„Gemeinsam kämpfen ist dringend nötig“

gew_interviewInterview mit drei Streikaktivisten aus Berlin

In Berlin streikten am 05. Dezember 2013 erstmals die Beschäftigten des Einzelhandels und die angestellten Lehrkräfte gemeinsam. Im Einzelhandel war es der 29. Streiktag – bei den Lehrkräften der 17. In beiden Auseinandersetzungen kämpften die Beschäftigten ausdauernd über viele Monate.

Am Universitätsklinikum Charité findet währenddessen, ebenfalls seit vielen Monaten, eine Tarifbewegung für eine Mindestpersonalausstattung statt. sozialismus.info-Redakteur Sascha Stanicic sprach mit drei Aktivisten aus diesen Bereichen: Jan Richter ist Betriebsratsvorsitzender* der H&M-Filiale in der Friedrichstraße, Christoph Wälz ist GEW-Mitglied und Personalrat* und Stephan Gummert ist ver.di-Aktiver und Personalrat* an der Charité.

Sascha Stanicic: In Euren Bereichen gibt es keine langjährigen Streiktraditionen. Es wurde aber geschafft Streiks mit guter Beteiligung zu organisieren und Tarifauseinandersetzungen zu führen. Was war entscheidend, um arbeitskampffähig zu werden und gewerkschaftliche Organisation aufzubauen?

 Jan Richter: Wir haben in unserer Filiale 2003 mit zwei Gewerkschaftsmitgliedern angefangen. Es gab massive Verschlechterungen bei den Arbeitsbedingungen. Zum Beispiel sachgrundlose Befristungen über 24 Monate, Minijobs, flexiblere Öffnungszeiten, um nur Einige zu nennen.Ich habe mich gewundert, was Menschen aufgrund ihrer Abhängigkeit vom Arbeitsplatz alles über sich ergehen lassen, habe mich gewundert, dass sich niemand wehrt. Wir haben dann zu dritt die Wahl eines Betriebsrats in die Wege geleitet, dabei stand der Gedanke, die Gewerkschaft im Betrieb zu organisieren, gar nicht im Vordergrund. Die gewerkschaftliche Unterstützung damals war sehr überschaubar.

2007/08 kam dann in der Tarifrunde die Frage der gewerkschaftlichen Organisierung auf. Wir mussten feststellen, dass es bei uns in der Filiale keine Gewerkschaftsmitglieder gab, um in der Tarifauseinandersetzung auf die Straße zu gehen. Heute ist unsere Filiale mit einem Organisationsgrad von 90 Prozent eine der bestorganisierten Hütten im ganzen Fachbereich, jetzt können wir auch Forderungen an die Gewerkschaft richten. Politisiert haben uns aber die Zustände im Arbeitsleben und die Art und Weise, wie die Unternehmerseite mit den Beschäftigten umgegangen ist. Die Aktivitäten während der Tarifrunde 2013 konnten wir nutzen, um endlich eine Betriebsgruppe für H&M Berlin-Brandenburg zu gründen. Es geht voran. Wir bereiten uns jetzt gezielt auf die Orga-Wahlen bei ver.di im Jahr 2014 vor.

 Sascha Stanicic: Was war denn entscheidend, um Ängste zu überwinden, die es doch sicher unter Kolleginnen und Kollegen gegeben hat?

 Jan Richter: Natürlich wurden wir drei Betriebsratsmitglieder unter Druck gesetzt, gerade weil wir konsequent Arbeitnehmerinteressen vertreten haben. Wir haben dem stand gehalten und beständig Verbesserungen erreicht. Dies führte 2011 zu dem Versuch der Firma den Betriebsrat per Amtsenthebung zu beseitigen. Das alles hat auch zu einer Politisierung der Belegschaft beigetragen, was in unserem Bereich gar nicht so einfach ist. Da ging es in den Pausengesprächen mehr um Daily Soaps und Modemagazine.

 Sascha Stanicic: In der Gewerkschaft hört man oft das Argument, man könne einen Betrieb nicht betreuen, weil es zu wenig Mitglieder dort gibt. Genauso wird oft argumentiert, man könne nicht kämpfen, weil man nicht organisiert sei. Diese These ist ja durchaus umstritten und viele kämpferische Kolleginnen und Kollegen sagen, dass man gerade durch die Organisierung von Kämpfen Mitglieder für die Gewerkschaft gewinnen kann. Wie sind da Eure Erfahrungen?

Stephan Gummert: Bei uns war es etwas komplexer. Wir hatten ja tradierte ötv- und ver.di-Strukturen, die aber eigentlich nur noch Personalratstätigkeit gemacht haben und es gab keine aktive Betriebsgruppe. Bei uns ging es dann auch um miese Arbeitsbedingungen, Tarifflucht, die Tatsache, dass wir 14 Prozent schlechter entlohnt wurden, als der öffentliche Flächentarifvertrag es vorgesehen hätte. Das hat dann Kolleginnen und Kollegen zum Nachdenken gebracht. Wir hatten also gewerkschaftliche Reststrukturen, die sich aber völlig in die Personalratsbüros zurückgezogen hatten. Und man kann sagen, dass die Gewerkschaft 2004/05 das Kämpfen aufgegeben hatte und in Berlin stark in das Aushandeln von Verzicht eingebunden war. Da wurde ja die Schrödersche Agendapolitik mitbetrieben. Das waren unsere Schwierigkeiten. Es ging erst mal darum, dass die Belegschaft wieder Vertrauen in die Gewerkschaft als handelnde und kämpferische Organisation gewinnen musste. Ein Faktor war sicher auch, dass wir vorher Teil des Flächentarifs waren und nie selbst für uns kämpfen mussten. Das wurde dann 2006 nötig, als es um einen Haustarifvertrag ging. Da haben wir erstmals gestreikt, wenn auch vieles noch dilettantisch lief. Wir sind dann 2011 zur Hochform aufgelaufen. Wie kam man dahin? Wir haben Vertrauen zurück gewonnen, indem wir die Gewerkschaft im Betrieb als kampfbereit präsentieren konnten. Alleine die Tatsache, dass wir mit Streik gedroht haben, hat unsere Mobilisierungsfähigkeit erhöht. Und wir haben es geschafft, den Pflegebereich zu organisieren, der das ja traditionell in Krankenhäusern weniger ist. Wir konnten dann im Pflegebereich mit Pflegekräften gewerkschaftliche Arbeit machen und dadurch Authentizität gewinnen. Wenn du einen Elektriker auf eine Pflegestation schickst, um dort für die Gewerkschaft zu werben, ist das schwer. Vor allem konnten wir auch eine Kampfperspektive für den Pflegebereich bieten. Durch unsere Streiktaktik, die die Schließung von Betten und ganzen Stationen vorsah, konnten wir Pflegekräfte gewinnen. Wo keine Patienten sind, gefährdet man auch keine.

Es gab auch andere wichtige Erfahrungen, so muss man Provokationen der Arbeitgeber aufgreifen und für sich nutzen. Wo Vorgesetzte durchdrehen und Kolleginnen schikanieren, muss man mit der geballten Macht der Organisation reagieren und das skandalisieren. Ein Oberarzt bekam Besuch von achtzig Pflegekräften, als er eine Schwester rund gemacht hat. Das gibt Selbstbewusstsein. Also: Eskalationen nutzen, um Stärke und Solidarität zu vermitteln. Der Berliner ver.di-Apparat hatte alles an Kampfkraft und Glaubwürdigkeit verloren. Das mussten wir im Betrieb ganz alleine wieder aufbauen.

 Christoph Wälz: In der Berliner GEW haben wir Organisierung durch Kampf hinbekommen. Es gab in der Geschichte der Berliner GEW kein anderes Jahr, in dem Lehrkräfte soviel gestreikt haben wie 2013 mit 17 Streiktagen. Wir haben weit über 1.000 neue Mitglieder gewonnen, was einen richtigen Durchbruch darstellt. Die GEW ist ja traditionell sehr von Beamtinnen und Beamten geprägt und hatte dadurch bisher keine große Streikerfahrung. 2004 hat der Berliner Senat beschlossen, Lehrkräfte nur noch als Angestellte einzustellen, was zu deutlichen Gehaltsverlusten und einer veränderten Zusammensetzung der Kollegien geführt hat. 2012 hatten wir dann erstmals eine kritische Masse jüngerer angestellter Lehrkräfte beisammen, die die Benachteiligung bei der Entlohnung ausgleichen wollen. Dadurch hat dann auch der Druck auf die GEW zugenommen, in Aktion zu treten. Viele jüngere Angestellte haben sich nicht durch die GEW vertreten gefühlt. 2011 gab es einen halbtägigen Streik mit 5.000 Lehrkräften für Altersentlastung. Dieser führte nicht zu einem Erfolg. Viele Jüngere hatten damals das Gefühl, dass sich die GEW nur für ältere Beschäftigte einsetzt. Es gab dann sogar eine gewisse Organisierung außerhalb der GEW, um Druck auf sie auszuüben. Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaft ist sehr wichtig, weil viele ältere Kolleginnen und Kollegen nur Verschlechterungen erlebt haben und die GEW kaum als eine Kraft gesehen wurde, die Verschlechterungen verhindern kann. Das wirkt noch nach, was auch dazu führt, dass einige ältere Beschäftigte nicht aktiv sind, weil sie keine Perspektive auf Erfolg sehen.

 Sascha Stanicic: Ich sehe einige Parallelen in Euren Berichten. Überall gibt es Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen und ein wachsendes Ungerechtigkeitsgefühl, was die Bereitschaft, aktiv zu werden, erhöht und auch Druck in Richtung Gewerkschaften aufbaut. Vertrauen mussten sich die Gewerkschaften erst wieder neu aufbauen. Aber geht es um Vertrauen in die Handlungsfähigkeit oder Handlungsbereitschaft der Gewerkschaft? Wie habt ihr das wahrgenommen bei Eurer gewerkschaftlichen Arbeit im Betrieb? Gab es Skepsis gegenüber der Gewerkschaft, weil sie nicht präsent war oder weil man sie als eine Kraft wahrnahm, die den Verzicht mitorganisiert hatte?

 Stephan Gummert: Es gibt Leute, die differenzieren nicht zwischen Bereitschaft und Fähigkeit. Aber es gibt schon eine Gruppe vor allem auch von ehemaligen Gewerkschaftsaktiven, die das differenzierter sehen und den Vorwurf erheben, dass der Wille zur Durchsetzung fehlt. Das ist sicher eher eine Minderheit, aber ältere Kolleginnen und Kollegen haben uns vorgeworfen, dass weder 15 Jahre fehlende Reallohnerhöhung und noch nicht einmal die Inflationsrate ausgeglichen wurden, als ich eher stolz auf die 2006 erreichte Lohnerhöhung war. Die meisten sehen das aber nicht so differenziert. Neue Kolleginnen und Kollegen kommen sogar eher mit überspitzten Erwartungen an die Durchsetzbarkeit von Forderungen und denken manchmal, ein Streik sei ein Allheilmittel. Es war bei einigen schwer zu vermitteln, dass ein Streik wieder zu Verhandlungen führte und einige sahen das als Verrat.

 Christoph Wälz: Bei uns gab es einige Austritte, als 2003 eine massive Verlängerung der Arbeitszeit durchging. Damals gab es auch Proteste, die aber nur zu Demonstrationen und nicht zu Streiks führten. Einige hatten damals das Gefühl, dass die GEW die nötigen Schritte für eine Fortsetzung des Kampfes nicht unternommen hatte und sind dann ausgetreten. Viele von diesen Kolleginnen und Kollegen sind jetzt wieder dabei, weil sie sehen, dass gekämpft wird.

Wir haben ein Jahr lang immer wieder gestreikt und gefordert, dass Verhandlungen mit uns aufgenommen werden über eine tarifliche Eingruppierung für Lehrkräfte, über den Ausgleich der Gehaltslücke zwischen Beamten und Angestellten und über bessere Arbeitsbedingungen. Jetzt haben wir endlich erreicht, dass der Arbeitgeberverband TdL Gespräche mit der GEW führt. Das ist ein großer Erfolg des andauernden Drucks, den vor allem die GEW Berlin aufgebaut hat. Und für die Gespräche wurde klar gemacht, dass wir im März oder April sofort weiter streiken, wenn wir von TdL und Berliner Senat nur hingehalten werden. Wir haben als Gewerkschaft somit Handlungsfähigkeit bewiesen. Viele ältere Angestellte sehen zum ersten Mal die Möglichkeit, sich gegen die Arbeitgeber durchzusetzen. Und Jüngere kommen jetzt ganz anders in den Beruf rein: Sie sehen, dass es eine Gewerkschaft gibt, die wirklich kämpft.

 Sascha Stanicic: Wie seht Ihr das Verhältnis von der Beteiligung der Streikenden an den Entscheidungsprozessen und der Rolle der Führung und des Apparats?

 Jan Richter: Da sind die Verhältnisse in meinem ver.di-Fachbereich 12 anders als in der GEW. Dort wird jetzt erst begonnen, Beschäftigte an Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Das hat auch etwas mit der Struktur der Branche zu tun. Es waren früher die großen Kaufhäuser, die die Gewerkschaft dominierten und wenn man sich aus kleineren Betrieben und Filialen gemeldet hat, wurde man oft vertröstet, Sekretäre waren nicht erreichbar. Das ging bis 2007/08 so, als Kaufhof und Karstadt noch alles vorgegeben haben. Es war aber auch ein Problem, dass die Gewerkschaft die Entwicklung der Branche, mit der Zunahme der Einkaufszentren, nicht rechtzeitig wahrgenommen hat. Warenhäuser sterben aus und bei Karstadt wurde die Verzichtspolitik von ver.di mitbetrieben. Jetzt sind sie damit überfordert, dass sie auf Filialkonzerne angewiesen sind, wo es schwächer organisierte und kleinere Belegschaften gibt. Diese sind schwerer zu organisieren, weil der Arbeitgeber einfacher den Deckel drauf halten kann, indem er gewerkschaftlich Aktive schnell aus dem Laden entfernt. Da hat ver.di die letzten zehn Jahre ordentlich geschlafen, weil man sich auf die Warenhäuser verlassen hat. Dieses Jahr haben wir aber 25.000 Neueintritte und ver.di hat erstmals mehr Ein- als Austritte. Und das ausgerechnet in einem Fachbereich, dem man dies nie zugetraut hätte und hier nicht aus den Warenhäusern heraus, sondern durch die klassisch prekären Filialhäuser. Das zeigt auch, dass durch Streiks die Gewerkschaft aufgebaut werden kann. Die Strukturen hinken dem aber immer noch hinterher. Zum Beispiel hat der KaDeWe-Vertreter immer noch den Vorsitz in der Tarifkommission, dort wird aber nicht gestreikt. Entsprechend kommt von dort eher Druck für niedrigschwellige Aktionen. Der Fachbereichsvorstand scheint sich auch noch nicht auf die neuen, nötigen Streikformen eingestellt zu haben und wirkt oft überfordert. Es reicht heute halt nicht mehr irgendwo vorm Hintereingang zu stehen. Die frischen, jungen Sekretäre haben erkannt, dass man neu arbeiten muss und bringen oft gute Initiativen ein.

 Stephan Gummert: Es ist interessant, dass Widersprüche in ver.di immer wieder bei der Frage der Streiktaktik aufbrechen. Es ist, als ob die älteren Hauptamtlichen mit den Waffen des Mittelalters einen modernen Krieg führen wollten. 2006, beim ersten Streik an der Charité, wurden dann zum Beispiel rollierende Streiks, also ein Standort nach dem anderen, vorgeschlagen. 2011 haben wir das dann alles alleine gemacht. Es bricht jetzt aber einiges auf in ver.di, weil die Unzufriedenheit größer ist und die Bereitschaft zu kämpfen wächst. Da ist jetzt viel in Bewegung geraten und es gibt Gestaltungsmöglichkeiten. Das führte an der Charité dazu, dass wir 2011 unser eigenes Streikkonzept durchsetzen konnten.

Sascha Stanicic: Ist das nicht auch Ausdruck von veränderten gesellschaftlichen Bedingungen? Die Belegschaften sind doch heute konfrontiert mit schwierigen politischen Rahmenbedingungen, der Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Systems, der neoliberalen Offensive – man muss doch mehr investieren, um erfolgreich zu sein. Der sozialpartnerschaftliche Weg aus den 1970er und teilweise noch 1980er Jahren geht nicht mehr, aber die Spitzen der Gewerkschaften haben das noch nicht nachvollzogen. Es ist also nicht nur ein Problem der eingesetzten Mittel, sondern auch der politischen Einsicht, welche Mittel man einsetzen muss, um erfolgreich zu sein.

 Christoph Wälz: Ja, wir merken überall, dass die Gegenseite knallhart vorgeht. So hat sich der Berliner Senat fast ein Jahr lang geweigert überhaupt mit uns zu verhandeln. Es stellen sich doch zwei Fragen: welche Waffen ist die Führung bereit in die Hand zu nehmen und zum anderen wie gut sind wir an der Basis organisiert, um Kampftaktiken überhaupt anwenden zu können. Wir hatten von Dezember bis Mai eine Streiktaktik, die die Kampfbereitschaft aufgebaut hat, angefangen mit Streiks an Schwerpunktschulen, hin zu einem zweistündigen Streik an allen Schulen, dann haben wir an der bundesweiten Länder-Tarifrunde teilgenommen und zusammen mit Erzieherinnen und Erziehern und anderen Beschäftigten große Streiks und eine Demonstration mit 12.000 Teilnehmern organisiert, wo wir auch unsere gemeinsam Stärke erfahren haben. Dann mussten wir alleine in die Auseinandersetzung mit dem Senat gehen, bis hin zu einer ganzen Streikwoche, die eine neue Eskalationsstufe war. Wir haben es damit geschafft, dass sich an vielen Schulen neue GEW-Gruppen entwickelt haben und Kolleginnen und Kollegen zu Vertrauensleuten wurden. Die Vertrauensleutestrukturen lagen vorher am Boden. Viele langjährige GEW-Aktive waren überrascht davon, wo sich Lehrkräfte überall organisiert haben. Es gelingt der GEW auch ganz gut, Aktive von der Basis einzubinden, zum Beispiel durch breiter angelegte tarifpolitische Konferenzen. Wir haben in einem Jahr große Fortschritte gemacht und die Frage, welche Mittel wir einsetzen, kann deshalb heute ganz anders gestellt werden.

 Jan Richter: Die Gewerkschaften haben an der Idee der Sozialpartnerschaft festgehalten, als die Arbeitgeber sich schon davon verabschiedet hatten, die wollen nur noch ihre Profitinteressen knallhart durchsetzen. Jetzt haben das viele Gewerkschaften realisiert, aber es ist schon vieles kaputt gegangen. Manche Hauptamtliche sind mit den neuen Verhältnissen auch einfach überfordert. Die müssen erst lernen, dass die Marktradikalität sich durchsetzt.

 Christoph Wälz: Dass viel kaputt gegangen ist, sieht man an den prekären Beschäftigungsverhältnissen. Das Absurde ist: deren Ausweitung wird nun als Argument dafür angeführt, dass Gewerkschaften angeblich nicht kämpfen können.

 Stephan Gummert: Das hat aber zwei Seiten. Diese Prekarisierung schafft auch einen neuen Grund für Kämpfe, schafft Verhältnisse, wo Leute aufwachen und sich organisieren. Im Handel gibt es diese Zäsur ja deutlich mit den Eintritten von prekarisierten Belegschaften in die Gewerkschaft.

 Jan Richter: Diesen Kolleginnen und Kollegen musst du nicht mehr mit Sozialpartnerschaft kommen. Sie sind viel kämpferischer.

Stephan Gummert: Solche Kämpfe können dann aber auch sehr schwierig sein und es kann auch Niederlagen geben. Aber wenn wir alleine dazu kommen, dass gestreikt wird, ist das wichtig.

 Sascha Stanicic: Gibt es nicht eine Gefahr der Separierung der Gewerkschaftsbewegung? Zwischen prekarisierten Bereichen, wo es gerade mehr Anstrengungen für Kämpfe gibt, auch weil die Gewerkschaft dort erst die Position des „Tarifpartners“ erkämpfen muss, und den traditionellen Bereichen der Industrie und der großen Versorgungsbetriebe des öffentlichen Dienstes? Da finden kaum ernsthafte Kämpfe statt und dort gibt es wenig Verbindungen zu den Kämpfen in den prekarisierten Bereichen. Das führt mich zu der Frage, was Eure Erfahrungen mit betriebsübergreifender Solidarität sind und was Eure Ansprüche an die Gewerkschaften diesbezüglich sind.

 Jan Richter: Bei uns gibt es das Problem halt zwischen den großen Warenhäusern und den Filialkonzernen. Die Leute vom KaDeWe und Kaufhof wollen nach wie vor nichts mit den Filialisten zu tun haben. Aber allmählich sinkt ihre Hoheit in der Tarifkommission und neue Aktivenkeime wachsen heran. Uns gelingt es aber, neue Aktionsformen durchzusetzen: zum Beispiel große Solidaritätsbesuche beim Streik bei IKEA oder der Trauermarsch mit hunderten Streikenden durch den Kaufhof. Aber die Separierung, selbst im eigenen Fachbereich, gibt es noch. Es ist auch nicht nur die Spaltung zwischen verschiedenen Belegschaften ein Problem, sondern auch die Leiharbeit. An den Kassen im KaDeWe arbeiten nur noch Kräfte aus der internen Leiharbeitsfirma. Ich denke, die Gewerkschaft muss da auch selbstkritisch sein. Es müsste doch möglich sein, dass die Fachbereiche 12 und 3, Handel und Gesundheit, zusammen mit der GEW Aktionen durchführen, wenn gleichzeitig Tarifauseinandersetzungen laufen, aber zum Teil läuft da auch eine Art von Spaltung und Konkurrenz zwischen den Gewerkschaften, wenn unterschiedliche Gewerkschaften im selben Betrieb agieren. Mir ist es am Ende egal, welche Gewerkschaft organisiert, Hauptsache sie kämpft.

 Stephan Gummert: Das Problem ist doch, dass überbetriebliche Solidarität von den ehrenamtlichen AktivistInnen organisiert werden muss. Wegen meiner eigenen hohen Belastung im Betrieb brauche ich diesbezüglich immer wieder die Anstöße meiner Genossinnen und Genosse aus der SAV und der LINKEN, zum Beispiel um zu Streikkundgebungen anderer Betriebe zu gehen. Solche Anstöße kommen in Berlin nicht aus dem Apparat, anders als in Stuttgart, wo Bernd Riexinger und andere es über viele Jahre geschafft haben, Verbindungen zwischen den ver.di-Fachbereichen zu ziehen und die Separierung im Apparat etwas überwunden wurde. Aber wenn man sich gegenseitig unterstützt, macht man positive Erfahrungen und es kommt gut an bei den Kolleginnen und Kollegen. Nur ist es harte Arbeit, das zu verstetigen oder dazu eine Struktur zu schaffen, die ja leider fehlt.

 Sascha Stanicic: Aber da hat sich ja etwas getan, es gibt Solidaritätsbündnisse, wie für die Charité, das Charité Facility Management (CFM) und auch die Einzelhandelsstreiks. Es gab kleinere Schülerstreiks in Solidarität mit den streikenden Lehrkräften. DIE LINKE spielt eine Rolle, Aktive zusammenzubringen. Welche Bedeutung hat das für euch und was würdet ihr euch von der Gewerkschaft wünschen. Es dürfte ja eigentlich kein Problem sein, im ver.di- oder DGB-Haus mal von der ersten zur zweiten Etage zu gehen und eine Vernetzung zu starten.

 Christoph Wälz: Alle Erfahrungen mit gegenseitigen Streik-Besuchen waren sehr ermutigend. Stephans Solibotschaft bei unserer Streikwoche im Sommer ist super angekommen. Für mich war es ein tolles Erlebnis, beim Einzelhandelsstreik zu sprechen. Das haben wir von unten organisiert. Die GEW hatte zunächst keine offiziellen Verbindungen zu anderen Kämpfen, es gab nur einzelne Initiativen, die dann aber auch zu einer gemeinsamen Streikkundgebung der Lehrkräfte und der Einzelhandelsbeschäftigten im Dezember geführt haben. Und das war wirklich ermutigend! Unsere Demo von 2.500 Lehrkräften ist Richtung Senat gezogen, vorbei an einer Demo von ver.di, und die Kolleginnen und Kollegen haben sich uns angeschlossen. Wir haben uns bei der Kundgebung gegenseitig zugehört und voneinander gelernt.

In der GEW gab es zuvor viel Zurückhaltung gegenüber Streikaktionen mit anderen Bereichen, was auch etwas mit Sorgen hinsichtlich der rechtlichen Situation der Streiks zu tun hat. Wenn man Vorschläge für die Verbindung zu anderen Kämpfen macht oder eine Ausweitung der Streiks auf andere tarifliche oder politische Fragen anregt, kommt schnell die Befürchtung, dass man sich dann in eine rechtlich schwierige Situation begibt und der ganze Arbeitskampf dann gefährdet werden könnte. Aber ich halte Solidarisierung mit anderen kämpfen für unabdingbar. Gerade wir Lehrkräfte sind so sehr auf öffentliche Unterstützung, nicht zuletzt durch Eltern und Schüler, angewiesen. Der Senat versucht uns zu isolieren, indem er uns als Besserverdienende, die nur Privilegien wollen, hinstellt. Wir müssen dagegen argumentieren und erklären, dass auch bei uns Elemente von Prekarisierung vorhanden sind. Aber wir müssen auch erklären, dass wir für die Anliegen aller abhängig Beschäftigten kämpfen und dass die Arbeitgeber ja überall Verschlechterungen durchsetzen wollen. Deshalb müssen Gewerkschaften auch branchenübergreifend Gegenwehr organisieren. Uns Lehrerinnen und Lehrern geht es ja nicht um die Verteidigung von Privilegien gegenüber anderen Beschäftigten, sondern um das Durchbrechen der Spirale nach unten, die alle trifft.

 Stephan Gummert: Es fehlt aber die Struktur, die das organisiert. Wir haben uns jetzt in der Landesarbeitsgemeinschaft Betrieb und Gewerkschaft der LINKEN getroffen. Diese ist wichtig, aber weil sie einer Partei angegliedert ist, grenzt sie das Spektrum wieder etwas ein. Die Gewerkschaften selbst hätten die Pflicht, eine solche Struktur zu schaffen. Das wäre mal eine Aufgabe für den DGB. Es braucht eine Struktur sein, die alle einbindet und verbindet und die gemeinsamen Interessen herausstellt. Jede Verkäuferin muss ja mal ins Krankenhaus und jede Krankenschwester geht einkaufen.

 Jan Richter: Das zeigt doch, dass es bei den Gewerkschaftsspitzen um fehlenden Willen geht. Durch die Genossen der LINKEN habe ich Kontakt zu den Kolleginnen und Kollegen an der Charité bekommen. Es tat gut, diese Verbindung zu ziehen. Ich habe sehr viel durch die Bündnisarbeit für die Charité-Beschäftigten gelernt und neue Perspektiven entwickeln können, wo es im Handel mal hingehen könnte. Diese Erfahrung hat bei uns auch dazu geführt, dass wir Streikaktionen selber gestalten wollen. Ich habe bei Euch gesehen, wie eine solche Auseinandersetzung gesellschaftspolitisch geführt werden kann, was dann bei uns zum Aufgreifen des Problems der Sonntagsarbeit führte. Auch Flugblätter für Kunden haben wir entwickelt, weil ich gesehen habe, wie es an der Charité gemacht wurde. Die Solidarität linker Gruppen hat unsere Kolleginnen und Kollegen stark beeindruckt. Es hat manche erst mal verwundert, dass es solches Interesse und Solidarität für unseren Kampf überhaupt gibt. Wenn man dann überlegt, dass man gewerkschaftsintern Debatten über die Sinnhaftigkeit gegenseitiger Streikbesuche führen muss, kann man nur den Kopf schütteln. Das ist so perfide, also haben wir diese Debatten einfach abgebrochen, den Tag abgewartet und dann einfach gesagt, dass wir von unserer Streikaktion zur Charité gehen, es also einfach machen.

 Sascha Stanicic: Jan hat einmal bei einer Veranstaltung gesagt, dass die Gewerkschaften wieder lernen müssen, Politik vom Klassenstandpunkt aus zu betreiben. Solidarität ist ja kein Altruismus, sondern die Basis davon ist ein Verständnis des gemeinsamen Interesses als Lohnabhängige. Muss man diesen politischen Gedanken nicht stärker in die Gewerkschaft hinein tragen?

 Jan Richter: Ja, es muss klar sein, dass wir in Zukunft jeder für sich platt gemacht werden, wenn wir heute nicht zusammenstehen.

 Stephan Gummert: Wir hatten schon oft Diskussion darüber, mal eine berlinweite Aktiven-Konferenz oder gemeinsame Streikleitungssitzungen durchzuführen. Es wäre schon ein Gewinn, wenn es einer Struktur gelänge, die ehrenamtlichen betrieblichen Aktiven zusammen zu bringen.

 Sascha Stanicic: Wäre das nicht auch nötig, wenn man perspektivisch denkt. Gerade befindet Ihr Euch in tariflichen Auseinandersetzungen, die formal getrennt sind. Aber wir sind konfrontiert mit einer gesellschaftlichen Entwicklung, die ganz sicher wieder zu Sparpaketen und anderen Angriffen führen wird, die alle Lohnabhängigen betreffen werden. Frage also: kann man aus aktuellen tariflichen Kämpfen etwas entwickeln, das sich auf die zukünftigen verallgemeinerten Kämpfe vorbereiten kann? Die Gewerkschaften sind ja auch nicht nur ein tarifpolitischer Akteur, sondern auch gesellschaftspolitische Interessenvertretung. Wobei sich die Frage stellt, ob eine solche Initiative aus den offiziellen Gewerkschaftsstrukturen hervorgehen könnte oder, ähnlich dem britischen Vertrauensleute-Netzwerk, von unten angestoßen werden müsste.

 Christoph Wälz: Wir stehen ja als Arbeiterbewegung wieder ziemlich am Anfang. Wir müssen aber in wenigen Jahren die Fähigkeit zu Generalstreiks entwickeln, um kommende Angriffe abzuwehren. Es ist ja klar, dass die Masse der Bevölkerung die Bankenrettungspakete bezahlen muss und dass das alles über die Schuldenbremse und andere Gesetze auf dem Rücken der abhängig Beschäftigten abgeladen wird. Die GEW Bremen hat sich zurecht für das Recht auf politischen Streik, Beamtenstreik und Generalstreik ausgesprochen und diese Position auch beim GEW-Bundeskongress durchgesetzt. Das Entscheidende dabei ist jedoch, in den konkreten Auseinandersetzungen Schritte zur Durchsetzung dieses Rechts zu gehen. Damit kann dann auch die Kampfkraft für die Durchsetzung der Forderungen erhöht werden. So hätte zum Beispiel eine Verbindung unseres Tarifkampfs als angestellte Lehrkräfte mit einem Kampf der verbeamteten Kolleginnen und Kollegen gegen die hohe Arbeitsbelastung eine noch größere Kraft entwickeln können. Das Streikrecht gilt in Deutschland nur sehr eingeschränkt. Mit der Großen Koalition drohen weitere Einschränkungen. Gerade mit Blick auf zukünftige gesellschaftliche Auseinandersetzungen sind wir darauf angewiesen, unser demokratisches Recht zu verteidigen und auszuweiten.

Entscheidend für eine branchenübergreifende Vernetzung ist es, dass es eine Basisbewegung gibt und sich mehr Kollegen organisieren. Darüber muss man dann den Kontakt zu anderen finden. Das ist wichtiger als langjährige Funktionäre zu vernetzen.