Revolution und Frauenbefreiung

trotzki_frauenDie Sozialistische Alternative – SAV gibt Texte von Leo Trotzki zur Situation von Frauen nach der Russischen Revolution neu heraus, die seit vielen Jahrzehnten nicht mehr veröffentlicht worden sind. Wir veröffentlichen auf rosareloaded.de die Einleitung der Broschüre. Die Broschüre selbst kann hier bestellt werden.

Einleitung

Der französische Frühsozialist Charles Fourier sagte zu Beginn des 19. Jahrhunderts einmal, dass sich der Fortschritt einer Gesellschaft nach der Stellung der Frau in ihr bemessen ließe. Welches Zeugnis dies der bürgerlichen Gesellschaft gibt, darüber brauchen wir wohl keine weiteren Worte zu verlieren. In Deutschland 2014, also in einem der reichsten Länder der Welt, verdienen Frauen durchschnittlich 22 Prozent weniger als Männer.

Die Russische Revolution und die sie politisch anführende Partei der Bolschewiki haben dem Kampf um die Befreiung der Frau einen bedeutenden Platz gewidmet. Die Revolution von 1917 hat mit der Beseitigung des Privateigentums an Produktionsmitteln und mit der Überwindung der religiösen Vorurteile Errungenschaften den Weg geebnet, die selbst heute keine Selbstverständlichkeiten sind.

Frauen hatten in den revolutionären Bewegungen, besonders in der sozialistischen Bewegung eine bedeutende Rolle gespielt. Denken wir nur an die Kämpferinnen der Commune oder daran, dass die Textilarbeiterinnen von Petrograd am 8. März 1917 dem Sturz des Zaren den Weg bereiteten, woran der Weltfrauentag erinnert.

Die folgenden Texte stellen eine Sammlung von Schriften und Reden Leo Trotzkis zur Frage der Befreiung der Frau und der Rolle der Familie in der nachrevolutionären Gesellschaft dar. Manche sind Auszüge aus bekannteren Schriften, manche sind eher unbekannt. Sie geben einen Eindruck davon, welche befreienden Veränderungen die Revolution brachte, aber eben auch mit welchen Widersprüchen und Hindernissen damals zu kämpfen war.

Trotzkis Kritik am Stalinismus, der sich seit Mitte der 1920er Jahre entwickelte und in 19030er Jahren zur Zerstörung vieler Errungenschaften führte, schließt diese Broschüre ab. Im Kapitel „Familie, Jugend, Kultur. Der Thermidor in der Familie“ aus dem Werk „Verratene Revolution“ beschreibt Trotzki, welche Rückschritte der Stalinismus für die Situation von Frauen hatte. Denn die Wiederherstellung von Privilegien und Hierarchien gingen mit der Entdemokratisierung von Gesellschaft und Staat einher. Das schlug sich auch in den Familien- und Geschlechterverhältnissen nieder.

Nach der Oktoberrevolution wurden erste Schritte eingeleitet, die sozialer und politischer Gleichheit den Weg bereiteten: Frauen erhielten das Wahlrecht, Ehescheidungen wurden erleichtert. Zugleich begann die Sowjetmacht erste Schritte dahin, die Hausarbeit und Kindererziehung zu vergesellschaften. Später sollte auch die Legalisierung von Abtreibungen und die Entwicklung einer neuen, freieren Sexualmoral das Leben erleichtern.

Die Bolschewiki setzen dabei nicht auf Stellvertreterpolitik. Kommunistische Frauen organisierten sich selbst in den Betrieben und Stadtvierteln, vertraten selbstbewusst ihre Interessen und mussten dabei nicht selten gegen sexistische Verhaltensweisen und Vorurteile ihrer männlichen Kollegen, Genossen und Partner kämpfen.

Frauen erkämpften sich ihren Platz in der Revolution und im neuen Arbeiterstaat. Die Führung um Lenin und Trotzki half ihnen dabei. Jedoch blieb die Bolschewistische Partei von Männern dominiert. Prominente Persönlichkeiten wie die Volkskommissarin Kollontai und Krupskaja waren da leider Ausnahmen. Wenngleich auch inspirierende Ausnahmen.

Die Revolution der ArbeiterInnen und armen BäuerInnen war von Anfang an gezwungen, sich mit allen Mitteln zu verteidigen. Gestützt von der Perspektive, dass die Russische Revolution nur der Auftakt sei zur Weltrevolution, konnte sich die Sowjetmacht behaupten. Gegen einheimische konterrevolutionäre Armeen und Interventionsarmeen aus 14 Staaten war die russische Arbeiterklasse schließlich nach fast drei Jahren siegreich. Auch Frauen kämpften massenhaft in der Roten Armee oder dienten der Revolution als Partisaninnen und politische Kommissarinnen.

Der Preis des Sieges war jedoch fürchterlich: Fabriken und Transportwege waren zerstört, es herrschten Hunger und Seuchen wie Typhus, die fast zehn Millionen Menschen das Leben kosteten. Städte wie Moskau und Petrograd verloren zeitweise mehr als die Hälfte ihrer Bevölkerung. Der normale Austausch zwischen Stadt und Land fand nicht mehr statt, sodass die Lebensmittel oft mit Gewalt von den BäuerInnen eingetrieben werden mussten.

Diese Phase trägt den Namen „Kriegskommunismus“ und war im Grunde kommen ein Wirtschaften in einer belagerten Festung. Der Privathandel wurde ausgeschaltet, das Geld verlor seine Bedeutung durch staatliche Zuteilung der rationierten Güter. Aber der Name „Kriegskommunismus“ war auch eine Art Selbstbetrug. Denn Sozialismus und erst recht Kommunismus (= höher entwickelter Sozialismus) kann niemals auf Mangel basieren. Dennoch unternahm die Sowjetregierung getragen vom Enthusiasmus der ArbeiterInnen enorme Schritte, das Land zu verändern: Millionen AnalphabetInnen lernten Lesen und Schreiben und einfache Menschen übten politische Macht aus,, getreu Lenins Motto dass jede Köchin lernen müsse, einen Staat zu führen. Marxistische Feministinnen wie Alexandra Kollontai hielten Vorträge vor Arbeiterinnen und Bäuerinnen, wo sie mit ihren Zuhörerinnen über freie Liebe, Befreiung von der Reduzierung auf Haushalt und Familie und eine neue Sexualmoral diskutierte.

Doch die Kinderkrippen und Kantinen waren auf Grund von Armut und Mangel unzureichend. Seuchen machten sie sogar zu gefährlichen Plätzen. Die materielle Not, die 1917 die Massen zur Revolution trieb, war immer noch da. Die Menschen tummelten sich in Brotschlangen. Die Revolutionen in anderen Ländern scheiterten. Russland blieb allein. Die Arbeitermacht konnte sich behaupten, litt aber unter einem Aderlass von Millionen Toten und ebenso vielen zu Waisen gewordenen Kindern, die in Banden hungernd durch das Land streiften und stahlen.

Diese ohne eine Rettung durch Revolution in anderen Ländern aussichtslose Lage brachte die Sowjetmacht dazu, wirtschaftspolitisch einen taktischen Rückzug zu machen. Der Privathandel wurde legalisiert, wobei die großen Betriebe staatlich blieben und die ArbeiterInnen über Gewerkschaften und Kommunistische Partei eine gewisse Kontrolle ausüben konnten. Die Bauern konnten wieder über ihre Produkte frei verfügen und diese auf den Markt bringen. Diese „Neue Ökonomische Politik“ (russische Abkürzung NEP) war eine zweischneidige Sache. Sie führte zu einer Erholung der Wirtschaft nach sieben Jahren Weltkrieg und Bürgerkrieg, aber schuf auch neue soziale Ungleichheit. In den Läden gab es wieder was zu kaufen, aber unrentable Betriebe wurden geschlossen. Es gab wieder Arbeitslosigkeit. Frauen waren besonders stark davon betroffen.

Die NEP-Zeit war widersprüchlich. Kulturell war sie eine Zeit des Aufbruchs. Neue, liberale Ehegesetze gaben Frauen eine nie dagewesene Freiheit. Über die Kommunistische Partei, die Kommunistische Jugend, Frauenverbände und Gewerkschaften drangen Kampagnen gegen häusliche Gewalt und für Verhütung in die abgelegensten und rückständigsten Dörfer. Aber mit der wachsenden Bedeutung des Geldes und wachsenden Gegensätzen zwischen Neureichen und der Masse gab es auch wieder Prostitution.

Zugleich entstand eine neue Schicht von privilegierten Bürokraten. Diese reichte von Parteifunktionären und hohen Staatsbeamten bis hin zu Industriedirektoren. Diese erlangten materielle Privilegien und sonderten sich von der Masse ab. Nach dem Bürgerkrieg war die Kommunistische Partei die einzige legale Partei gewesen, da die anderen Parteien die Gegenrevolution unterstützt hatten. So strömten auch Karrieristen in die KP. Die neue Bürokratie wurde zunehmend konservativer. In Stalin, dem neuen Generalsekretär, fand die Bürokratie ihren Interessenvertreter. Stalin passte nach Lenins Tod auch die marxistische Theorie den Bedürfnissen der Bürokratie an: So wurde ab 1924 behauptet, dass Sozialismus alleine in einem Land aufgebaut und verwirklicht werden könne.

Trotzki war in den frühen 1920er Jahren der nach Lenin bedeutendste politische Führer in der jungen Sowjetunion und stand bis 1925 noch an der Spitze der Roten Armee. Er nutze die friedlich

Phase nach Ende des Bürgerkrieges, um sich eingehender mit kulturellen Fragen und Fragen des Alltagslebens zu beschäftigen. Seine hier dokumentierten Reden und Artikel von 1923 und 1925 hielt er noch als Vertreter der Regierung. Sie konnten in den offiziellen staatlichen Zeitungen erscheinen und wurden vom Staatsverlag publiziert. Er schrieb über alltagskulturelle Fragen und soziale Problemen wie denen des Alkoholismus, über Familienverhältnisse, den Einfluss von Religion und Kirche auf den Alltag und Lesegewohnheiten der Arbeiterklasse und ähnliches. Dabei stützten sich seine Beobachtungen auf Umfragen und reichhaltiges Faktenmaterial. Trotzki war sehr interessiert an Psychologie und dem Faktor des Unterbewussten. Er betonte, dass alte Gewohnheiten und Denkweisen weitaus hartnäckiger seien als politische und ökonomische Machtverhältnisse. Die Eigentumsverhältnisse und die Macht im Staat habe man im Jahr 1917 binnen Monaten umwälzen können. Aber der Kampf um ein anderes Zusammenleben bedürfe viel längerer Zeit.

Lenin und Trotzki führten einen erbitterten Kampf gegen die Bürokratisierung und für die Wiederbelebung der Rätedemokratie. Nach Lenins Tod wurde Trotzki, der ab 1923 eine oppositionelle Plattform bildete, nach und nach von allen politischen Ämtern verdrängt. 1927 wurde er aus der Partei ausgeschlossen und nach Kasachstan verband. 1929 aus der UdSSR verbannt.

Doch bis zum endgültigen Sieg der Stalin-Fraktion gelang es Trotzki, eine starke Opposition zu bilden. Diese Linke Opposition bekämpfte die Idee, dass Sozialismus in einem Land alleine möglich sei. Sie forderte eine Rückkehr zur Demokratie in den Räten und der Partei, eine raschere Industrialisierung und Wirtschaftsplanung, trat gegen eine Bevorzugung der wohlhabenderen BäuerInnen auf und forderte ein Ende von Ungleichheit und Privilegien.

Die Linke Opposition hatte kein spezifisches frauenpolitisches Programm. Sie verstand den Kampf um Demokratie und größere soziale Gleichheit als Aufgabe für beide Geschlechter.

Die Bürokratie um Stalin konnte sich durchsetzen, weil nach vielen Jahren Krieg, Bürgerkrieg und Hunger die Menschen in der isolierten Sowjetunion müde waren. Stalins Propagandamaschinerie konnte Trotzki als ultralinken Fanatiker diskreditieren, der überall in der Welt nur Revolutionen anzetteln wolle und die Interessen der Bauernschaft ignoriere.

Gegen Ende der 20er Jahre ging die Bürokratie um Stalin dazu über, die Geschichte der Oktoberrevolution systematisch zu verfälschen. Das Andenken an Trotzki sollte vernichtet werden. Er wurde aus Bildern entfernt, seine Schriften wurden verboten und die seine führende Rolle in der Revolution fortan verschwiegen. Zeitgleich entstand ein Kult um Stalin. Die AnhängerInnen der Opposition verschwanden in die Lager und Gefängnisse.

Nach der Zerschlagung der Linken Opposition ging Stalin gegen die vormals mit ihm verbündeten Rechten vor. Jetzt übernahmen die Stalinisten die Industrialisierungspläne, aber setzte sie mit völlig bürokratischen Mitteln um. Ein Fünfjahresplan wurde geschaffen, der am Ende schon in vier Jahren erfüllt werden sollte. Damit einher ging die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft. Diese Maßnahmen veränderten die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung radikal. Millionen Bäuerinnen und Bauern wurden über Nacht in Genossenschaften gezwungen. Die Städte wuchsen und die Industrialisierung schritt voran. Doch dies auf dem Rücken der ArbeiterInnen und verbunden mit staatlicher Repression. Die im Zuge der Revolution abgeschafften Inlandspässe wurden wieder eingeführt, was die Freizügigkeit im Land einschränkte. Eine neue Arbeitsgesetzgebung brachte drakonische Strafen für Verspätungen. Streiks wurden verboten. In den Betrieben wurden die Arbeitsnormen erhöht. Die Bürokratie initiierte Kampagnen zur Übererfüllung des Plans. ArbeiterInnen, die die Normen übererfüllten, bekamen materielle Privilegien. Für die große Mehrheit bedeutete das Mehrbelastung. Vor allem für Frauen, die nun neben der Kindererziehung und Hausarbeit in Fabriken Stoßarbeit leisten mussten. Die einseitige Förderung der Schwerindustrie führte zu Warenknappheit. Soziale Ungleichheit und Privilegien nahmen zu. Stalin wandte sich gegen die Idee der „Gleichmacherei“.

In den 30er Jahren ließ Stalin offiziell verkünden, dass der Sozialismus in der UdSSR verwirklicht sei. Doch das Lebensniveau für die Mehrheit der ArbeiterInnen und Kolchos-BäuerInnen war niedrig. Eine ganze Familie teilte sich in vielen Städten nur ein kleines Zimmer in einer Gemeinschaftswohnung. Für hohe Funktionäre und ihre Familien gab es Sonderläden mit Luxusgütern. Die Wirtschaft blieb zwar verstaatlicht und der Kapitalismus abgeschafft. Aber das Gefälle zwischen den privilegierten Spitzen und der großen Masse nahm zu. Die offizielle Propaganda pflegte Führerkult und pries das „glückliche Leben der Sowjetmenschen“.

Trotzki musste ab 1929 diese Verhältnisse aus dem Exil analysieren und hielt über die Internationale Linke Opposition und später die Vierte Internationale die Verbindungen zur weltweiten kommunistischen Opposition gegen den Stalinismus zusammen.

Je mehr der Stalinismus die Demokratie in der Gesellschaft beseitigte, desto mehr ging er dazu über, soziale Errungenschaften der Revolution einzuschränken und leitete einen Rollback ein. In der Familienpolitik bedeutete das eine Stärkung der traditionellen Familienform und eine Betonung der Ehe als einziger akzeptierter Form des Zusammenlebens.

Zwar sollte im Stalinismus durch die völlig normale Frauenerwerbstätigkeit, die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln und das Fehlen des reaktionären Einflusses der Kirche die Stellung der Frau bis zum Untergang 1989 bis 1991 besser bleiben als im Kapitalismus – doch ein Zurück zu den Fortschritten der Ära Lenins und Trotzkis sollte es nie mehr geben.

Dennoch wussten Frauen die verbliebenen Errungenschaften gegen imperialistische Angriffe zu verteidigen. Im Zweiten Weltkrieg kämpften bis zu eine Millionen Frauen in der Roten Armee und halfen damit Europa vom Faschismus zu befreien.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das stalinistische System auf weite Teile Osteuropas ausgedehnt. Für Frauen bedeutete das enorme Fortschritte gegenüber dem was davor war, aber die bürokratischen Diktaturen blieben diese weit hinter der sowjetischen Frühzeit zurück.

Auch in der DDR, in der durch flächendeckende Kinderbetreuung und am Ende eine 92prozentige Frauenerwerbsarbeit die Stellung der Frau besser war als in der BRD, hielt im Grunde an einem traditionellen Frauenbild fest. Familie und Ehe waren gesellschaftliche Norm. Abtreibung blieb dort bis 1972 verboten.

Andere Länder, die sich „sozialistisch“ nannten, waren da repressiver. So verbot Rumäniens Diktator Ceaucescu ab 1966 Abtreibungen und sogar Verhütungsmittel bei schweren Strafen, um der Nation genügend Kinder für den „Aufbau des Sozialismus“ bereit zu stellen. Das zeigt, wie frauenfeindlich und reaktionär der Stalinismus im schlimmsten Fall sein kann.

Trotzdem war die Wiedereinführung des Kapitalismus 1989-1991 in Osteuropa eine soziale Katastrophe für Frauen, die nunmehr von Massenarbeitslosigkeit und fehlenden Zukunftsperspektiven betroffen sind.

Der Stalinismus ist inzwischen Geschichte und eine neue Generation ist mit der tiefsten Krise des Kapitalismus seit 1929 konfrontiert. Immer mehr Menschen suchen nach Alternativen. Die authentischen Ideen des Marxismus, vertreten und verteidigt durch Leo Trotzki, sind bei dieser Neuorientierung – die notwendig eine Analyse der Pervertierung des Sozialismus/Kommunismus durch den Stalinismus einschließt – besonders wertvoll.

Die Revolution von 1917 hat Großes für die Befreiung der Frau geleistet und Dinge vorweggenommen, die heute noch nicht erreicht sind. Und das unter Bedingungen der Rückständigkeit, der Not, des Hungers und des verallgemeinerten Mangels! Trotzkis Schriften und Reden geben einen guten Eindruck davon.

Die Broschüre kann hier bestellt werden.