Für eine sozialistische Politik zum Nahostkonflikt

Foto: https://www.flickr.com/photos/mediactivista/ CC BY-NC-SA 2.0
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Ein- oder Zwei-Staaten-Lösung, Existenzrecht Israels und Selbstbestimmungsrecht – zur Haltung von marx21 zum Israel-Palästina-Konflikt

Die Wogen in der Partei DIE LINKE zum Thema Nahost-Konflikt schlagen hoch. In der gemeinsamen Erklärung von Bernd Riexinger, Katja Kipping und Gregor Gysi wird zu Unrecht der Eindruck erweckt, die israelische Regierung und die Hamas seien für den Krieg der letzten Wochen gleichermaßen verantwortlich. Gleichzeitig wird der Antisemitismus-Vorwurf auch von Kräften in der Partei als Keule gegen Palästina-Solidarität und gegen die Parteilinke eingesetzt.

Das ist angesichts des Tods von fast 2.000 PalästinenserInnen, der Flucht Hunderttausender, der Blockade Gazas und Besetzung von Palästinensergebieten, des fortgesetzten Siedlungsbaus und der aggressiven, nationalistischen und imperialistischen Politik des Netanjahu-Regimes ein schwerer politischer Fehler.

von Sascha Stanicic

So wichtig es ist, gegen solche Positionen zu argumentieren und dafür zu kämpfen, dass DIE LINKE Teil der Bewegung gegen Israels Angriff auf Gaza wird, so wichtig ist es auch, einen positiven Lösungsvorschlag für den Nahostkonflikt aus sozialistischer Perspektive zu formulieren, der der Spaltung der Arbeiterklasse in der Region entgegenwirken kann.

In diesem Zusammenhang wird auf der Linken über die Frage nach einer „Ein-Staaten-Lösung“ oder „Zwei-Staaten-Lösung“, dem so genannten „Existenzrecht Israels“ und dem Charakter der israelisch-jüdischen Bevölkerung diskutiert. Gruppen wie marx21 und die International Socialist Tendency (internationale Strömung, der die britische SWP angehört und aus deren Tradition marx21 kommt) sprechen sich explizit für eine „Ein-Staaten-Lösung“ und gegen das so genannte „Existenzrecht Israels“ aus.

Die SAV ist der Meinung, dass diese Positionen als Absage an das Selbstbestimmungsrecht der israelisch-jüdischen Bevölkerung verstanden werden müssen und deshalb in letzter Konsequenz der nationalen Spaltung nicht entgegenwirken sondern diese sogar vertiefen können.

Wir beziehen uns dabei auf den Diskussionsbeitrag des marx21-Koordinierungskreises vom Juni 2008 mit dem Titel „Der Weg zum Frieden in Nahost“ und den Artikel „Welches Israel?“ von Stefan Bornost aus dem Jahr 2011 .

Wir stimmen mit den Grundaussagen, die in dem marx21-Diskussionsbeitrag zur Lage der PalästinenserInnen getätigt werden, weitgehend überein. Vor allem stimmen wir damit überein, dass „durch die fortgesetzte Siedlungspolitik jede Aussicht auf eine territoriale Einheit eines palästinensisches Staates (schwindet)“ und dass „unter solchen Bedingungen (…) weder ein gleichberechtigter palästinensischer Staat neben Israel entstehen noch so die Grundlage für eine dauerhafte Beilegung des Konflikts in der Region gelegt werden (kann)“ und ein möglicher palästinensischer Rumpfstaat „ökonomisch kaum überlebensfähig“ wäre.

Aber von welchen Bedingungen sprechen wir? Der Text benennt als „Ursprungsproblem“ die „ethnische Teilung Palästinas“, welche überwunden werden müsse, um eine Lösung des Nahostkonflikts zu erreichen. Um dann zu schlussfolgern: „Dies ist nur möglich, wenn ein gemeinsamer, weltlicher und demokratischer Staat geschaffen wird, in dem Juden, Muslime und Christen mit gleichen Rechten zusammenleben können.“

Diese Analyse ignoriert die klassenpolitische Dimension des Nahostkonflikts, die aus unserer Sicht das „Ursprungsproblem“ der ethnischen Teilung determiniert. Israel ist ein Vorposten des westlichen Imperialismus im Nahen Osten zur Durchsetzung imperialistischer Interessen. Die israelische Bourgeoisie braucht die nationale Spaltung in der Region und auch die wiederkehrenden militärischen Auseinandersetzungen mit den PalästinenserInnen, um ihre eigene Herrschaft im Staat Israel gegenüber der „eigenen“ Arbeiterklasse aufrechtzuerhalten.

Wenn wir über die „Bedingungen“ des Nahostkonflikts sprechen, dürfen wir deshalb nicht nur die ethnische Teilung benennen, sondern müssen die dahinter liegenden Interessen offen legen. In dem gesamten marx21-Diskussionsbeitrag kommen die Begriffe „Kapitalismus“, „Imperialismus“ und „Arbeiterklasse“ nicht vor. Das ist kein Zufall, denn die dort formulierte Perspektive ist keine antikapitalistische bzw. Klassenperspektive. Dabei heraus kommt Wunschdenken: die Illusion, es wäre möglich einen „gemeinsamen, weltlichen und demokratischen Staat“ zu schaffen, in dem „Juden, Muslime und Christen mit gleichen Rechten zusammen leben können“ – ohne als Voraussetzung dafür die kapitalistischen Macht- und Eigentumsverhältnisse in Israel und den Palästinensergebieten zu überwinden.

Die SAV und ihre Schwesterorganisation in Israel und Palästina gehen davon aus, dass auf Basis der Herrschaft der israelischen Bourgeoisie, aber auch der palästinensischen Eliten aus Großgrundbesitzern, Unternehmern und PLO- und Hamas-Bürokratie eine Lösung des Nahostkonflikts unmöglich ist. Das bedeutet, dass Trägerin einer Lösung die Arbeiterklassen und unterdrückten Schichten beider Nationen sein müssen, dass also dem Aufbau gemeinsamer Kämpfe, Bewegungen und Organisationen eine zentrale Bedeutung zukommt und dass jeder Vorschlag für eine solche Lösung Teil einer sozialistischen Perspektive sein muss.

Dass der „Lösungsvorschlag“ des marx21-Koordinierungskreises unrealistisch ist, müssen die GenossInnen im nächsten Absatz ihrer Erklärung zugestehen: „Viele Gegner eines gemeinsamen Staates befürchten Übergriffe der arabischen Bevölkerung auf die jüdische Bevölkerung. Tatsächlich wird es angesichts der Erfahrungen der letzten Jahrzehnte dauern, bis die entstandenen Wunden verheilt sind und ein vertrauensvolles Zusammenleben möglich ist. Doch je früher dieser Prozess beginnt, desto größer sind die Chancen, dass er erfolgreich zu Ende geführt wird.“

Wir stimmen darin überein, dass ein Prozess beginnen muss, der ein friedliches Zusammenleben der verschiedenen Volksgruppen im Nahen Osten in Zukunft ermöglichen kann. Aber woraus soll dieser Prozess bestehen und womit soll er beginnen?

Auch diese Frage ist nur zu beantworten, wenn man eine Klassenperspektive einnimmt. Das bedeutet auch die Rolle der israelisch-jüdischen Arbeiterklasse zu erfassen. Es ist richtig, um mit Marx zu sprechen, dass die Arbeiterklasse einer unterdrückenden Nation nur selber frei werden kann, wenn sie sich gegen diese Unterdrückung stellt. Voraussetzung für eine Lösung des Nahostkonflikts ist, dass sich in der israelisch-jüdischen Arbeiterklasse die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts für die PalästinenserInnen durchsetzt. Dies zu erreichen ist jedoch schwierig, denn die israelisch-jüdische Arbeiterklasse ist zwar einerseits Opfer der Klassenherrschaft einer israelisch-jüdischen Bourgeoisie und verschärfter Angriffe auf soziale Rechte, Löhne, Arbeitsbedingungen, aber fühlt sich gleichzeitig in ihrer Sicherheit bedroht durch den nationalen Konflikt. Das Bedrohungsgefühl – verstärkt durch den regelmäßigen Abschuss von Kassam-Raketen auf israelische Städte aus dem Gazastreifen – treibt die israelisch-jüdischen ArbeiterInnen immer wieder in die Arme ihrer Regierungen, die vorgeben, ihren Schutz zu garantieren. Auch wenn die Raketenbeschüsse letztlich auch Ergebnis der Politik der israelischen Regierung sind und diese das größte Sicherheitsproblem für die israelisch-jüdische Bevölkerung darstellt, muss eine linke Strategie für eine Lösung des Nahostkonflikts dieses Bedrohungsgefühl der israelisch-jüdischen Arbeiterklasse berücksichtigen.

Eine Unterstützung des Selbstbestimmungsrechts für die PalästinenserInnen in der israelisch-jüdischen Bevölkerung kann deshalb unmöglich erreicht werden, wenn man dieser die Bildung eines „gemeinsamen“ Staates, in dem sie zur Minderheit würden, vorschlägt bzw. zur Bedingung macht. Denn formal gleiche Rechte in einem gemeinsamen Staat bedeuten für eine Minderheit möglicherweise nichts anderes als Benachteiligung und faktische Entrechtung. Das Schicksal der TamilInnen auf Sri Lanka ist dafür ein gutes Beispiel.

Um also den Konflikt zu überwinden sind nach unserer Überzeugung zwei Dinge nötig: erstens die gegenseitige Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts, also auch die Anerkennung des Rechts der israelisch-jüdischen Bevölkerung, einen eigenen Staat zu bilden und zweitens die Betonung der gemeinsamen Klasseninteressen der israelisch-jüdischen und der palästinensischen ArbeiterInnen und Bäuerinnen/Bauern und der Aufbau gemeinsamer Organisationen und Bewegungen im Staat Israel. Das ist der notwendige „Prozess“, der in der Zukunft auch ein Zusammenleben in einem gemeinsamen Staat ermöglichen kann.

Bedeutet das nun, das „Existenzrecht Israels“ zu unterstützen? Stefan Bornost von marx21 schreibt dazu: „Die Definition Israels als ‚jüdischer Staat‘ – statt eines weltlichen Staats, in dem Juden und Araber gleichberechtigt zusammenleben -, führt automatisch zur Diskriminierung des arabischen Teils der Bevölkerung. Das Existenzrecht Israels, das grundsätzlich als Existenzrecht des jüdischen Charakters des Staates gedacht ist, rechtfertigt diese Diskriminierung.“ Und lehnt eine Zustimmung zum Existenzrecht Israels ab.

Es stimmt: der Staat Israel ist ein reaktionäres, imperialistisches und rassistisches Gebilde. Er hat eine religiös geprägte Verfasstheit und institutionalisiert die Diskriminierung der PalästinenserInnen. Aber das „Existenzrecht Israels“ wird gemeinhin nicht verstanden als politische Unterstützung für diesen Staat Israel in seiner gegenwärtigen Verfasstheit und politischen Ausprägung, sondern als Recht der Jüdinnen und Juden auf einen eigenen Staat in den Grenzen Israels von 1967. Dieses Selbstbestimmungsrecht der israelischen Nation, die sich seit der Staatsgründung 1948 entwickelt hat, sollten MarxistInnen unterstützen. Dieses mit dem Hinweis darauf zu negieren, dass der israelische Staat sich als „jüdischer Staat“ definiert bzw. als „kolonialer Siedler-Staat“ errichtet wurde, bedeutet die seit über 65 Jahren gewachsene Realität zu negieren. Mit einem ähnlichen Argument könnte man das „Existenzrecht“ der USA in Frage stellen, die ebenfalls als kolonialer Siedlerstaat begründet wurden. Die israelische Nation ist eine historisch gewachsene Realität, wie es die USA sind. Sie ist in Klassen gespalten und es ist Aufgabe von SozialistInnen, die israelisch-jüdische Arbeiterklasse zu gewinnen. Die Anerkennung ihres Selbstbestimmungsrechts ist dafür eine Voraussetzung, um ihre Unterstützung für den Kampf gegen die Besetzung und für die Rechte der PalästinenserInnen zu gewinnen.

Entscheidend hierfür ist auch im palästinensischen Widerstand auf Massenmobilisierungen zu setzen, statt auf Stellvertreterpolitik durch Hamas oder Fatah. Genauso wichtig ist es aber, den Klassenkampf in Israel voran zu treiben und hier die Voraussetzungen für einen gemeinsamen Kampf von israelischen Jüdinnen und Juden und AraberInnen zu nutzen. Tritt man an die israelisch-jüdische Arbeiterklasse mit dem Vorschlag einer „Ein-Staaten-Lösung“ heran, wird es schwer fallen, Gehör für Vorschläge für gemeinsamen Widerstand zu bekommen.

Um aber gegenseitiges Vertrauen aufbauen zu können, müssen beide Seiten deutlich machen, dass sie das Recht der anderen Seite auf einen eigenen Staat akzeptieren. Das ist in der Praxis nicht von den herrschenden Eliten zu erwarten, sondern wäre nur durch den Aufbau einer sozialistischen Arbeiterbewegung zu erreichen.

Aus dieser Perspektive heraus stellt die Schwesterorganisation der SAV in Israel/Palästina folgende Forderungen auf:

  • Stärkung der Proteste gegen die extreme Rechte und die Regierung des Kapitals und des Siedlungsbaus
  • Für gemeinsame Demonstrationen von Jüdinnen und Juden und AraberInnen – gegen nationalistische Übergriffe
  • Schluss mit Polizeibrutalität. Für die Entlassung rassistischer Polizeibeamter
  • Abzug der israelischen Armee aus den Palästinensergebieten! Schluss mit der Besatzung und dem Siedlungsbau! Schluss mit der Abriegelung des Gaza-Streifens!
  • Freilassung aller palästinensischer politischer Gefangenen! Für faire und öffentliche Gerichtsverfahren unter Aufsicht von VertreterInnen der arbeitenden Bevölkerung, beider Gemeinden und der Familien der Opfer
  • Für einen unabhängigen, demokratischen und sozialistischen palästinensischen Staat neben einem demokratischen und sozialistischen Staat Israel. Für Jerusalem als Hauptstadt beider Länder und gleiche Rechte für alle Minderheiten. Für den Kampf für einen sozialistischen Nahen Osten und Frieden in der Region

Natürlich gibt es viele Fragen, die durch die Formel zweier sozialistischer Staaten nicht automatisch gelöst sind. Aber sie können eben nur gelöst werden, wenn die Machtverhältnisse sich ändern und die Arbeiterklassen beider Nationen in freie und demokratische Verhandlungen über diese komplizierten Fragen eintreten können. Dazu gehören unter anderem der Umgang mit den Siedlungen im Westjordanland, das Rückkehrrecht der vertriebenen PalästinenserInnen, die Frage von Minderheitenrechten – also dem Status von Jüdinnen und Juden in einem sozialistischen Palästina und von AraberInnen in einem sozialistischen Israel – in solchen Staaten, der Status von Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt. Wenn eine israelische Arbeiterregierung mit einer palästinensischen Arbeiterregierung diese Fragen verhandeln könnte, kämen sie möglicherweise zu dem Ergebnis, einen gemeinsamen Staat zu bilden. Aber das kann nicht der Ausgangspunkt in sozialistischer Propaganda für die Überwindung des Nahostkonflikts sein, sondern kann nur das Ergebnis sein, wenn eine sozialistische Arbeiterbewegung in der Region erfolgreich ist.

Die marx-21-Position verharrt leider in einer bürgerlich-kapitalistischen Perspektive. Vielleicht, weil der Aufbau einer sozialistischen Arbeiterbewegung weit weg erscheint. Das mag sein. Aber es ist Aufgabe von SozialistInnen zu sagen, was ist und darauf hinzuweisen, dass Konflikte wie im Nahen Osten vor allem eines deutlich machen: der Kapitalismus ist unfähig sie zu lösen – Sozialismus ist dringende Notwendigkeit geworden!

Sascha Stanicic ist Bundessprecher der SAV und aktiv in der LINKEN Neukölln.