Irak: Das Erbe von „Shock and Awe”

Foto: https://www.flickr.com/photos/kenstein/ CC BY-NC-ND 2.0
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Millionen fliehen im Irak vor den Angriffen des „Islamischen Staates“ (IS), Tausende werden massakriert, vergewaltigt und verschleppt. Gebiete, in denen früher US-amerikanische und „irakische“ Soldaten und Söldner mit Gewalt und Folter herrschten, werden durch den IS erobert. Auch in Syrien sind die Kräfte des IS auf dem Vormarsch, weshalb die US-Regierung nun auch Luftangriffe auf syrisches Territorium nicht ausschließt.

von Katharina Doll, Hamburg

Westliche Politiker übertrumpfen sich mit Unschuldsbekundungen. Die Regierungen in Deutschland und Frankreich wollen Millionen auftreiben für Flüchtlinge im Irak, für die sie an den eigenen Grenzen sonst nicht viel übrig haben. Während sie sich die Köpfe heiß reden, ist klar: Große Teile des Nahen Ostens versinken in Bürgerkrieg, und ihr politischer Werkzeugkasten enthält keine Lösung mehr für einen Konflikt, den sie selbst jahrzehntelang hochgekocht haben.

Warum der IS gedeiht

Eine lange Reihe imperialistischer Interventionen bereitete den Boden, auf dem der IS gedeiht. 2003 begann die Offensive „Shock and Awe“ („Schrecken und Ehrfurcht“) unter Führung der USA. In kurzer Zeit drangen die Streitkräfte mit einer taktischen Mischung aus Terror und Blitzkrieg in Bagdad ein, stürzten die Regierung und begannen einen jahrelangen Kampf um Einfluss mit anderen Mächtigen in der Region. Hunderttausende ZivilistInnen starben, Millionen flohen. Jahre von Krieg und Besatzung bewirkten, dass heute 50 Prozent der IrakerInnen in Slum-ähnlichen Bedingungen leben. Millionen haben keinen Zugang zu Elektrizität und lebenswichtigen Ressourcen. Auch deshalb war die Regierung im Irak nie etwas anderes als ein Haus auf modernden Stelzen, wie es die maßgeblich unter Schirmherrschaft der USA gebildete Regierung unter Nuri al-Maliki war.

Gruppen wie der IS wachsen auf dem Boden sozialer Zerstörung und vor allem dort, wo es für die Bevölkerung keine politischen Alternativen mehr gibt. So sind die Ableger von al-Qaida im Irak nach der Invasion 2003 gegründet worden. Den „IS im Irak“ gibt es seit 2006, und durch Verschmelzung mit Teilen der al-Nusra-Front im syrischen Bürgerkrieg konnte er derart erstarken, dass er sich von al-Qaida unabhängig erklärte und nun auf eigene Faust operiert.

Der IS ist vor allem mit Waffen aus US-amerikanischer Produktion ausgestattet – die Region ist voll davon. Etwa 25 Milliarden Dollar haben sich die USA die Aufrüstung der irakischen Armee seit Jahren kosten lassen – ein Teil ist nun in den Händen des IS. Und um jetzt im Irak gegen die Kräfte vorzugehen, die die USA im Syrien-Konflikt großzüchteten, bleibt anscheinend nur eins: der Abschluss eines 700-Millionen-Deals um weitere Raketen des Typs „Höllenfeuer“ mit der irakischen Regierung.

Ihr Frieden und unserer

In einem Interview mit der „jungen Welt“ hat Gregor Gysi die NATO und Deutschland dazu aufgefordert „dafür zu sorgen, dass die Kräfte im Irak und Kurdistan in der Lage sind, den IS zu stoppen“. Klar: Der IS muss gestoppt werden. Sein politisches Ziel ist der Aufbau eines diktatorisch-fundamentalistischen Kalifats, unter massiver gewaltsamer Diskriminierung anderer Minderheiten. Eine solche Herrschaft bedeutet auch für die sunnitischen Teile der Bevölkerung ein striktes System der Unterdrückung und eröffnet keine Freiheiten, politisch oder ökonomisch an den Entscheidungen und Ressourcen der Region teilzuhaben.

Doch diese sind auch nicht im Interesse von NATO, Großbritannien und USA. In imperialistischen Kriegen hatten gewaltsame Interventionen und „Hilfslieferungen“ nie den Sinn, den „Frieden“ oder die Versorgung der Bevölkerung zu sichern. Die Kämpfe zwischen Kräften wie Peschmerga, IS und USA drehen sich in erster Linie um die Sicherung eigener Einflusssphären und Ressourcen. Martin Dempsey, Vorsitzender der Joint Chiefs on Staff (höchstrangiger Soldat der USA) erklärte Ende Juli, dass es nicht ausgeschlossen ist, dass US-Truppen in größerer Zahl zurück in den Irak geschickt würden, „wenn unsere Interessen uns dazu treiben“. Das erklärt auch, warum gerade um ölreiche Regionen wie Kirkuk, Handelswege oder den Mossul-Damm so heftig gekämpft wird.

Nicht nur die Ansprüche der US-Regierung werden in Bezug auf den Irak laut. So forderte Tony Blair (Labour Party), einer der lautesten Kriegspropagandisten 2003, im April eine neue strategische Ausrichtung der Großmächte im gesamten Nahen Osten. In einem Interview mit dem SPIEGEL in der Ausgabe vom 28. April sagte Frank-Walter Steinmeier (SPD) in Bezug auf Krieg und Frieden: „Wer sich an die Zeit vor dem Fall der Mauer erinnert, der weiß, was wir in den letzten 25 Jahren erreicht haben.“

Für imperialistische und koloniale Großmächte ist es historisch üblich, mit der eigenen Rolle als „Friedensbringer“ zu kokettieren. Doch seit dem Fall der Berliner Mauer gab es mehr Kriege als in der gesamten Phase des Kalten Krieges. Diese Kriege sind Teil kapitalistischer „Ordnung“, des Systems von „Frieden und Sicherheit“ von dem Angela Merkel, Barack Obama, UN und Co. der Welt erzählen.

Macht durch Spaltung

Um ihre Interessen durchzusetzen, setzen die Strategen der Herrschenden auf „Teile und Herrsche“. Je besser es gelingt, eigene Bündnispartner zu stabilisieren und Opponenten zu spalten, umso sicherer der eigene Einfluss. So installierte die US-Regierung im Irak nach jahrzehntelanger Unterdrückung der schiitischen Bevölkerung eine schiitische Marionettenregierung, als deren „Befreier“ sie auftreten und so ihre Legitimation aufrecht erhalten wollte. Offensichtlich ging dieser Schuss nach hinten los. Zwar versucht der designierte irakische Premier Haider Al Abadi mit Befehlen wie dem teilweisen Rückzug schiitischer Milizen aus sunnitischen Gebieten, Teile der SunnitInnen auf die Seite der irakischen Regierung zu ziehen. Wegen der extrem sektiererischen Politik al-Malikis gegenüber der sunnitischen Bevölkerung dürfte das aber nur schwer in größerem Maßstab möglich sein.

Aus ähnlichen Gründen unterstützen Teile des westlichen Imperialismus die nordirakischen Peschmerga. Als das US-Regime mit Saddam Hussein in Konflikt geriet, sahen sie neben einer neuen Regierung im Irak die kurdischen Kräfte im Nordirak als Mittel, ihren Einfluss zu stabilisieren und die Baath-Partei zurückzudrängen. Die Gewährung eines Autonomiegebiets war also eine Konsequenz des Irak-Kriegs. Großbritannien verfolgt eine ähnliche Strategie. So sandten sie vor einigen Tagen Nadhim Zahawi, der kurdischer Abstammung und Parlamentsmitglied für die Konservativen ist, nach Irbil, um ihre Beziehungen zu den Peschmerga-Kräften zu verbessern.

Anders als in der Satzung der UN behauptet, ist nicht das Recht auf nationale Selbstbestimmung, sondern das Stabilisieren eigener Bündnispartner ihr Interesse. Als Hussein noch Bündnispartner gegen den Iran war und Völkermord an der kurdischen Bevölkerung beging, verschloss die US-Regierung bereitwillig die Augen. Auch wird die Kurdische Arbeiterpartei PKK von Europäischer Union (EU) und USA weiter als terroristische Organisation geführt.

Die Entwicklung der Peschmerga, die unter Einflussnahme der USA zu einer immer reaktionäreren Kraft geworden sind, ist eine Warnung für die kurdische Bewegung, sich nicht auf die Anbiederungen der USA in der jetzigen Situation einzulassen.

Capitalism kills

Gleich nach dem Einmarsch in den Irak 2003 patentierte sich Sony die Rechte auf den Terminus „Shock and Awe“ für die Nutzung in Computerspielen. Während des Krieges boomten vor allem US-amerikanische Söldnerkonzerne wie Blackwater, die sonst Verträge mit Monsanto, Chevron, Walt Disney, Barclays und der Deutschen Bank am Laufen haben. Auch der Handel mit terroristischen Aktivitäten wurde in den letzten Jahren weiter perfektioniert. Der IS veröffentlicht jährliche Unternehmensberichte, in denen sie Statistiken wie beispielsweise die prozentuale Zu- oder Abnahme von Exekutionen für mögliche Finanzinvestoren und Partner aufführen.

Der Hunger der Herrschenden nach Investitionsmöglichkeiten wie „Baghdad Renaissance“, Blackwater oder irakischem Rohöl wird nicht zu stillen sein. So unermüdlich sich die weltweit herrschenden Mächte Möglichkeiten ausdenken, ihre Auseinandersetzungen in riesigen Material- und Menschenschlachten auszutragen, so wenig eröffnet ihr System eine Alternative des friedlichen Zusammenlebens. Investition in Krieg ist eine direkte Konsequenz aus der kapitalistischen Jagd um Profite und Einfluss. „Die Frucht des Arabischen Frühlings ist erneut zu Autokratie und Krieg verrottet“, schrieb der Economist im Juli 2014. Das ist kein Wunder. Der Kapitalismus ist kein Treibhaus für Frieden und Demokratie – im Gegenteil! Im Namen ökonomischer Interessen löst im Nahen Osten die eine killende Bande die andere ab – unter verheerenden Schäden für Bevölkerung und Umwelt.

Wem gehört die Welt?

Kapitalistische Mächte wie USA, Großbritannien, Türkei, Saudi-Arabien … werden immer versuchen, sich Profitmöglichkeiten abzujagen. Wo es ihnen nützt, werden sie das Bündnis mit sektiererischen Kräften suchen und ethnische Konflikte befeuern. Die Perioden dazwischen sind nichts anderes als ein mörderischer Status Quo – „bewaffneter Frieden“ und die Unterdrückung von Minderheiten und Opposition. Wo Menschen hungern und sich im Namen sektiererischer Kräfte bekämpfen, die sich den Zugriff auf Ressourcen abjagen wollen, wird es immer wieder Kriege geben und ihren Krieg kann die Bevölkerung nur verlieren!

Ein Fundament für Frieden zu schaffen bedeutet, gemeinsam für ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln, Medizin, Strom und soziale Unterstützung zu kämpfen. Doch solange reaktionäre Kräfte und westliche Mächte das Eigentum an Ressourcen untereinander aufteilen, über ihre Verteilung entscheiden und es sich immer wieder gegenseitig wegnehmen wollen, wird für die Bevölkerung nie genug übrig bleiben. Die Frage von Krieg und Frieden ist deshalb eng verknüpft mit einer anderen Frage: Wem gehört die Welt, wer hat Zugriff auf Ressourcen und kann über ihre Verteilung entscheiden?

Der Kampf gegen die Spaltungslinien der Herrschenden ist die stärkste Waffe in den Händen der Bevölkerung. 2011 gingen tausende IrakerInnen, darunter SunnitInnen, SchiitInnen und KurdInnen, auf die Straße. Unter massiver Repression demonstrierten sie für Strom und Wasser, gegen Korruption und al-Maliki. Das zeigt, dass gemeinsamer Widerstand von unten im Irak möglich und dass es nicht „Naturgesetz“ ist, dass sich SchiitInnen und SunnitInnen im Irak hassen und bekriegen müssen. Es war der Regierung nicht möglich, die Proteste einfach mit noch stärkerer Marginalisierung und Diskriminierung von SunnitInnen oder JesidInnen zu unterdrücken.

Der Kampf kann nur gewonnen werden, wenn er organisiert mit klaren Zielen geführt wird. Dazu ist es notwendig, unabhängige Organisationen der Lohnabhängigen (Gewerkschaften und eine eigene Partei) aufzubauen, die durch die politische Einheit aller Bevölkerungsgruppen und den Aufbau demokratischer Selbstverteidigungskomitees den Widerstand gegen Krieg und Unterdrückung und den Kampf für die Abschaffung des Kapitalismus aufnehmen. Das bedeutet die Verteidigung gegen imperialistische Besatzer und sektiererische Milizen, volle Rechte für alle ethnischen und religiösen Gruppen und das Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes. Genauso muss die organisierte Bevölkerung den Kampf um die demokratisch kontrollierte Übernahme von Ressourcen und Produktion in Gemeineigentum führen, die politische Entscheidungsmacht in ihre Hände nehmen und ein demokratisches Rätesystem aufbauen, das endgültig mit dem kapitalistischen System bricht.

Es hat im Nahen Osten nach dem Zweiten Weltkrieg linke Parteien mit Massenanhang gegeben. Aufgrund einer falschen Politik sind sie gescheitert.

Im Irak konnte die dortige Kommunistische Partei 1959 in Bagdad zum Beispiel eine 1.-Mai-Demonstration von einer halben Million Menschen anführen. Leider stand sie (wie andere Kräfte auf der Linken in der Region) unter dem Einfluss des Stalinismus – anstatt ihre Massenbasis zu nutzen, auf eine grundlegende Veränderung der Verhältnisse hinzuarbeiten, stärkte sie der bürgerlichen Regierung den Rücken (die 1963 vom Militär weggeputscht wurde, das anschließend 5.000 KommunistInnen umbringen ließ).

Trotzdem zeigt dieses Beispiel, dass der Aufbau von Massenorganisationen der Arbeiterklasse im Nahen Osten möglich ist. Das Ziel einer freiwilligen, demokratischen Föderation sozialistischer Staaten ist auf lange Frist die einzige Alternative, die heutige und zukünftige Kämpfe aufzeigen müssen, um der Spirale aus Terror, Ausbeutung und Gewalt zu entkommen.