Inflation oder Deflation?

Foto: https://www.flickr.com/photos/lendingmemo/ CC BY 2.0
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Im Herbst 2012 erschien in der „Solidarität. Sozialistische Zeitung“ ein Leserbrief von Heino Berg, der sich kritisch mit einem Artikel vom Autor dieses Beitrags in der September-Ausgabe dieser Zeitung beschäftigte. Damals wurde eine Antwort auf den Leserbrief angekündigt, die auch im November/Dezember 2012 entworfen, aber nicht fertiggestellt wurde. Das soll jetzt nachgeholt werden. Ein Problem bei diesem Thema ist, dass es in Deutschland sehr einseitig diskutiert wird: Vor der Gefahr von Inflation wird ständig gewarnt, die Gefahr einer Deflation wird meist ignoriert. Auch Heino in seinem Leserbrief befürchtete, ich würde die Gefahr der Inflation unterschätzen, sprach aber die Gefahr einer Deflation nicht an.

von Wolfram Klein

2011 versuchte Thomas Fricke, damals Chefökonom der inzwischen eingestellten „Financial Times Deutschland“, das zu erklären. In einer Kolumne mit dem Titel „Welches Trauma hätten‘s denn gern?“ argumentierte er: In Deutschland sei die Hyperinflation von 1923 ein Nationalschock gewesen sei, in den USA dagegen die Depression und Deflation der dreißiger Jahre.

Was uns in der kommenden Periode drohen könnte, ist aber quasi die schlechteste aller möglichen Welten, die Kombination von Inflation und Deflation: für die VerbraucherInnen steigende Preise für Waren des täglichen Bedarfs und zugleich die negativen gesamtwirtschaftlichen Folgen von Deflation in den Branchen, die langlebige Konsumgüter und Produktionsmittel herstellen.

Aber bevor wir die Gefahr von Inflation und Deflation diskutieren können, müssen wir klären, wie Preise überhaupt zustande kommen.

Wie kommen Preise zustande?

In der grundlegenden Frage besteht zwischen Heino und mir Einigkeit: Der Wert der Waren wird durch ihre gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit bestimmt. „Wenn ein Auto ein Vielfaches eines Fahrrads kostet, ist das auf die viel größere notwendige Arbeitszeit (angefangen mit der Zeit für die Förderung der in ihm enthaltenen Rohstoffe, zur Erzeugung der bei der Herstellung verwendeten Energie et cetera) zurückzuführen“ – habe ich in meinem Artikel geschrieben. Und weiter: „Kurzfristige Schwankungen werden dann durch Angebot und Nachfrage bestimmt.“

Das kann man in zwei Richtungen modifizieren. Erstens gilt es nur bei freier Konkurrenz. Bei Waren, die nicht beliebig vermehrbar sind, gilt nur der Mechanismus von Angebot und Nachfrage: zum Beispiel bei Kunstwerken. Dazu kommt, dass zahlreiche Waren, die rein technisch beliebig vermehrbar wären, dennoch nicht vermehrt werden dürfen, weil dem das „geheiligte“ Privateigentum entgegensteht (Patente, Markennamen et cetera). Und schließlich ist die kapitalistische Wirtschaft immer mehr durch Großkonzerne geprägt, zwischen denen keine wirkliche Konkurrenz stattfindet. Die Namen der Supermarkt-Ketten kennen wir alle. Dass die „konkurrierenden“ Ketten für etwa gleiche Waren denselben Preis verlangen, oft auf den Cent genau, sehen wir täglich. Dass sie ihn zeitgleich um den gleichen Betrag erhöhen (oder manchmal auch senken), erleben wir immer wieder. Aber da MarxistInnen bei Diskussionen gelegentlich gefragt werden, ob wir den „kleinen Bäcker an der Ecke“ verstaatlichen wollen, will ich doch darauf hinweisen, dass der „kleine Bäcker an der Ecke“ in Stuttgart-West, wo ich als Kind manchmal zuschauen durfte, wie in einem riesigen Gefäß der Teig maschinell geknetet wurde, inzwischen längst zu einer Bäckerei-Kette gehört. (Wenige Ausnahmen gibt es natürlich weiterhin – und hier sollen aus unserer Sicht die Besitzer der jeweiligen Einrichtung selbstverständlich selber entscheiden).

Die zweite Modifikation ist, dass Preise staatlich beeinflusst werden. Manche Preise sind einfach staatlich festgelegte Gebühren. Dazu kommen staatlich beeinflusste („administrierte“) Preise. Und schließlich beeinflussen die indirekten Steuern die Preise aller Waren. Und kapitalistische Staaten vertreten nicht unsere Interessen, sondern die der Kapitalisten, auch wenn sie Preise beeinflussen. Ein drastisches Beispiel dafür ist, wie die „Energiewende“ vor allem dazu dient, die Macht der großen Energiekonzerne zu sichern (indem eine ökologisch sinnvolle Dezentralisierung der Energieversorgung verhindert wird) und die Kosten dafür den VerbraucherInnen aufzuladen.

Laut „Institut der deutschen Wirtschaft“ (IW) stiegen die administrierten Preise 1991-2009 um 75 Prozent, die „marktbestimmten“ dagegen nur um 34 Prozent. Dazu kamen Mehrwertsteuererhöhungen um fünf Prozent in diesem Zeitraum. Laut IW wäre die Kaufkraft der ArbeitnehmerInnen von 1991 bis 2009 ohne die staatlichen Eingriffe um fast zwölf Prozent gestiegen (statt um nur vier Prozent).

Die Europäische Zentralbank (EZB) schätzt die administrierten Preise in der Euro-Zone auf 12,3 Prozent der Preise insgesamt, in Tabelle 1 ist ein Überblick über die Preisentwicklung (jeweils Preissteigerung gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahrs) zu finden.

Tabelle 1

  2009 2010 2011 2012 I. Qu. ’13 II. Qu. ’13 III. Qu. ’13 Oktober 2013
Administriert 1,7 1,7 3,6 3,8 3,1 2,2 1,7 1,3
Rest 0,1 1,6 2,6 2,3 1,7 1,3 1,3 0,6

Offensichtlich tragen die administrierten Preise seit Jahren für die Euro-Zone insgesamt zur Verstärkung der Preissteigerung (und damit zur Entwertung von Löhnen, Sozialleistungen et cetera) bei.

Welche Rolle spielt die Geldmenge?

Heino Berg behauptet darüber hinaus aber noch einen Zusammenhang zwischen Preisen und Geldmenge: „Der Tauschwert von Waren wird zwar durch die gesellschaftlich dafür notwendige Arbeitszeit bestimmt, ihr Ausdruck in Marktpreisen beziehungsweise die ‚Stabilität‘ der jeweiligen Geldeinheit hängt aber natürlich auch vom Verhältnis zwischen Güter- und Geldvolumen ab. Andernfalls könnten Staat und Zentralbanken unbegrenzt ‚Geld drucken‘, ohne damit Inflationsgefahren hervorzurufen.“

Dem würde ich entgegenhalten, dass es nicht darauf ankommt, wie viel Geld „da“ ist, sondern wer es hat und was die Betreffenden damit anfangen. Geld im Tresor führt nicht zu Inflation, ebenso wenig wie Geld, mit dem absonderliche „Finanzmarktprodukte“ ge- und verkauft werden. Etwas anderes ist es, wenn Zentralbanken das Geld dem Staat oder Beschäftigten oder RentnerInnen oder Hartz-IV-EmpfängerInnen geben und diese das Geld ausgeben. In diesem Fall würde die Nachfrage steigen, also genau der von mir beschriebene Fall eintreten: steigende Preise wegen steigender Nachfrage.

Die „Quantitätstheorie“, die Vorstellung, dass die Preise der Waren vom Verhältnis von Güter- und Geldvolumen abhängen würden, ist alt. In der klassischen Ökonomie vertraten zum Beispiel David Hume (1711-1776) und David Ricardo (1772-1823) diese Ansicht, bei der heutigen bürgerlichen Ökonomie herrscht sie vor.

Karl Marx hat in vielen Fragen an Ricardo angeknüpft, aber in der Geldtheorie radikal mit ihm gebrochen. In einem Fall ließ er die „Quantitätstheorie“ aber doch gelten, nämlich für „Staatspapiergeld mit Zwangskurs“ – modernes Papiergeld.

Er machte dabei aber zwei Einschränkungen: Erstens setzte er voraus, dass das Geld nur als Zirkulationsmittel dient, also nur als Hilfsmittel zum Kaufen und Verkaufen von Waren (samt Dienstleistungen). Tatsächlich dient Papiergeld heute auch zur Spekulation oder als Wertanlage.

Zweitens abstrahiert Marx bei diesen Überlegungen ausdrücklich vom Kreditgeld.

Beide Einschränkungen bedeuten, dass die „Quantitätstheorie“ für Papiergeld nur unter völlig unrealistischen Bedingungen gelten würde. Wir können also getrost sagen, dass sie in der Realität auch für Papiergeld nicht gilt.

Das bestätigt sich, wenn wir einen genaueren Blick auf diese Realität werfen. Tabelle 2 gibt eine Vorstellung von den Mengenverhältnissen verschiedener „Geldarten“ und ihrer Veränderung.

Tabelle 2

  Juli 2012 Juli 2013 Steigerung (2013 in % von 2002)
Banknoten und Münzen 328 909,3 277,00%
M1 2257,5 5304,3 235,00%
M2 4744,8 9170,9 193,00%
M3 5554 9861,6 178,00%
Kredite der MFI an öffentliche Haushalte 801,8 1101,8 137,00%
Kredite der MFI an andere MFI 3852 5415,5 141,00%
Kredite an andere Unternehmen, Privathaushalte etc. 6691,6 10897,6 163,00%
Zum Vergleich: Aktiva der MFI insgesamt (incl. Wertpapiere etc.) 18450,2 31695,6 172,00%
BIP (I. Quartal) 1735,3 2317 134,00%

Die Zahlen zeigen erstens, dass die von den Zentralbanken „geschöpfte“ Geldmenge nur einen Bruchteil der Geldmenge insgesamt ausmacht – erst Recht, wenn man das Kreditgeld mit einbezieht.

Zweitens zeigen sie, dass die verschiedenen Geldmengen sehr verschieden schnell wachsen. Auffällig ist, dass die Menge der Banknoten und die eng gefasste Geldmenge M1 besonders schnell gewachsen sind. Man muss das zum einen als Krisensymptom betrachten, als Ausdruck des wachsenden Misstrauens der Kapitalisten untereinander, die zunehmend nur noch „sichere“ Geldformen akzeptieren. Zum anderen ist es Folge der extrem niedrigen Zinsen. Sie machen die Bankeinlagen, die bei M2 und M3 zu M1 dazu kommen, quasi zur schlechtesten aller möglichen Welten. Man kann über sie nicht frei verfügen, aber Zinsen bringen sie trotzdem kaum.

Drittens zeigen sie, dass das Bruttoinlandsprodukt (die Zahlen geben das nominelle, nicht das inflationsbereinigte Bruttoinlandsprodukt an; die Steigerung um 34 Prozent 2002-2013 beinhaltet also sowohl das Wirtschaftswachstum als auch die Preissteigerung in diesem Zeitraum) viel langsamer gewachsen ist als irgendeine der Geldmengen. Wenn die Quantitätstheorie stimmen würde, müsste es genauso schnell steigen wie … welche Geldmenge auch immer.

Die Geldmenge als Erklärung für steigende Preise ist also falsch. Das gilt allgemein, es gilt aber in Zeiten von Neoliberalismus und Globalisierung besonders. Wenn eine kleine Minderheit einen immer größeren Anteil an den Einkommen und Vermögen hat und ein immer größerer Teil des Geldes für Geschäfte auf den Finanzmärkten und nicht für den Kauf von Waren und Dienstleistungen verwendet wird (was beides miteinander zusammen hängt), dann passen ein geringes Wachstum der Preise und ein starkes Wachstum der Geldmenge gut zusammen.

Warum stellt Deflation überhaupt eine Gefahr dar?

Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass fallende Preise etwas Gutes sind. Wenn unser Geld mehr wert ist, ist das doch gut? Tatsächlich bedeutet Deflation nicht einfach fallende Preise für VerbraucherInnen, sondern ist im Kapitalismus ein krisenhafter Prozess, der mehrere Probleme bringt.

Das erste Problem bei der Deflation ist, dass der Preis von Waren von ihrem Wiederbeschaffungspreis bestimmt wird, nicht von ihrem ursprünglichen Kaufpreis. Das konnte man in den letzten Jahrzehnten eindrücklich sehen, wenn die Erdölpreise stark fielen oder stiegen. Der Verkaufspreis hing von der aktuellen Notierung an der Warenbörse ab, nicht vom Einkaufspreis. Entsprechend gab es bei steigenden Ölpreisen hohe Gewinne für die Händler (der englische Fachausdruck ist „windfall profits“), bei fallenden entsprechende Verluste.

Entsprechend bedeutet für die Kapitalisten Deflation, dass während dem Produktionsprozess und bis zum Verkauf der Waren die Preise und somit auch die Profite fallen. Die Folge ist, dass bestimmte Unternehmen durch die Deflation nicht mehr profitabel sind. Da im Kapitalismus nicht produziert wird, um menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, sondern um Profit zu machen, führt das dazu, dass die Produktion eingeschränkt wird. Die Wirtschaft wächst langsamer und gerät leichter in die Krise.

Dazu kommt, dass KundInnen den Kauf von langlebigen Konsumgütern oder von Produktionsmitteln hinausschieben, weil sie hoffen, sie später billiger kaufen zu können – wodurch nicht nur die Profite weiter sinken, sondern auch die Produktion weiter sinkt.

Ein besonderes Problem ist, dass Deflation und Wirtschaftskrise einen Teufelskreis bilden, es zu einer Deflationsspirale kommen kann: Durch die Wirtschaftskrise fällt die Nachfrage (sowohl der Unternehmen, die ihre Produktion einschränken, als auch der VerbraucherInnen, die weniger Geld in der Tasche haben). Dadurch fallen die Preise. Wegen der fallenden Preise werden Käufe aufgeschoben. Damit sinkt die Nachfrage weiter und die Preise fallen noch mehr. Die verschärfte Deflation verschärft die Krise weiter.

Für die Arbeiterklasse sind die fallenden Preise kein Grund zur Freude. Wenn Löhne und Renten um 30 Prozent gekürzt werden, dann sind um drei Prozent fallende Preise kein großer Trost. Dazu kommt, dass vor allem die Preise für langlebige Konsumgüter fallen – vor allem weil diese Waren kaum noch gekauft werden … und deshalb kaum jemand von diesen fallenden Preisen profitiert. (Überspitzt gesagt: Zuerst kaufen die Leute keine langlebigen Konsumgüter, weil sie auf noch niedrigere Preise warten. Dann kaufen sie sie nicht, weil sie inzwischen durch die Krise ihre Arbeit verloren haben oder ihre Löhne massiv gesenkt worden sind und sie sich inzwischen nicht mal mehr drastisch billigere langlebige Konsumgüter leisten können.) Stark fallende Preise für langlebige Konsumgüter und steigende Preise für Güter des täglichen Bedarfs, steigende Gebühren et cetera können im Durchschnitt fallende Preise bedeuten. Bei der Deflation in Japan war es tatsächlich so. Tabelle 3 bietet dafür eindrückliche Beispiele.

Tabelle 3

  Preise 2010 in % von Preisen 1990
Mieten 116,50%
Heizung, Beleuchtung, Wasser 112,10%
Möbel 37,10%
Bekleidung 103,30%
Langlebige Freizeitartikel 9,10%
Alles außer frischer Nahrung 106,20%

Die Tabelle besagt, dass langlebige Freizeitartikel, die 1990 zum Beispiel 100.000 Yen gekostet haben, 2010 nur noch 9.100 Yen kosteten, Möbel noch 37.100 Yen, aber Mieten inzwischen 116.500 Yen.

Ein paar Zahlen aus der Euro-Zone (siehe Tabelle 4) mögen zeigen, dass auch hier die Preise für verschiedene Waren und Dienstleistungen sich verschieden entwickelt haben (die Zeile „Gewicht“ gibt an, welchen Anteil sie im Jahre 2012 ausmachten):

Tabelle 4

  Nahrung Energie Industrieerzeugnisse ohne Energie Dienstleistungen Insgesamt
Gewicht 19,40% 11,00% 27,40% 42,30% 100,00%
2009 0,70% -8,10% 0,60% 2,00% 0,30%
2010 1,10% 7,40% 0,50% 1,40% 1,60%
2011 2,70% 11,90% 0,80% 1,80% 2,50%
2012 3,10% 7,60% 1,20% 1,80% 2,50%
I. Q. 2013 2,90% 3,20% 0,80% 1,70% 1,90%
II. Q. 2013 3,10% 0,30% 0,80% 1,30% 1,40%
III. Q. 2013 3,10% 0,10% 0,40% 1,40% 1,30%
Oktober 2013 1,90% -1,70% 0,30% 1,20% 0,70%
November 2013 1,60% -1,10% 0,30% 1,50% 0,90%

Wenn das Geld durch Deflation im Wert steigt, bedeutet das auch, dass Geldvermögen und Schulden im Wert steigen. Da Vermögen und Schulden in Deutschland sehr ungleich verteilt sind, würden davon vor allem die Reichen profitieren.

Und die Inflation?

Warum die große Masse der Bevölkerung keinerlei Interesse an Inflation hat, ist offensichtlich. Wenn die Preise steigen, sind Löhne und Gehälter, Renten, Sozialleistungen et cetera weniger wert. Wir müssen um ihre Anpassung an die gestiegenen Preise kämpfen, bevor überhaupt von einer realen Erhöhung die Rede sein kann.

Dazu kommt, dass je nach der Höhe des Einkommens sich die Ausgaben verschieden auf die verschiedenen Waren und Dienstleistungen verteilen. Haushalte, die wenig Einkommen haben, müssen einen hohen Anteil für Güter des täglichen Bedarfs ausgeben und haben kaum Geld für langlebige Konsumgüter übrig. Deshalb steigen für sie die Preise schneller als die offizielle Preissteigerung. Das Statistische Bundesamt ermittelt laufend die Kaufkraftentwicklung für verschiedene Haushalte und berechnet auf dieser Grundlage die durchschnittliche Entwicklung der Lebenshaltungskosten. Es war mir leider nicht möglich, aufgeschlüsselte Zahlen zu finden. Die Herrschenden werden wissen, warum sie solche Zahlen zu verstecken versuchen.

Aber ein Einzelbeispiel zeigt, was für Unterschiede bestehen können. Das IW veröffentlichte am 17. Dezember 2012 Zahlen zu den Folgen des EEG (Erneuerbare-Energien-Gesetz) auf die Haushalte. Während das reichste Zehntel der Haushalte nur 0,2 Prozent des Einkommens für die EEG-Finanzierung aufbringen muss, sind es beim ärmsten Zehntel 1,3 Prozent des Einkommens.

Aber wenn Deflation die Profite der Kapitalisten drückt, dann erhöht doch Inflation sie? Haben dann nicht die Kapitalisten ein Interesse an Inflation? In bestimmten Phasen haben Kapitalisten tatsächlich bewusst auf Inflation gesetzt. Das war einer der Gründe für die „Stagflation“ der siebziger Jahre (neben steigenden Ölpreisen et cetera), als es in der BRD Preissteigerungen von um die sieben Prozent gab. Wenn Gewerkschaften kampfstark sind, können Kapitalisten Preissteigerungen leichter durchsetzen als Lohnsenkungen.

Aber hohe Inflation bedeutet in der Realität nicht nur steigende Preise, sondern auch schwankende Preissteigerungen. Wir hatten in den letzten Jahren in der Euro-Zone nicht nur eine niedrige Inflation, sondern auch geringe Schwankungen der Inflationsrate. Wenn die Inflationsrate um zwei Prozent schwankt, erscheint es uns schon als viel. Es ist nicht so, dass bei einer Inflation von 50 Prozent die Inflation zwischen 49 und 51 Prozent schwanken würde. Die Schwankungen sind dann wesentlich größer. Entsprechend werden die Zinsen für Kredite, wenn sie überhaupt vergeben werden, eine beträchtliche „Risikoprämie“ enthalten, die realen Zinsen (die Differenz zwischen Zinsen und Preissteigerung) sind entsprechend hoch. Niedrigere Inflation bedeutet also niedrigere reale Zinsen und damit einen niedrigeren Anteil des Profits, den Kapitalisten der sogenannten „Realwirtschaft“ an Kreditgeber abtreten müssen, wenn sie mit geliehenem Geld operieren.

Zugleich sind niedrigere Zinsen aber auch im Interesse des Finanzsektors: Karl Marx hat im dritten Band des „Kapitals“ erklärt, wie die Aufteilung des Profits in Zins und Unternehmergewinn und der Fetischcharakter des zinstragenden Kapitals (also die kollektive Wahnvorstellung, dass es eine „Natureigenschaft“ des Kapitals sei, einen Zins abzuwerfen) dazu führen, dass jede regelmäßige Einkunft (also Dividenden, Renditen et cetera) als Zins auf ein Kapital erscheint. Die entsprechenden Einkunftsquellen (Aktien, Staatsanleihen et cetera) erscheinen als das dazugehörige Kapital, eben fiktives Kapital. Bei durchschnittlichen Zinsen von fünf Prozent erscheint eine regelmäßige Einkunft von 5.000 Euro als Zinsen von einem Kapital von 100.000 Euro, weil 5.000 fünf Prozent von 100.000 sind. Zum Beispiel bei Dividenden von 5.000 Euro wäre der Wert der entsprechenden Aktien 100.000 Euro (wobei der Kurs gemäß Angebot und Nachfrage um diesen Wert schwanken würde).

Die Zinseinkünfte sind umso niedriger, je niedriger die Zinsen sind. Umgekehrt: Wenn die Einkünfte bei sinkenden Zinsen gleich bleiben, erscheint das zugehörige fiktive Kapital entsprechend größer. Wenn die Zinsen auf 2,5 Prozent fallen, aber die Dividende bei 5.000 Euro bleibt, steigt das fiktive Kapital, der fiktive Wert der Aktien auf 200.000 Euro, weil 5.000 2,5 Prozent von 200.000 sind. (Marx/Engels-Werke, Band 25, vor allem die Seiten 482 und 485).

Sinkende Zinsen bedeuten also nicht nur, dass die „Realwirtschaft“ einen geringeren Anteil ihrer Profite an den Finanzsektor abdrücken muss, sondern auch, dass der Finanzsektor von einer Wertsteigerung des fiktiven Kapitals profitiert (die natürlich selbst ebenfalls fiktiv ist). Sinkende Zinsen sind also sowohl im Interesse der Realwirtschaft als auch des Finanzsektors.

Dabei muss man auch beachten, dass es erstens zwischen beiden Bereichen keine chinesische Mauer gibt. Industrieunternehmen besitzen auch Wertpapiere. Zweitens sind die Wertsteigerungen zwar nur fiktiv, aber wenn Kapitalisten Wertpapiere teurer verkaufen als sie sie gekauft haben, dann machen sie dadurch ebenso Profit wie mit der Ausbeutung von Arbeitskräften. Und wenn am nächsten Tag eine Spekulationsblase platzt und der Kurs der verkauften Wertpapiere abstürzt, dann dürfen sie ihr Geld trotzdem behalten.

Asymmetrie von Deflation und Inflation

Ein weiterer Aspekt ist, dass Deflation und Inflation gewissermaßen asymmetrisch sind. Zentralbanken können Inflation „in den Griff kriegen“, indem sie die Zinsen drastisch erhöhen. Die Folge ist, dass weniger Kredite vergeben werden und wegen der gesunkenen Nachfrage die Inflation sinkt. Der Preis dafür kann eine schwere Wirtschaftskrise sein, vor der die Herrschenden möglicherweise aus politischen Gründen (Angst vor der Gegenwehr der Arbeiterklasse et cetera) zurückschrecken, aber technisch ist es möglich.

Dagegen sind Zinssenkungen nicht beliebig möglich. Wenn die Zinsen unter 0 sinken, dann zahlen die Banken weniger Zinsen als mir meine Matratze „zahlt“, wenn ich mein Geld dort aufbewahre. Wir haben bereits in der Euro-Zone, den USA, Japan et cetera historische Tiefstände der Zentralbankzinsen. Sie versuchen, mit begrenztem Erfolg, durch Kauf von Wertpapieren quasi Zinssenkungen zu simulieren. Man braucht sich nur die Bemühungen Japans in den letzten zwanzig Jahren anschauen, wieder aus der Deflationsspirale herauszukommen, um zu sehen, wie schwierig das ist.

Aus diesen Überlegungen sollte klar sein, dass Kapitalisten ein Interesse an einer niedrigen Inflationsrate haben (aber nicht ganz Null, weil sonst das Risiko des Abgleitens in eine Deflationsspirale bestünde) und dass in Zeiten des Neoliberalismus und der gestiegenen Bedeutung der Finanzmärkte die Kapitalisten ein noch viel größeres Interesse an einer niedrigeren Inflation als vorher haben.

Die niedrigen Inflationsraten der letzten Jahre entsprachen also den Interessen der Kapitalisten. Wie wurden sie erreicht? Indem die Notenbanken durch ihre Zins- und Geldmengenpolitik die Geldmenge in einem Maß ausdehnen, dass die Preise in dem gewünschten Tempo steigen, wie es die Quantitätstheorie behauptet? Wie wir gesehen haben, besteht zwischen der Entwicklung der verschiedenen Geldmengen und der Preise kein enger Zusammenhang.

Traditionell beeinflussen die Zentralbanken mit ihren Zinssätzen (sowie Mindestreservevorschriften et cetera) die Kreditmengen. Das wirkt sich nicht nur auf die Geldmenge aus (weil es den Umfang des Kreditgelds vergrößert oder verringert), sondern auch auf die Nachfrage: Unternehmen oder Privatpersonen nehmen Kredite auf, um das Geld auszugeben. (Aber Kredite können ebenso verwendet werden, um mit dem Geld auf den Finanzmärkte zu spekulieren et cetera).

Außerdem formulieren Zentralbanken Inflations- oder Geldmengenziele. Zum Beispiel betont die EZB immer wieder, dass ihr Ziel eine Preissteigerung von knapp unter zwei Prozent sei – also genau das, was den Interessen der Kapitalisten entspricht: niedrig, aber ein gewisser „Sicherheitsabstand“ zu den 0 Prozent, bei denen Deflation droht. Zweitens formulieren Zentralbanken Erwartungen, wie sich die Preise tatsächlich entwickeln werden. Im Monatsbericht vom Dezember 2013 wird zum Beispiel für 2014 eine Preissteigerung von 1,1 Prozent erwartet, für 2015 von 1,3 Prozent.

Solche Aussagen der Notenbanken über erwartete Preisentwicklungen führen zu bestimmten Inflationserwartungen, die ihrerseits Einfluss darauf haben, welche Preiserhöhungen Verkäufer durchzusetzen versuchen und wie Käufer auf sie reagieren (neben anderen Faktoren). Dazu kommt der Einfluss von Angebot und Nachfrage durch die Entwicklung der Wirtschaft.

Und schließlich ist die allgemeine Preissteigerung ein Durchschnittwert von sehr verschiedenen Preisentwicklungen für verschiedene Waren, je nach der Veränderung der Arbeitsproduktivität in den verschiedenen Produktionszweigen.

Was droht uns aktuell?

Damit sind wir bei der Frage angekommen, ob uns in absehbarer Zeit eher Inflation oder Deflation droht. In der zu Beginn erwähnten Kolumne in der „Financial Times Deutschland“ verwies Thomas Fricke darauf, dass die Hyperinflation in Deutschland bereits 1916 begann, weil sich zur Finanzierung des Ersten Weltkriegs die Zentralbankgeldmenge versechsfachte, während die Industriekapazitäten um 60 Prozent einbrachen. Er folgerte: „Wenn man aus der Hyperinflation Lehren ziehen will, dann vielleicht die, dass es wichtig ist, nicht in Weltkriege zu ziehen, die man erstens nicht gewinnt und zweitens nicht mehr stabilitätspolitisch unbedenklich finanziert kriegt. (…) Ökonomisch zieht heute eher der Vergleich mit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts.“ Er sah also vor zwei Jahren die Gefahr der Deflation als größer an.

Heino Berg behauptete nicht, dass unmittelbar Inflation drohe, er sieht aber Hinweise, dass es künftig zu Inflation kommen könne. Sein erstes Argument war die Abwertung des Euro gegenüber dem US-Dollar 2011/12. Es stimmt, dass diese Abwertung zu steigenden Preisen für Waren führte, die in Dollar gehandelt werden, zum Beispiel Erdöl, und damit zur Steigerung der Preise allgemein beitrug. Aber war die Abwertung des Euro eine Folge der EZB-Politik? Die Ausweitung der Geldmenge ist doch keine Spezialität der EZB. Schauen wir uns die Daten in Tabelle 5 an (Ich verwende hier die Daten zur Geldmenge M2, weil sie den Vergleich mit den USA erleichtert).

Tabelle 5

  Infl. € in % M2 € in % 1 € = x$ Infl. $ in % M2 $ in %
2011 2,7 2,3 1,392 3,2 7,3
2012 2,5 3,1 1,2848 2,1 8,6
I’12 2,7 3 1,3108 2,8 10,2
II’12 2,5 3 1,2814 1,9 9,6
III’12 2,5 3,2 1,2502 1,7 7,1
IV’12 2,3 4,2 1,2967 1,9 7,6
I’13 1,9 4,3 1,3206 1,7 7,3
II’13 1,4 4,6 1,3062 1,4 7
III’13 1,3 4,1 1,3248 1,6 6,6
Okt’13 0,7 3,2 1,3635 1 6,8
Nov’13 0,9   1,3493    

Wir sehen erstens, dass gerade seit gut einem Jahr der Euro wieder gegenüber dem Dollar an Wert zugelegt hat. Ein Faktor bei Kursrückgängen des Euro ist Spekulation. Wenn die Euro-Krise sich zuspitzt, fällt der Euro-Kurs. Ein Prinzip der Spekulation ist, das gleiche zu machen wie alle anderen, aber als erster. Wenn der Euro-Kurs fällt, verkauft man Euro, solange sie noch teuer sind (und trägt mit dem Verkauf zum Fall des Kurses bei). Da Spekulanten bei Zuspitzungen der Euro-Krise mit einem fallenden Euro-Kurs rechnen, reagieren sie auf entsprechende Meldungen mit dem Verkauf von Euro und tragen damit dazu bei, dass der Euro-Kurs tatsächlich fällt. Das erklärt kurzfristige Schwankungen. Längerfristige Veränderungen entstehen zum Beispiel, wenn Spekulanten (oder allgemein Investoren) in Euro gehandelte Wertpapiere (zum Beispiel Staatsanleihen südeuropäischer Länder) verkaufen und in Dollar gehandelte Wertpapiere (zum Beispiel US-Staatsanleihen) kaufen. Auch hier gilt, dass der Kursrückgang des Euro in den ersten Monaten 2012 auf die Euro-Krise zurückzuführen war, nicht auf die Ausweitung der Geldmenge durch die EZB. Im Gegenteil: Indem die EZB im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Euro-Krise gemildert hat, hat sie den Kursrückgang des Euro begrenzt und zum Wiederanstieg des Euro-Kurses seitdem beigetragen.

Zweitens war der Kursverlust des Euro gegenüber dem Dollar bis zum Herbst 2012 offenbar nicht auf ein größeres Wachstum der Geldmenge zurückzuführen. In Deutschland gibt es eine massive Propaganda gegen staatliche Anleihekäufe, obwohl die EZB beteuert, sie „inflationsneutral“ durchzuführen (und das geringe Geldmengenwachstum zeigt, dass das nicht einfach Propaganda ist), dagegen wurde in den USA eine dritte Runde von „quantitativer Lockerung“ von bürgerlichen Ökonomen geradezu herbeigesehnt. Dieser Unterschied der öffentlichen Wahrnehmung sollte uns aber nicht ignorieren lassen, dass a) die Ausweitung der Geldmenge in den USA größer war und b) dass gerade in den Zeiten, in denen die Ausweitung der Geldmenge in den USA besonders groß war (auch im Vergleich zur Euro-Zone: um fünf Prozent größer und mehr), der Euro gegenüber dem Dollar trotzdem an Wert verlor und die Inflationsrate in der Euro-Zone oft höher war als in den USA. Das bestätigt auch für die USA, dass die Inflation herzlich wenig mit der Geldmenge zu tun hat.

Immobilien und Inflation

Heinos zweites Argument ist, dass „die ständige Erhöhung der Geldmenge im spekulativen Sektor“ auch zu steigenden Preisen in der Realwirtschaft führe. Er nennt „Rohstoffe, Nahrungsmittel und Immobilien auf den Weltmärkten“ als Beispiele.

Bei dieser Aufzählung sollten wir die Immobilien streichen. Es gibt keinen Weltmarktpreis für Immobilien, eben weil sie nicht mobil sind. Es gibt sicher so etwas wie „Ansteckung durch Hoffnungen“, aber die Daten zeigen, dass nationale, regionale und andere Faktoren die Preisentwicklung weitaus stärker bestimmen. In der Euro-Zone sanken die Immobilienpreise 2011 in Irland um 13,2 Prozent, in Estland stiegen sie um 9,9 Prozent (Deutschland +2,6, Frankreich + 5,9, Italien +0,7, Spanien -7,4 Prozent). Im Durchschnitt der Euro-Zone gab das einen Anstieg von ein Prozent, also unterhalb der Inflationsrate. 2012-13 hat sich der Preisanstieg zwar in Deutschland beschleunigt, in der Euro-Zone insgesamt schrumpfen die Immobilienpreise inzwischen (-2,4 Prozent im II. Quartal 2013). Dabei reichte die Spannbreite 2012 von einem Anstieg um 12,4 in Österreich bis zu einem Schrumpfen um 13,7 Prozent in Spanien. Für die Euro-Zone insgesamt sind die Immobilienpreise offenbar aktuell keine Quelle der Inflation. Im Unterschied zu den Immobilienpreisen steigen die Mieten in der Euro-Zone ziemlich konstant um etwa 1,5 Prozent. In Deutschland sieht es bekanntlich gerade anders aus als im EU-Durchschnitt, vor allem in Großstädten.

Was die Rohstoffe und Nahrungsmittel betrifft, würde ich behaupten, dass Spekulation zwar Preisentwicklungen, die durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage entstehen, verstärken kann und sie in gewissem Umfang verlängern kann, dass die Preise sich aber nicht auf Dauer entgegen dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage entwickeln können. Wenn also die Weltwirtschaft sich abschwächt und dadurch die Endnachfrage sinkt, dann werden Spekulanten früher oder später dazu übergehen, auf fallende Preise zu wetten beziehungsweise sich günstigere Spekulationsobjekte suchen. Tatsächlich gab es 2011-12 einen deutlichen Anstieg von Rohstoffpreisen. Aber seitdem hat sich der Trend wieder umgekehrt. Der Ölpreis betrug 2011 79,7 Euro pro Barrel, 2012 86,6 Euro, im November 2013 aber wieder 80,0 Euro. Die Rohstoffpreise ohne Energie stiegen 2011 stark um 12,2, 2012 nur noch um 0,5 Prozent und fielen 2013. Die Preise auf dem Terminmarkt lassen einen weiteren Ölpreisrückgang erwarten. Für die Rohstoffpreise ohne Energie rechnet die EZB für 2014 mit einem Rückgang um 2,6 Prozent und für 2015 dann wieder mit einem Anstieg um 3,7 Prozent. Natürlich kann es auch anders kommen. Die EZB hat in ihrem Monatsbericht vom Dezember 2013 dreimal „höhere Rohstoffpreise“ als „Aufwärtsrisiko“ bei der Preisentwicklung genannt.

Heino schreibt, dass die „Überproduktionskrise, die den Mangel an kaufkräftiger Nachfrage wegen der niedrigen Löhne ausdrückt“ „die Tendenz zu allgemeiner Geldentwertung“ überlagert. Aber rechnen wir damit, dass sich die Krise in der kommenden Periode abschwächt? Ich habe diese Hoffnung nicht und halte sogar eine Verschärfung der Krise für möglich bis dahin, dass es zu einer Deflationsspirale wie in Japan in den letzten 20 Jahren kommen könnte. Und da die allgemeine Preisentwicklung nur ein Durchschnitt der Preisentwicklung verschiedener Waren ist, kann es auch bei uns wie in Japan die Kombination von Preissteigerungen für Waren des täglichen Bedarfs und Preisrückgängen für langlebige Konsumgüter, Produktionsmittel (Maschinen et cetera) geben. Die Folge ist dann, dass die Masse der Bevölkerung unter den Preissteigerungen für die Güter des täglichen Bedarfs, unter Gebührenerhöhungen et cetera leidet (besonders einkommensschwache Familien, die dafür einen hohen Teil ihres Einkommens ausgeben müssen), während gleichzeitig Branchen wie die Autoindustrie massive Absatz- und Produktionseinbrüche haben, weil der Kauf langlebiger Konsumgüter wie Autos drastisch zurückgeht.

Geldkrise

Eine weitere Gefahr bei einer krisenhaften Entwicklung ist das, was Marx einmal als Geldkrise beschrieben hat („Kapital“, Band 1, Marx/Engels-Werke Band 23, Seite 152): In der Krise vertrauen die Kapitalisten einander plötzlich nicht mehr, gewähren einander keinen Kredit mehr, verlangen Barzahlung. Ein klassischer Fall einer solchen Kreditkrise trat 2008 nach der Lehman-Pleite ein. Kredite wurden plötzlich nicht mehr verlängert, Unternehmen mussten Bargeld auftreiben, dazu Wertpapiere verkaufen, deren Kurs einbrach (weil sie plötzlich massenhaft angeboten wurden). Dass vergleichbare Erschütterungen in der nächsten Zukunft (zum Beispiel bei einer Zuspitzung der Euro-Krise) wieder auftreten, ist zumindest möglich.

Heino argumentiert außerdem: „Um den inflationären Effekt zu begrenzen, muss das Kapital den Druck auf die Löhne in den Zentren der Weltwirtschaft verstärken beziehungsweise die Produktion noch stärker in Billiglohnländer verlagern.“ Aber da das kapitalistische System auf Profitmaximierung beruht, wird das Kapital ohnehin versuchen, Druck auf Löhne auszuüben beziehungsweise Produktion zu verlagern. Wenn den Kapitalisten das nicht gelingt, schränken sie die Produktion ein, damit sinkt die Nachfrage, was den „inflationären Effekt“ ebenfalls begrenzt.

Schließlich bezeichnet Heino die „Austeritätspolitik, mit der vor allem in Europa die Kosten der Bankenrettung auf die Arbeiterklasse abgewälzt werden“ als unvermeidlichen Preis, der „für die keynesianische Anfangsphase kapitalistischer Krisenverzögerung fällig wurde“. Aber worin besteht der Zusammenhang zwischen der keynesianischen Politik 2008/09 und der Austeritätspolitik? In der Zunahme der Geldmenge oder in der Zunahme der Staatsverschuldung? Offensichtlich wird die „Austeritätspolitik“ des Sozialkahlschlags vor allem in den Ländern betrieben, die in den letzten Jahren Probleme mit der Finanzierung ihrer Staatsschulden bekamen (Griechenland, Portugal, Spanien und andere), nicht in denen, in denen das Wachstum der Geldmenge oder die Inflation besonders hoch wäre.

Es ist wahr, dass ein von der EZB mit Krediten finanziertes gigantisches staatliches Konjunkturprogramm inflationäre Folgen hätte, schließlich würde es massiv staatliche Nachfrage schaffen. Es müsste aber so gigantisch sein, dass es den Rückgang privater Kreditaufnahme und Investitionen mehr als ausgleichen würde, das heißt es müsste umfangreicher sein als zum Beispiel die zahlreichen japanischen Konjunkturprogramme der letzten zwanzig Jahre, die weder für dauerhaftes Wirtschaftswachstum noch für eine Überwindung der Deflationsspirale gereicht haben (aber zu einer Staatsverschuldung in der Größenordnung von 200 Prozent der Bruttoinlandsprodukts geführt haben, deutlich höher als in Griechenland).

Müssen wir nicht davon ausgehen, dass ein so gigantisches Konjunkturprogramm lange bevor es zu Inflation führt, zu einer Staatsschuldenkrise führen würde (beziehungsweise die Krise in Südeuropa verallgemeinern würde)? In den siebziger Jahren waren die staatlichen Konjunkturprogramme (neben dem Anstieg der Ölpreise 1973 und der inflationären Wirkung der Finanzierung des Vietnamkriegs durch die USA) ein Faktor beim Anstieg der Inflationsraten, bei der damaligen „Stagflation“. Aber heute müssen wir vor brutalen staatlichen Kürzungsprogrammen à la Griechenland Angst haben, nicht vor möglichen inflationären Wirkungen staatlicher Konjunkturprogramme, zumindest nicht in der Euro-Zone. (In China hat das dortige umfangreiche Konjunkturprogramm sicher zum Anstieg der Preise 2010/11 auf 5,4 Prozent 2011 beigetragen, aber seitdem sind sie auch dort wieder gesunken).

Heinos letzter Satz macht eine Sorge deutlich, die hinter seinem Leserbrief stecken könnte, nämlich die Sorge vor einer zu unkritischen Haltung gegenüber der Politik der EZB. Er schreibt: „Als Sozialisten sollten wir die EZB-Anleihekäufe nicht nur wegen der damit verbunden Austeritätsauflagen ablehnen, sondern auch als weiteren Schritt in Richtung auf den Zusammenbruch der Euro-Zone verstehen.“

Ich bin mit Heino völlig einverstanden, dass wir EZB-Anleihekäufe auch ablehnen sollten, wenn sie nicht mit Austeritätsauflagen verbunden wären. Wenn sich Investoren mit Staatsanleihen verspekuliert haben, sollten SozialistInnen nicht dafür eintreten, dass die EZB sie ihnen abkauft, zu Preisen, die sie auf dem Markt dafür nicht mehr bekommen. Wir treten stattdessen für die Verstaatlichung des gesamten Finanzsektors ein.

Ich bin ebenfalls völlig einverstanden, dass die EZB-Maßnahmen einen „Zusammenbruch der Euro-Zone“ nicht verhindern werden. Ich denke aber nicht, dass sie ihn beschleunigen. Ich denke auch, dass eine Zinserhöhung der EZB, um eingebildete Inflationsgefahren zu bekämpfen, die wirtschaftlichen Probleme zusätzlich verschärft hätte. Stattdessen hat die EZB bekanntlich die Zinsen noch mal gesenkt. Aber selbst wenn die EZB alles „richtig machen“ würde – die Krise des Kapitalismus ist so tief, dass keine Zentralbank sie überwinden kann. Die Aufgabe von Linken und SozialistInnen ist es sicher nicht, den Berater für Zentralbanken oder den Arzt am Krankenbett des Kapitalismus zu spielen, sondern auf seine Überwindung hinzuarbeiten.

Der Leserbrief von Heino Berg ist hier zu finden.