Das blutige Erbe der Kriege für Öl

Foto: https://www.flickr.com/photos/soldiersmediacenter/ CC BY 2.0
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Dem Irak droht der Zerfall – mit dramatischen Folgen für die gesamte Region

In diesen Tagen erleben wir genau das, wovor das Komitee für eine Arbeiterinternationale (CWI) zu Zeiten des Irak-Kriegs 2003 gewarnt hatte: den Zerfall des Landes und eine Eskalation der ethnischen Konflikte.

von Judy Beishon (Mitglied im internationalen Vorstand des CWI)

Der US- und der britische Imperialismus legten die Basis dafür, dass nicht ein, sondern mehrere Saddam Husseins und Al-Qaida-gleiche Terrororganisationen entstehen konnten – wie das auf die Dschihadistentruppe „Islamischer Staat im Irak und in der Levante“ (ISIL beziehungsweise ISIS) zutrifft, der es bereits im Januar gelang, Falludscha einzunehmen, und jetzt Mossul (die zweitgrößte Stadt des Irak).

Der Sturz von Saddam Hussein bedeutete für viele sunnitische Muslime den Verlust von Positionen im Staatsapparat und ihrer Arbeitsplätze. Konfrontiert mit dem massiven Widerstand der Sunniten spielte der US-Imperialismus seine Teile-und Herrsche-Karte aus und installierte ein schiitisch dominiertes, korruptes Regime.

Die USA sind im Nahen Osten mittlerweile erheblich geschwächt, nachdem ihre Militäreinsätze letztendlich fehlschlugen, die Opposition gegen ihre Interventionen deutlich zugenommen hat und auch im eigenen Land der Widerstand gegen diese Feldzüge stark ist. Präsident Barack Obama war mit dem Versprechen angetreten, die Kriege im Irak und in Afghanistan zu beenden und beschloss den Rückzug der US-Truppen 2011. Letztes Jahr kam er enorm unter Druck, auf eine Bombardierung der syrischen Armee zu verzichten.

Aufgrund dieser Ereignisse schreckt das Weiße Haus derzeit vor einem großangelegten Einsatz von US-Bodentruppen im Irak zurück. Allerdings müssen angesichts der Verlegung von Militär und Waffen in die Region sowie den Plänen für Luftangriffe gegen ISIS trotzdem die Alarmglocken klingeln.

Sunnitischer Aufstand

Bedeutende Teile der eine Million Soldaten starken irakischen Armee brachen auseinander, obwohl die ISIS-Kräfte nur wenige tausend Bewaffnete umfassen. Bei der Einnahme der Zwei-Millionen-Stadt Mossul und anderen Orten wie Tikrit wurde ISIS von Aufständen der sunnitischen Minderheit unterstützt.

Währenddessen nutzten die kurdischen Peschmerga-Kräfte die Krise aus, um rasch Kirkuk einzunehmen, die als mögliche Hauptstadt eines kurdischen Staates betrachtet wird.

Die irakische Regierung unter Nuri al-Maliki erscheint völlig hilflos, ohne jegliche Kontrolle über den Nordirak. Mehr als eine halbe Million Million Menschen aus Mossul und anderen Gebieten der Region befinden sich inzwischen auf der Flucht.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass sowohl die USA als auch der von ihnen jahrelang als Schurkenstaat titulierte Iran ein Interesse daran haben, Malikis Regierung an der Macht zu halten. Der Senator der Republikaner, Lindsey Graham, drückte es so aus: „Warum haben wir mit Stalin gehandelt? Weil er nicht so schlimm wie Hitler war.“

Bagdad

ISIS und die sunnitischen Milizen gaben das Ziel aus, in Bagdad und (überwiegend schiitische) heilige Stätten im Süden einmarschieren zu wollen. Aber es scheint sehr unwahrscheinlich, dass sie damit in nächster Zeit erfolgreich sind. Schiitische Milizen werden gegenwärtig reaktiviert, erhalten neuen Zulauf, einschließlich der Mahdi-Truppen von Muktada al-Sadr. Der Iran ist bemüht, diese mit eigenen Kräften zu stärken.

Gleichwohl eine Invasion gegen Bagdad kurzfristig unterlassen werden könnte, ist nicht davon auszugehen, dass die verbliebenen irakischen Regierungskräfte in der Lage sein werden, alle Gebiete wieder zurückzuerobern, die heute in die Hände von den sunnitischen Milizen und von der kurdischen Peschmerga übergegangen sind. Die Führer der halb-autonomen kurdischen Zone hatten sich lange mit den Ministern von al-Maliki bezüglich der Hoheit über Kirkuk verkeilt. Mit ihrer Vorherrschaft über die Öl-produzierende Region sehen sie die Chance, einen großen Schritt auf dem Weg Richtung Unabhängigkeit tun zu können.

ISIS

ISIS, massiv gestärkt durch viele Dschihadisten aus dem Ausland und einer wachsenden Zahl Unterstützer aus der örtlichen Bevölkerung, hat bereits im syrischen Raqqa und Umgebung ein Kalifat errichtet. Nun versuchen sie, diese Gebiete mit den von ihnen kontrollierten irakischen Zonen zu verbinden – und sich möglichst auch noch auf Teile vom Libanon und von Jordanien auszudehnen.

Der Journalist Robert Fisk gehört zu denen, der berichtete, dass ISIS von den Vermögenden in den Golfstaaten finanziell unter die Arme gegriffen wird. Darunter die Elite Saudi-Arabiens, die zwar Verbündete der USA sind, aber ein Ende der schiitischen Dominanz über Bagdad herbeisehnen. In Syrien konnte ISIS seine Einnahmen mit Hilfe von Steuerauflagen und Erpressungen steigern. Jetzt gelang es ihnen, sich die Gelder auf den Bankkonten von Mossul sowie Unmengen Waffen (oftmals ursprünglich aus US-Besitz) unter den Nagel zu reißen.

Einige ISIS-Führer bemühen sich gerade, die Bevölkerung nicht durch unpopuläre Maßnahmen gegen sich aufzubringen. Andere führen in ihrem Gebiet sofort die Scharia ein und drohen damit, Dieben die Hand abzuschlagen, Parteien zu verbieten und verlangen von Frauen, sich zu verschleiern und zu Hause zu bleiben.

Weitere Folgen der jüngsten Entwicklungen

Die Ereignisse der vergangenen Wochen werden vor allem für die irakische Bevölkerung schreckliche Auswirkungen haben. Zusätzlich wachsen die Sorgen, dass mehr und mehr Nachbarstaaten in die militärischen Konflikte hineingezogen werden.

Die Türkei sieht sich bereits einer Zunahme von Geiselnahmen und Erpressungen durch die ISIS gegenüber. Zudem fürchten die dortigen Machthaber, dass ein unabhängiges Kurdistan Gestalt annehmen könnte.

Aufgrund der reichen Ölvorkommen im Nahen Osten wachsen die Ängste vor den Konsequenzen für die weltweite Ölversorgung und die Weltwirtschaft.

Eine weitere Gefahr wird in der späteren Rückkehr von traumatisierten Dschihad-Kämpfern nach Ländern wie Russland, Großbritannien und Saudi-Arabien gesehen.

Aussichten für multiethnische Gegenwehr

Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass die Menschen im Irak sehr wohl danach streben, ethnische Spaltung und Bürgerkrieg zu überwinden. Im April 2004 demonstrierten 200.000 Schiiten und Sunniten gemeinsam gegen die US-geführte Besatzung. Es kommt jetzt seitens der unterdrückten Massen darauf an, von unten demokratische, multiethnische Strukturen zu initiieren, damit sich die Anwohnerschaft selber verteidigen kann. Nötig ist ein antikapitalistisches Programm, um die Spirale von Blutvergießen, Repression und Armut wirklich zu stoppen.

Bestandteil eines solchen Programms müsste eine Absage an alle Warlords, Militärmachthaber und pro-kapitalistische Politiker sein. Diese müssen gestürzt und durch demokratisch gewählte VertreterInnen der arbeitenden Bevölkerung ersetzt werden, die sich für einen Ausweg im Interesse aller verarmten Schichten, für einen sozialistischen Ausweg einsetzen.

Das CWI unterstützt das Recht auf Selbstbestimmung aller unterdrückten Nationalitäten und ethnischen Gruppen, aber weist darauf hin, dass so entstehende Staaten und staatsähnliche Gebilde heute allein ökonomisch kaum überlebenfähig wären, sondern sich mit anderen zu einer freiwilligen sozialistischen Föderation zusammenschließen sollten. Nur auf dieser Basis ließe sich der Reichtum der Region für alle nutzbar machen und der Lebensstandard spürbar erhöhen. Eine harmonische wirtschaftliche Entwicklung und ein solidarisches Miteinander könnten erstmals Realität werden.