Beginn des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren: „Die deutschen Kapitalisten waren hungrig“

Theodor BergmannInterview mit dem 98-jährigen Theodor Bergmann, Mitglied der LINKEN in Stuttgart und seit seiner Jugend in der sozialistischen Bewegung aktiv

Bürgerliche Historiker reden davon, dass eigentlich niemand den Ersten Weltkrieg wollte. Was sagst Du dazu?

Wir sind wieder soweit, dass die Verbrechen des deutschen Kapitalismus vergessen gemacht werden sollen. Wir müssen gegen diese neue Form des Weißwaschens auftreten. Die anderen kapitalistischen Staaten in Europa waren zwar keine Friedensengel, aber sie waren defensiv, weil sie nicht vorbereitet waren und weil sie zu den Mächten gehörten, die satt waren. Die deutschen Kapitalisten waren hungrig. Sie hatten nur abbekommen, was nach der Aufteilung durch die großen Kolonialmächte übrig geblieben war, wie die Sandwüste von Namibia oder einige Inseln im Südpazifik. Das reichte ihnen nicht. Sie wollten eine Neuverteilung und dafür haben sie den Krieg vorbereitet und angefangen.

Deutsche Sozialisten wie August Bebel und Friedrich Westmeyer haben das vorausgesehen und 1912 in zwei Warnungen geschrieben, dass die Deutschen die Italiener nicht mitziehen können, Italien würde ausscheiden aus der Dreierallianz in Mitteleuropa. Und so ist es auch gekommen. Die deutschen Kapitalisten glaubten, sie könnten einen Krieg riskieren.

Welche Interessen verfolgte Deutschland damals?

Die deutschen Imperialisten haben erstens Kolonien verlangt, die wertvoller waren, als die, die sie bekommen hatten. Und zweitens wollten sie nordische Gebiete annektieren. Der Alldeutsche Verband, ein wichtiger kapitalistischer Think Tank damals, hatte ein großes Programm, das heute vergessen ist. Aber es war auch das Programm der Reichsregierung. Sie sagten, wir wollen Dänemark und die Niederlande und andere, wie sie es nannten, „halbnordische germanische“ Gebiete übernehmen. Aber sie wollten auch Gebiete im Osten, in Russland und der Ukraine. Ganze Landstriche sollten freigemacht werden für deutsche Siedler.

Stimmt es, dass es 1914 eine Kriegsbegeisterung bei der Mehrheit der Bevölkerung gegeben hat?

Das ist verlogen. Es hat ein sogenanntes Augusterlebnis gegeben. Das wurde von der Regierung als Art geistiger Überfall organisiert, an dem sich leider auch ein Teil der sozialdemokratischen Parteiführung beteiligt hat. Man hat die Leute verrückt gemacht und in eine Hysterie getrieben, indem man solche Dinge erzählt hat, wie, dass die Franzosen unser Wasser in Nürnberg vergiften. Es war diese Propaganda, die Leute zu den offiziellen Demonstrationen auf die Straße getrieben hat. Aber das war nur eine kleine Minderheit, die sich dieser Kriegshysterie angeschlossen hat. Die Masse der Menschen war nicht begeistert. Sie war gelähmt.

Wie war die Opposition gegen den Krieg 1914 aufgestellt?

Man muss erst mal sagen, dass die SPD überrollt worden ist von einem Teil ihrer eigenen Führung. Das waren Leute wie Ebert, Scheidemann, Südekum und auch Wilhelm Keil in Stuttgart. Sie waren bereit, den Krieg mitzumachen. Am 26. Juli 1914 wurde in Stuttgart von der SPD noch ein Flugblatt gegen den Krieg herausgebracht. Der Inhalt entsprach den Beschlüssen der internationalen Konferenzen, in denen erklärt wurde, man werde alles tun, um den Krieg zu verhindern. Und wenn wir das nicht erreichen, werden wir den Krieg nutzen, um zur Revolution zu kommen. Vor dem 30. Juli ist ein Mitglied des sozialdemokratischen Vorstands, Albert Südekum, bei Bethmann Hollweg gewesen und hat ihm gesagt: Du brauchst keine Angst zu haben, wir werden den Krieg unterstützen.

Am 4. August kam es dann zur Abstimmung über die Kriegskredite im Reichstag. Die linken Abgeordneten und der Fraktionsvorsitzende Hugo Haase waren gegen die Kriegskredite. Aber Hugo Haase wurde gezwungen, gegen seinen Willen eine Erklärung der Fraktion abzugeben, dass man den Krieg unterstützen werde. Hugo Haase ist dann später mit 15 Abgeordneten ausgetreten und sie haben die USPD gegründet.

Die ganz Linken, wie Rosa Luxemburg und andere, waren erschüttert darüber, dass die Kriegsgegner in der Fraktion aus Fraktionsdisziplin den Kriegskrediten zugestimmt haben. Karl Liebknecht wurde daraufhin nach Stuttgart eingeladen und wurde von der sozialdemokratischen Ortsorganisation Stuttgart unter Führung von Friedrich Westmeyer zurechtgewiesen. Liebknecht hat darauf eingestanden, dass es falsch war, sich der Fraktionsdisziplin unterzuordnen. Er verpflichtete sich bei der Versammlung der Stuttgarter Genossen, nie mehr Kriegskrediten zuzustimmen. Und Anfang Dezember 1914 war er der Einzige, der gegen weitere Kriegskredite gestimmt hat.

Wie haben sich die linken Kriegsgegner reorganisiert?

Die Linke hat trotz der enormen Schwierigkeiten angefangen sich zu organisieren. Das war unter dem Belagerungszustand illegal. Sozialistische Frauen haben sich zum Beispiel getarnt getroffen zu „Nähabenden“.

Die Reorganisation der sozialistischen Kriegsgegner ging von Friedrich Westmeyer und den anderen Linken in Stuttgart aus. Bertha Thalheimer ist unter den Verhältnissen der Militärdiktatur und des Kriegszustandes zweimal durch ganz Deutschland gefahren, hat die Linken aufgesucht und hat damit die Gründung des Spartakusbundes vorbereitet. Am 1. Januar 1916 wurde im Büro von Karl Liebknecht der Spartakusbund gegründet. Es wurden überall Ortsgruppen des Spartakusbundes aufgebaut, die in der Sozialdemokratie gegen den Krieg kämpften.

Schwerpunkte waren Stuttgart und Württemberg, Sachsen, Thüringen, das Bergische Land um Solingen und natürlich Berlin. Die Sozialdemokratie war damit geistig-ideologisch gespalten und dem folgte dann die organisatorische Spaltung. Diese Spaltung war notwendig. Die Kriegsgegner und -befürworter konnten nicht in einer Partei bleiben. Und so haben sich die Kriegsgegner 1916 von der SPD abgespalten und haben in Gotha eine neue Partei gegründet, die USPD. Diese Spaltung der Sozialdemokratie fand auch in allen anderen Ländern, in der ganzen Sozialistischen Internationale statt. Man muss dazu sagen, dass die sozialistischen Kriegsgegner vom Staatsapparat an die Front geschickt wurden, während die rechten Sozialdemokraten zu Hause bleiben durften, um Kriegspropaganda zu machen. Dem hervorragenden Stuttgarter Sozialisten Friedrich Westmeyer hat der Krieg im Alter von 44 Jahren das Leben genommen. Die Anhänger der Westmeyer-Richtung hielten an der Front regelmäßig Briefkontakt mit dem von Emil Birkert geleiteten Zentrum.

Nach einiger Zeit haben sich die Linken auch international zusammengefunden und haben in der Schweiz, erst in Zimmerwald und dann in Kiental Konferenzen durchgeführt. Lenin spielte dabei eine führende Rolle. Aber es war nicht einfach, solche Konferenzen zu organisieren, denn die wenigen Linken, die nicht an der Front waren, bekamen keine Ausreisegenehmigung in die Schweiz. Bertha Thalheimer hat damals die Linken vertreten. Frauen haben eine entscheidende Rolle gespielt. Denn die Männer waren ja meist im Krieg.

Hätte der Erste Weltkrieg verhindert werden können, wenn die SPD gegen den Krieg mobil gemacht und die Reichstagsfraktion von Anfang an gegen alle Kriegskredite gestimmt hätte?

Diese Frage ist auch schon damals diskutiert worden und Friedrich Westmeyer sagte in einer Rede: Wenn die SPD einen großen Streik oder einen Generalstreik gegen den Krieg organisiert hätte und die Parteiführung standhafte Kriegsgegner geblieben wären, dann hätte sich die Regierung das nochmal überlegen müssen. Es wäre also möglich gewesen, den Krieg zu verhindern. Und selbst wenn es nicht gelungen wäre, den Beginn des Krieges zu verhindern, so hätte man mit konsequenter Opposition durch die SPD einen anderen Ausgangspunkt gehabt. Denn wenn die ganze Arbeiterbewegung organisiert gegen den Krieg ist, dann sieht das Kräfteverhältnis ganz anders aus. Aber so waren die Leute zuerst gelähmt, verwirrt und wussten nicht, was los ist mit der Sozialdemokratischen Partei.

Liebknecht hat im Ersten Weltkrieg gesagt: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land.“ Warum wurde der Spruch so populär?

Es war eine gute Parole, weil sie sich gegen den Nationalismus wandte. Die deutschen rechten Sozialdemokraten haben gesagt, wir kämpfen gegen den Zarismus und für die deutsche Demokratie. Die französischen Kriegstreiber sagten, wir kämpfen gegen das Preußentum. So hat man die Leute in allen Ländern verwirrt.

Man musste den Menschen zeigen: Unsere Gegner sind diejenigen, die uns regieren. Sie sind Schuld am Krieg, und die müssen wir bekämpfen. Das war das Verbindende mit den Arbeitern in allen Ländern, um wieder auf eine gemeinsame Linie zu kommen, um den Krieg zu beenden.

Diese Parole ist auch heute noch aktuell. Wir sind in einem Zustand, wo Nationalismus, Rassismus und Rechtsextremismus wieder eingesetzt werden, um uns zu spalten. Man erklärt uns, dass die Arbeiter in anderen Ländern faul sind, dass sie nicht sparen können und wir die anderen beaufsichtigen müssten. Der deutsche Kapitalismus ist heute wieder dominant in Europa. Er will den anderen Ländern Vorschriften machen, wie sie regieren müssen. Die deutschen Kapitalisten haben Herrn Hartz zu Herrn Hollande geschickt, damit er ihm sagt, wie er seine „Reformen“, die ja Abbau von Reformen sind, durchführen soll. Und in anderen Ländern sagt man dann auch: Nicht die deutschen Kapitalisten sind schuld, sondern die Deutschen.

Es ist offensichtlich, dass die Dominanz des deutschen Kapitalismus in Europa den Nationalismus in anderen Ländern befördert. Wir müssen zeigen, dass wir mit den deutschen Kapitalisten nichts gemeinsam haben. Deswegen wäre die Beteiligung der LINKEN an einer gemeinsamen Regierung mit der Sozialdemokratie ein neuer großer politischer Fehler, weil wir damit hineingezogen würden in eine Regierung wie die SPD/Grüne-Regierung, die im Interesse der deutschen Kapitalisten den Krieg gegen Jugoslawien geführt hat. Wir brauchen internationale Solidarität und Zusammenarbeit mit linken Parteien aus anderen Ländern, das heißt eine gemeinsame Front gegen die Dominanz des deutschen Imperialismus und gegen die kapitalistische Strategie der Krisenbekämpfung.

Siehst du aufgrund des gegenwärtigen Kräfteverhältnisses in Europa Parallelen zur Situation vor dem Ersten Weltkrieg?

Man muss das vergleichen. Es gibt den Versuch der deutschen Kapitalisten, ihre ökonomische Vormachtstellung auszubauen und militärisch abzusichern. Sie schieben das Militär weiter nach vorne und reden davon, mehr internationale Verantwortung zu übernehmen. Aber nirgends, wo die deutschen Soldaten waren, haben sie was Gutes geschaffen. Sie haben genauso wie das amerikanische Militär, mit dem sie zusammenarbeiten, neue Wunden aufgerissen. Deshalb haben wir jetzt neue Kriege und Bürgerkriege.

August Bebel hat mal gesagt: „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen.“ Das ist noch immer richtig. Wir haben keine Veranlassung, dazu beizutragen, dass die deutschen Kapitalisten unter dem Vorwand der humanitären Hilfe wieder Soldaten in andere Länder schicken. Wir brauchen auch kein familienfreundliches Militär, wie Frau von der Leyen es will.

Die Antikriegsbewegung gegen den Ersten Weltkrieg war sozialistisch. Wie kommen wir da wieder hin?

Ich glaube, da gibt es zu heute einen ganz großen Unterschied. Vor dem Ersten Weltkrieg haben die Sozialisten bei den großen Kongressen 1907 in Stuttgart und 1912 in Basel gesagt: Wir sind gegen den Krieg, und wenn es zum Krieg kommt, dann werden wir ihn nutzen, um ihn mit einer Revolution zu beenden. Diese mutige Position gibt es heute nicht mehr.

Wir müssen von den gegebenen Schwierigkeiten aus versuchen, die Menschen so zu organisieren, dass sie wieder Antimilitaristen und Sozialisten werden. Kriegsdienstverweigerung reicht nicht. Wir brauchen eine Politik, die die Linke stärkt, die ansetzt an den Interessen der Menschen, die die arbeitenden Menschen, die Rentner, die Arbeitslosen zusammenführt zum Kampf gegen Hartz IV, gegen die Rente mit 67, gegen den Ausbau der Bundeswehr und ähnliche Dinge. Wir brauchen einige zentrale Forderungen, die die Menschen im Kampf zusammenführen und dabei können wir den Zusammenhang zwischen Wirtschaft, Außenpolitik und Militarisierung erklären. Wir müssen erklären, dass das Ziel unseres Kampfes eine andere Gesellschaft ist.

Um die tiefe Wirkung der Ereignisse von 1989 zu überwinden, bin ich als kritischer Kommunist der Meinung, dass wir uns von den Fehlentwicklungen der kommunistischen Bewegung distanzieren müssen. Wir müssen erklären, dass wir damit nichts zu tun haben und dass der Stalinismus ein großes Verbrechen war. Wenn wir das machen, werden wir für den Sozialismus wieder Vertrauen schaffen bei den arbeitenden Menschen.