrer BewohnerInnen war – zu unterstützen. Zeitgleich haben MarxistInnen die Pflicht, die Rechte aller Minderheiten zu verteidigen während sie aufrichtige Unabhängigkeitsbewegungen kritisch unterstützen; im Fall der Krim jene der TatarInnen und anderer.

Es wurde reklamiert, dass das Referendum auf der Krim nicht fair und frei von Zwang durchgeführt wurde. Es bestehen aber kaum Zweifel daran, dass eine Mehrheit der Bevölkerung eine Rückkehr zu Russland bevorzugte. Jedenfalls könnten alle Zweifel, entweder durch die demokratische Wahl einer revolutionären konstitutionellen Versammlung – einem Parlament – einberufen von Massenkomitees, um den Willen der Bevölkerung durchzusetzen oder durch ein demokratisches Referendum beseitigt werden.

Heißt das, dass wir Separatismus und das Zerbrechen von formell verbundenen Staaten befürworten? Nein, nicht automatisch. Es gibt keine ein für allemal gültigen Patentrezepte, was die nationale Frage betrifft. Die zugrundeliegende Situation in der Ukraine ist sehr beweglich. Was in einem gewissen Stadium eine korrekte Forderung ist kann von den Ereignissen überholt werden.

Aber wir unterstützen keinen erzwungene Zugehörigkeit einer Gruppe oder Nationalität zu einem Staat, den sie aufgrund seiner Handlungen als Unterdrücker sehen. Wir treten für eine freiwillige, sozialistische Föderation ein. Durch diese Methode wurde die wirkliche „Sowjetunion“ von Lenin und Trotzki – und nicht die stalinistische Karikatur, die über die Dominanz der zentralisierten bürokratischen Elite Russlands hinwegtäuschen sollte – geschaffen.

Aber wie Lenin vor über 100 Jahren zu diesem Thema erklärte, kann eine neue, notwendigerweise sowohl demokratische als auch sozialistische, Gesellschaft nicht auf dem auch nur „geringsten Zwang“ gegen irgendeine Nationalität oder Gruppe aufgebaut werden. Im Allgemeinen gilt das Recht auf Selbstbestimmung für eine Nationalität, verbunden mit einer bestimmten territorialen Einheit. Das können manchmal Städte oder kleinere Einheiten sein, die sich selbst gesondert von anderen Ländern oder Regionen sehen. Zum Beispiel haben wir die Möglichkeit einer künftigen eigenen Einheit Brüssel aufgezeigt – in einer belgischen sozialistischen Föderation – deren Bevölkerung sich selbst als anders betrachtet als jene der Wallonie oder der flämischen Region.

Ähnlich könnte der Kampf in der Ukraine, speziell im Osten, durch den blutigen Konflikt der dort zur Zeit herrscht so zerstückelt werden, dass das Ergebnis nicht ein zusammenhängender Staat oder Kleinstaat sondern ein Prozess der Aufteilung der Region ist. In der Millionenstadt Donezk, die von der ukrainischen Regierung bombardiert wurde und Gefahr läuft, eine Geisterstadt zu werden, könnte eine Situation entstehen, in der die Bevölkerung die Unabhängigkeit von sowohl Russland als auch der Ukraine fordert. Es wäre die Pflicht von MarxistInnen, die Bevölkerung der Stadt dabei zu unterstützen, wenn sie das verlangt, und dies zugleich mit einer sozialistischen Föderation der Ukraine und der Region zu verknüpfen.

So ein Ergebnis wäre alles andere als fantastisch mögen KritikerInnen behaupten. Die einpolige Welt – mit den USA als dominanter Weltmacht, die allen Entwicklungen ihren Stempel aufdrücken kann – gehört der Geschichte an. Die USA sind immer noch die wichtigste wirtschaftliche und militärische Macht und werden das auch noch für eine Weile bleiben. Aber ihre Macht kennt Grenzen. Es ist ein neues „Post-Irak-Syndrom“ entstanden, die ausgeprägte Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung untermauert die Opposition zu einer permanenten „Bodeneinsatz“-Interventionspolitik. Bombardements aus der Luft und der ausgedehnte Einsatz von Drohnen sind jetzt die bevorzugte Wahl. Andererseits erreichen solche Bombardements oft das Gegenteil von dem, was geplant ist.

Israel-Pälestina

Nur eine abgerundete marxistische Analyse kann uns wie der Faden Ariadnes durch das Labyrinth der nationalen Frage führen. Das gilt besonders für die komplexe Frage der nationalen Rechte der palästinensischen und israelischen Bevölkerung, was nun einmal mehr durch den Gaza-Konflikt verdeutlicht wird, der mit zahllosen Toten und der Vertreibung von einem Viertel der 1,2 Millionen-Bevölkerung an Grosny erinnert.

Das CWI hat immer wieder erklärt, dass der Weg aus diesem blutigen Konflikt, der die Rechte von PalästinenserInnen und Israelis sichert, die langfristige Lösung von zwei Staaten – einem sozialistischen Palästina und einem sozialistischen Israel – mit Jerusalem als einer möglichen gemeinsamen Hauptstadt, in Verbindung mit einer sozialistischen Föderation ist. Diese Idee, neben unserer Opposition zu unterschiedslosen Sanktionen gegen Israel – weil diese israelische ArbeiterInnen weiter in die Arme der israelischen Regierung und Rechten treiben könnten – ist nun in den USA von der „International Socialist Organisation (Internationale Sozialistische Organisation, ISO)“, die mit der britischen „Socialist Workers Party (Sozialistische ArbeiterInnenpartei, SWP; in Österreich „Linkswende“) in Verbindung steht, attackiert worden.

Sie kritisierten am 17. August die US-amerikanische UnterstützerInnen des CWI, die Socialist Alternative (Sozialistische Alternative), indem sie schrieben, dass „ihre Haltung zu israelischen, jüdischen ArbeiterInnen mit der politischen Position ihrer internationalen Gruppierung, zu der sowohl Socialist Alternative als auch die Socialist Party in Britannien gehören, dass Israel ein historisch begründetes Existenzrecht habe, übereinstimmen…Dieser Glaube an das Recht Israels auf eine eigene Nation beeinflusst die Position von Socialist Alternative und dem CWI zu den BDS (boycott, disinvestment and sanctions campaigns; Boykott-, Investitionsabbau- und Saktionskampagnen). Aber das basiert auf einer grundsätzlich falschen Sicht auf das sozialistische Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker. In der Tradition des wirklichen Marxismus gibt es keine Unterstützung für die Position, dass ein kolonialer Siedlerstaat – der per Definition ein Apartheidstaat ist, ob das nun ein jüdischer Staat ist, in dem Nicht-Juden politisch entrechtet werden oder der Apartheidstaat in Südafrika, in dem nicht-weiße SüdafrikanerInnen politisch entrechtet wurden – ein Recht zu existieren hat“.

Das Recht auf Selbstbestimmung ist kein „sozialistisches Prinzip“, wie die ISO behauptet, sondern eine demokratische Aufgabe. Wirkliche demokratische Prinzipien werden in dieser Epoche durch die sozialistische Revolution unterstützt und beschlossen. Wir haben diese Argumente der ISO und anderer vielmals beantwortet. In „Marxism in Today’s World (Marxismus in der heutigen Welt)“ schrieben wir: „Das wichtigste Gesetz der Dialektik ist, dass die Wahrheit konkret ist. In historischer Hinsicht ist es unbestritten, dass der Trotzkismus, angefangen bei Trotzki selbst, die Formung eines jüdischen Staates auf dem Territorium von Palästina ablehnte. Das war seine grundsätzliche Position in der Zwischenkriegszeit. Er änderte seine Haltung jedoch, nachdem die Juden- und Jüdinnnenverfolgung der Nazis spürbar wurde. Eine neue Situation war entstanden. Trotzki war immer flexibel bei der Berücksichtigung neuer, wichtiger Faktoren. Es gab beim jüdischen Teil der Bevölkerung den Drang, Deutschland und Europa zu verlassen und damit einhergehend vermehrt Unterstützung für den Traum eines neuen Heimatlandes. Trotzki folgerte, dass im Sozialismus, wenn die Juden und Jüdinnen einen Staat, zum Beispiel in einem Teil Afrikas, mit der Zustimmung der afrikanischen Bevölkerung, oder in Lateinamerika wollen, sollte das in Betracht gezogen werden, aber nicht in Palästina. Dort wäre er eine blutige Falle für die Juden und Jüdinnen. Es ist verblüffend, wie sich diese Vorhersage bestätigt hat… Die trotzkistische Bewegung lehnte die Schaffung eines separaten jüdischen Staates in Israel ab weil diese einen Keil in die arabische Revolution trieb. Israel wurde als ein Resultat der Kolonialisierung der arabischen Länder durch die Vertreibung der PalästinenserInnen und der Verwendung einer Mischung aus radikaler und sogar „sozialistischer“ Rhetorik, gerichtet an die jüdische Bevölkerung, die dem Albtraum des Holocaust und des zweiten Weltkriegs entkommen war, geschaffen.“

Zum Thema der kolonialen Siedlerstaaten erklärten wir: „Ein Staat oder eine Reihe von Staaten kann durch die brutale Vertreibung von Völkern geschaffen werden. Man sehe sich die Vertreibung der griechischen Bevölkerung aus vielen Teilen von Kleinasien und der TürkInnen aus Griechenland nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches an. Wenn man versucht, zurückzugehen und die Karte neu zu zeichnen, würde man jetzt einen großen Austausch von Bevölkerungen machen müssen. Als ein Ergebnis der fürchterlichen Verbrechen an den Juden und Jüdinnen in Europa unter dem Nazi-Kapitalismus wurde dies später als Rechtfertigung für ein Verbrechen gegen das palästinensische Volk verwendet. Das bleibt eine unbestreitbare historische Tatsache.

Wie auch immer, die Realität ist heute, dass im Laufe der Zeit eine jüdisches oder israelisches Nationalbewusstsein geschaffen wurde. Was sagen MarxistInnen dazu? Ignorieren sie einfach die reale Situation und verbleiben bei der alten Position? Die Lösung der… [ISO] und anderer Linker ist ein palästinensischer Staat – der ursprünglich unsere Position war – mit Autonomierechten für die Juden und Jüdinnen. Sie schlagen das in einem bürgerlichen Kontext vor, während wir es immer in einem sozialistischen Rahmen vorbrachten. Wir vertreten nicht die Position einer Zwei-Staaten-Lösung auf einer bürgerlichen Basis, wie das beispielsweise einige Kleingruppen tun. Das ist ein utopischer Traum“.

Frühere Vorschläge sahen nur vor, dass ein kleiner Bereich des historischen Palästina an das palästinensische Volk gehen soll. Das Angebot des früheren israelischen Premierministers „Olmert zu einer Wiederabspaltung Palästinas, die jetzt nicht mehr auf der Tagesordnung steht, hätte den PalästinenserInnen nur 10% als Staat überlassen. Das ist ein Bantustan (So nannte die weiße Apartheids-Ideologie die „schwarzen Gebiete“ Südafrikas, Anm.). Es ist, was die PalästinenserInnen betrifft, kein lebensfähiger Staat. Es gibt keine Möglichkeit einer existenzfähigen, kapitalistischen Zwei-Staaten-Lösung. Ein vorübergehendes Abkommen kann nicht ausgeschlossen werden, aber das ist keine Lösung für die nationalen Probleme, weder für die PalästinenserInnen noch für die Israelis. Nichtsdestotrotz ist die Idee einer Zwei-Staaten Lösung, eines sozialistischen Palästina und eines sozialistischen Israel innerhalb einer sozialistischen Föderation des Nahen Ostens zum jetzigen Zeitpunkt eine korrekte programmatische Forderung“. (Marxism in Today’s World, Edition 2013)

Zweifellos weisen ISO und andere die Idee einer sozialistischen Föderation im Nahen Osten als unrealisierbare Lösung für die Probleme der Massen in der ganzen Region zurück. Aber selbst die KapitalistInnen schätzen die riesigen ökonomischen Vorteile, die aus der Einrichtung einer solchen Föderation fließen würden, nicht so gering: „Zum Beispiel hat Ägypten billige Arbeitskräfte aber eine hohe Jugendarbeitslosigkeit. Das angrenzende Libyen hat ein Übermaß an Kapital, riesige Infrastrukturprojekte und einen unstillbaren Bedarf an Arbeitskräften. Die Türkei hat Fachkenntnisse im Bereich Flughafen-, Brücken- und Straßenbau. Diese Punkte bedürfen einer Verbindung. Unseren Recherchen zufolge wurden Ägypten in den letzten Monaten mindestens 20 Milliarden US-Dollar zugesichert, aber ohne einen langfristigen Plan. Die Arabische Liga, die existierende regionale Struktur, hat nicht die Glaubwürdigkeit, Fertigkeit oder Kreativität, um diesen Nationen zu helfen, an einem Strang zu ziehen“. (Financial Times, 20. Juni 2014)

Die KapitalistInnen im Nahen Osten sind unfähig, ein solches Projekt zu realisieren. Die ArbeiterInnenklasse wäre jedoch fähig, durch gemeinsame Arbeit und der Schaffung eines demokratischen Sozialismus in der ganzen Region, eine sozialistische Föderation zu erschaffen.

Boykottkampagnen gegen Israel

Die ISO hat einen plumpen Vergleich zwischen dem heutigen Israel und der Apartheid in Südafrika gebracht. Dass wird ihre Kritik am CWI jedoch nicht stärken sondern untergraben. Im Gegensatz zu dem, was die ISO behauptet, gibt es tiefgehende Unterschiede zwischen dem südafrikanischen Apartheid-Regime und Israel, vor allem aus demographischer Sicht. In Südafrika waren die schwarze und andere Bevölkerungsgruppen sieben mal so groß wie die weiße. Die Situation in Israel und Palästina ist jetzt eine andere. Die israelische Bevölkerung wird kämpfen, wenn sie mit Vernichtung bedroht wird.

Wir haben in Marxism in Today’s World geschrieben: „Selbst das ,Friedenslager‘ wird kämpfen, wenn ihr Recht auf einen separaten Staat gefährdet ist. Deshalb sind Übergangsforderungen notwendig, um Zugang zu den Massen zu finden. Wir sagen: Ihr entscheidet, was die Grenzen eines zukünftigen Staates in einer sozialistischen Föderation sein werden. Es ist sogar möglich, dass die Israelis und PalästinenserInnen auf der Basis einer sozialistischen Revolution im Nahen Osten entscheiden würden, dann in einem gemeinsamen Staat mit Autonomierechten für beide zu leben. Das können wir nicht voraussagen. Aber die Dialektik der Situation ist, dass, wenn man versucht, ihnen einen Staat aufzuzwingen, sie das ablehnen werden.

Israel ist eine offene Wunde in der Region. Eine Schlüsselfrage für die Revolution im nahen Osten ist, wie man die israelischen ArbeiterInnen von ihrer herrschenden Klasse abspalten kann. Wenn man sie herausfordert und die Idee eines israelischen Heimatlandes bedroht, hat man keine Chance, diese Aufgabe zu erfüllen.“

Im Moment müssen wir der Tatsache, dass das palästinensische und jüdische Volk entschieden haben, dass sie nicht in einem Staat leben können, ins Auge sehen. Das ist ihr Bewusstsein. Was sagen MarxistInnen und TrotzkistInnen in dieser Situation? Die ISO wiederholt einfach dogmatisch abstrakte Formeln, die keinen Bezug zur zu Grunde liegenden Realität enthalten. SozialistInnen und MarxistInnen können verschiedene Völker nicht zwingen, im selben Staat zu leben.

Zur Frage der BDS-Kampagnen kritisierte die ISO kürzlich einen Artikel von Judy Beishon aus Socialism Today (Socialism Today, Nr. 169, Juni 2013). Einmal mehr sind ihre Argumente nicht nur falsch sondern auch völlig ungenau. Weder sie noch das CWI lehnen alle Boykotte ab. Wir betonen, dass nur gemeinsame Massenaktionen der israelischen und palästinensischen ArbeiterInnen eine Kraft aufbauen können, die sowohl die israelischen als auch palästinensischen KapitalistInnen stürzen kann. Jedoch können ausgewählte, gezielte Boykotte eine helfende Rolle dabei spielen, den israelischen Staat zu schwächen, beispielsweise durch das Boykott israelischer Waffenexporte genauso wie von Gütern und Produkten aus den besetzten Gebieten oder einen Boykott der Universitäten, die sich dort befinden. Solche Maßnahmen können nützlich sein, um die Unterdrückung der PalästinenserInnen hervorzustreichen. Aber an sich werden sie nicht ausreichen, um den Würgegriff der israelischen Regierung oder herrschenden Klasse ernsthaft zu untergraben, wie auch Sanktionen und der Boykott südafrikanischer Güter das Apartheid-Regime nicht ernsthaft geschwächt haben. Darüber hinaus sollte eine gezielte Kampagne, die jetzt, im Soge des Horrors von Gaza, entstehen könnte, mit sowohl palästinensischen als auch vor Allem israelischen ArbeiterInnen diskutiert werden. All das wurde in Judys Artikel im Detail besprochen, wozu wir stehen.

Ein ähnlich einseitiger Zugang wurde von der ISO in Verbindung mit den Vergeltungsschlägen der Hamas durch Raketen, die auf Israel geschossen werden, gewählt. Wir haben nie das Recht der PalästinenserInnen, sich gegen israelische Attacken zu verteidigen, bestritten, einschließlich bewaffneter Verteidigung in Gaza und legitimer Angriffe auf militärische Ziele in Israel selbst. Wir haben allerdings darauf aufmerksam gemacht, dass sie nicht effektiv – es ist wie das Beschießen von Panzern mit Blasrohren – und sogar kontraproduktiv sind, wenn sie unterschiedslos gegen ZivilistInnen eingesetzt werden. Das treibt israelische ArbeiterInnen in die Arme ihres eigenen schlimmsten Feindes, der rechten Regierung Netanyahus, genauso wie die unterschiedslosen Attacken Israels auf ZivilistInnen in Gaza die Hamas nicht untergraben, sondern gestärkt haben.

Die nationale Frage ist unmessbar komplizierter als sie zur Zeit Lenins und Trotzkis überhaupt existierte. Für MarxistInnen hat sie zwei Seiten. Wir lehnen bürgerlichen Nationalismus, der versucht, die ArbeiterInnenklasse zu spalten, ab. Wir sind für die größtmögliche Einheit der ArbeiterInnenklasse weltweit, über Grenzen und Kontinente hinweg, gleichzeitig lehnen wir aber die erzwungene Vereinigung ausgeprägter Nationalitäten gegen deren Willen in einem Staat ab. Wir sind für die Unabhängigkeit der Ukraine aber lehnen das Regime in Kiew und seine Politik, die sich bei der Unterdrückung der Rechte von Minderheiten auf rechtsextreme NeofaschistInnen und ukrainische NationalistInnen stützt, ab. Genauso lehnen wir den großrussischen Chauvinismus Putins und seiner UnterstützerInnen ab und kämpfen für Klassenunabhängigkeit im Kampf für eine sozialistische Föderation in der Region.

Nur auf diese Weise, durch ein klares Klassenprogamm und Perspektiven, die abstrakten Propagandismus vermeiden, kann ein Weg aufgezeigt werden, wie ArbeiterInnen, selbst in der schwierigen objektiven Situation von Krieg und Konflikten, für den Sozialismus und Marxismus gewonnen werden können.

Aus Socialism Today No.181, September 2014 von Peter Taaffe, Generalsekretär der Socialist Party (Sozialistische Partei; Schwesterorganisation der SLP in England und Wales), Sekretariat des CWI (Committee for a Workers International; Komitee für eine ArbeiterInnen-Internationale, Internationale Organisation der SLP)

Danke für die Übersetzung an Flo Klabacher.