Angriff abgewehrt, aber kein Grund sich auszuruhen

eh_streikZum Tarifabschluss im Einzelhandel

 Mit den Tarifabschlüssen im Einzelhandel in Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen und anderen Bundesländern geht eine der längsten Tarifauseinandersetzungen der jüngeren Geschichte dem Ende zu – wobei in Berlin die Auseinandersetzung weiter geht. Monatelang beteiligten sich Zehntausende Beschäftigte von Supermärkten und Einzelhandelsketten an Streiks, um Lohnerhöhungen durchzusetzen und den Angriff der Arbeitgeber auf den Manteltarifvertrag abzuwehren.

 Von Sascha Stanicic

 Jahrelang hatten ver.di und die Arbeitgeber im Einzelhandel über eine Reform der Tarifstrukturen verhandelt. Ähnlich wie bei den Tarifreformen im öffentlichen Dienst (TVÖD und TV-L) und in der Metall- und Elektrobranche (ERA) sollte auch hier eine „modernisierte“ Tarifstruktur als Vorwand für Verschlechterungen für die Beschäftigten dienen. Diese Erkenntnis war auch innerhalb von ver.di gewachsen und auf Druck kritischer Kräfte in der Gewerkschaft, nicht zuletzt auch aus dem Landesverband Baden-Württemberg war ver.di im letzten Jahr aus den Verhandlungen ausgestiegen. Das war nicht nur ein Schuss vor den Bug der Arbeitgeber, sondern auch eine Niederlage für die so genannten „Modernisierer“ innerhalb der Gewerkschaft, die zu weitgehenden Kompromissen bereit waren.

Die Reaktion der Arbeitgeber darauf war im Frühjahr diesen Jahres die Kündigung der Manteltarifverträge. Auf diesem Weg wollten sie weitgehende Verschlechterungen der Tarifstandards durchsetzen. Dieser Schritt war nicht nur eine offene Provokation, sondern auch der Versuch in einer von prekarisierten Arbeitsverhältnissen durchzogenen Branche die Macht der Gewerkschaften zurückzudrängen. Wären die Arbeitgeber damit durchgekommen, wäre das ein Signal auch für die Bosse anderer Branchen gewesen, deutlicher in die Offensive gegen die Rechte der Beschäftigten zu gehen. Gleichzeitig ist aber auch davon auszugehen, dass die Arbeitgeber nicht zum Ziel hatten, einen tariflosen Zustand auf Dauer durchzusetzen, sondern die Kündigung des Manteltarifvertrags die Keule war, mit der sie schlechtere Bedingungen in einem neuen Mantel durchsetzen wollten. Dieser Versuch wurde durch das erzielte Ergebnis gebremst, aber nicht völlig zurückgeschlagen.

 Erfolgreiche Gegenwehr

 Wesentlich ist aber: den Bossen wurde Einhalt geboten und es wurde unter Beweis gestellt, dass Arbeitskämpfe im Einzelhandel möglich sind und eine Wirkung entfalten können. Bundesweit waren über 130.000 Beschäftigte in den letzten Monaten in den Streik getreten. In Baden-Württemberg hatte es über 80 Streiktage gegeben, einzelne Betriebe kamen auf über 50 Streiktage. Damit haben Kolleginnen und Kollegen eine enorme Kampf- und Opferbereitschaft bewiesen, um für ihre Interessen zu kämpfen – von den Einkommensverlusten durch die Streikbeteiligung ganz zu Schweigen. 25.000 Beschäftigte sind in ver.di neu eingetreten. Das zeigt, worauf linke GewerkschafterInnen seit langem hinweisen: eine Gewerkschaft wird im Kampf aufgebaut. Besonders ermutigend ist, dass verstärkt auch Beschäftigte in prekären Arbeitsverhältnissen und von Unternehmen wie H&M oder Zara in den Streik getreten sind.

 Berlin

 In Berlin geht die Tarifauseinandersetzung weiter. Hier sprach sich die Tarifkommission in einer knappen Abstimmung gegen die Annahme eines Angebots der Arbeitgeber aus, das laut Tarifinfo von ver.di für die Ost-Beschäftigten weiterhin eine Schlechterstellung im Vergleich zu den West-Berliner KollegInnen bedeutet hätte. Die Steigerungen bei Weihnachts- und Urlaubsgeld sollten nach Arbeitgeberwünschen durch weitere Arbeitszeitflexibilisierung und einen noch niedrigeren Lohn für die WarenverräumerInnen gegenfinanziert werden. ver.di reagierte darauf mit einer Steigerung der Streikaktionen direkt vor Weihnachten.

 Den Abschluss genau betrachten

 Der gekündigte Manteltarifvertrag wurde ohne weitreichende Änderungen wieder in Kraft gesetzt. Das ist ein wichtiger Erfolg. Die Arbeitgeber wollten vor allem durchsetzen, dass eine neue Niedriglohngruppe eingeführt wird. Diese sollte für KollegInnen gelten, die mit Mischtätigkeiten, deren Bestandteil u.a. Warenverräumung und Auffüllen sind, beschäftigt sind (was einen großen Teil der Beschäftigten betroffen hätte). Hier sollte ein Stundenlohn von 8,50 Euro eingeführt werden. Außerdem wollten sie die Nachtarbeitszuschläge komplett streichen.

Hintergrund ist, dass die Warenverräumung in vielen Betrieben vor allem von Leiharbeitskräften bzw. über Werkverträge geleistet wird. Hier liegt der Stundenlohn (laut eines Artikels von Helmut Born) bei 6,63 Euro. Zu diesen Bedingungen konnten aber, vor allem für die großen Häuser, nicht ausreichend Arbeitskräfte gefunden werden bzw. wurden die Tätigkeiten nicht zur Zufriedenheit der Arbeitgeber ausgeführt. Deshalb hatten Teile der Arbeitgeber ein gewisses Interesse an einem Insourcing, wollten das aber natürlich zu schlechteren Bedingungen durchsetzen.

Der neue Tarifvertrag sieht nun die Einführung einer neuen Niedriglohngruppe für Beschäftigte vor, die ausschließlich in der Warenverräumung tätig sind. Der Stundenlohn soll hier 9,54 Euro (ab 1.4.2014 9,74 Euro) betragen. Die Nachtarbeitszuschläge werden für diesen Bereich auf zwanzig Prozent reduziert. Für aktuell nach Tarifvertrag Beschäftigte gilt Bestandsschutz, sie werden also nicht von einer Lohnkürzung betroffen sein. Neu eingestellte Arbeitskräfte in diesem Bereich werden aber entsprechend niedrig eingruppiert.Werden auf dieser Basis also bisherige Leih- oder Werksvertragskräfte eingestellt, bedeutet das für diese eine deutliche Verbesserung. Offen ist aber die Frage, wie die Umsetzung in der Praxis aussehen wird. Zum einen gibt es wahrscheinlich nur in den großen Einkaufshäusern MitarbeiterInnen, die tatsächlich ausschließlich für Warenverräum- und Auffülltätigkeiten eingesetzt werden. Zum anderen aber können die Arbeitgeber einseitig entscheiden, ob sie die Möglichkeit der neuen Niedriglohngruppe einsetzen oder nicht. Tun sie das, so müssen sie „grundsätzlich auf den Einsatz von Werkverträgen/Dienstverträgen für die Warenverräum- und Auffülltätigkeiten im Verkauf verzichten (Ausnahme: Fälle Höherer Gewalt)“. Wie viele Unternehmen dies umsetzen werden und wie weit die Leiharbeit/Werksverträge real zurückgedrängt werden, ist offen und liegt ganz in der Entscheidung der Arbeitgeber. Dass Mitarbeiter, die per Änderungskündigung auf Warenverräum-/Auffülltätigkeiten umgesetzt werden sollen, von Lohnkürzungen betroffen sein werden, ist eine weitere Gefahr. Vor allem aber bedeutet die Einführung einer neuen Niedriglohngruppe, dass zukünftig Druck auf die Löhne nach unten ausgeübt wird. Der Gedanke, durch solche Niedriglohngruppen Arbeitsplätze zu retten oder Leiharbeit zurückzudrängen, bekommt Auftrieb. Der neue IG Metall-Vorsitzende Wetzel, der von sich aus die Einführung solcher Niedriglohnbereiche für die Metall-Industrie vorgeschlagen hat, wird sich durch den Abschluss im Einzelhandel bestätigt fühlen. Tarifpolitisch stellt dieser Kompromiss einen Erfolg für die Arbeitgeberseite dar, wenn sie sich diesen auch etwas kosten lassen.

 Neue Prozessvereinbarung

 Während ver.di nur positive Worte für den Tarifabschluss findet, gibt sich auch der Verhandlungsführer der baden-württembergischen Handelsverbands, Philip Merten, zufrieden: „Der Abschluss ist ein wichtiger erster Schritt für die erforderliche Reform des Flächentarifvertrags im Einzelhandel, weil er deutlich mehr enthält als eine Entgeltanpassung.“ Merten bezieht sich darauf, dass der Vertrag eine neue Prozessvereinbarung vorsieht, also eine Wiederaufnahme der Verhandlungen über eine grundlegende Reform des Tarifwerks. Bis zum 31. März 2015 sollen diese Verhandlungen dauern und für sie wurde eine Friedenspflicht festgelegt! Damit wird der Ausstieg ver.dis aus der Prozessvereinbarung von vor einem Jahr rückgängig gemacht. Allerdings wurde ein komplettes „Zurück auf Los“ vereinbart, das heißt die Eckpunkte, auf die sich Gewerkschaft und Arbeitgeberverband vor dem Scheitern der Verhandlungen geeinigt hatten, sind nicht Ausgangspunkt der neuen Verhandlungen. Das wird unter ver.di-Linken als Erfolg gewertet. Wieviel dies wert sein wird, ist jedoch offen. Denn auch wenn die Tarifbewegung den kritischen Landesverband Baden-Württemberg gestärkt hat und viele BasisaktivistInnen Selbstvertrauen gewonnen haben, sind innerhalb des ver.di-Apparats weiterhin auch solche Kräfte am Werk, die unter dem Begriff der „Modernisierung“ einen Kompromiss mit den Arbeitgebern eingehen wollen und sich in Zukunft darauf berufen werden, dass die Wiedereinsetzung des Manteltarifvertrags nur auf der Basis von Kompromissbereitschaft bzgl. einer Tarifreform möglich war. Es gilt also wachsam zu bleiben und innerhalb von ver.di unmittelbar die Kräfte zu bündeln, um eine Tarifreform im Interesse der Arbeitgeber zu verhindern. Angesichts aller Erfahrungen mit solchen groß angelegten Tarifreformen (TVÖD, ERA) und der relativen Offensive, in der sich die Arbeitgeber wähnen, ist es illusorisch zu glauben, dass aus solchen Verhandlungen – zumal noch ohne die Möglichkeit mit Streiks Druck auszuüben – etwas im Sinne der Beschäftigten herauskommen kann. Da wäre es unter den gegebenen Voraussetzungen besser gewesen, am existierenden Manteltarif festzuhalten und in den regulären Tarifrunden zu versuchen, konkrete Verbesserungen zu erstreiken. Konkret sollte die Haltung sein, für die Verhandlungen offensiv Forderungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen für alle Beschäftigten aufzustellen und deutlich zu machen, dass es einen Abschluss mit der Gewerkschaft nur geben könnte, wenn ein neues Tarifwerk Verbesserungen und keine Verschlechterungen beinhaltet.

 Arbeitszeiten

 Forderungen der Arbeitgeber nach weitgehender Flexibilisierung der Arbeitszeiten wurden abgewehrt. Der Tarifvertrag sieht jedoch eine „Protokollnotiz“ zur Arbeitszeitgestaltung vor, die auf Möglichkeiten der weiteren Arbeitszeitflexibilisierung hinweist. Diese muss unter Zustimmung von Betriebsräten oder den Tarifparteien erfolgen. Zu befürchten ist aber, dass die Arbeitgeber diesen Passus nutzen werden, um den Druck auf weitere Flexibilisierungen der Arbeitszeit zu erhöhen.

 Lohnerhöhungen

 Der Kampf für die Wiedereinsetzung des Manteltarifvertrags wurde zeitgleich mit den regulären Tarifverhandlungen zu Lohnhöhe geführt. ver.di Baden-Württemberg hatte eine Festgeldforderung von einer Lohnerhöhung um einen Euro pro Stunde aufgestellt (und außerdem ein Mindesteinkommen von 1.800 Euro brutto gefordert). Linke GewerkschafterInnen fordern seit langem die Aufstellung von Festgeldforderungen statt prozentualer Lohnerhöhungen, weil so die Lohnunterschiede sukzessive abgebaut werden können und die niedrigeren Einkommensschichten überdurchschnittlich profitieren. Zudem war die Forderung zur Lohnerhöhung vergleichsweise hoch und offensiv, was in Baden-Württemberg eine mobilisierende Wirkung für die Streikbewegung hatte.

Dass es nun wieder nur zu prozentualen Erhöhungen gekommen ist und nicht einmal ein Sockelbetrag vereinbart wurde, ist enttäuschend. Bei einem Stundenlohn von zwölf Euro hätte der eine Euro mehr pro Stunde 8,3 Prozent ausgemacht. Die 5,1 Prozent über eine Laufzeit von zwei Jahren (das auch noch bei drei „Null-Monaten“) sind dementsprechend weit entfernt von der ursprünglichen Forderung. Faktisch sprechen wir von 2,25 Prozent (aufgrund der drei Nullmonate) in 2013 und 2,1 Prozent in 2014. Dass sie dennoch über dem liegen, was in der Vergangenheit im Einzelhandel an Lohnerhöhungen herausgeholt wurde und sich dem Ergebnis des Großhandels orientiert, sagt mehr darüber aus, wie bescheiden die Lohnerhöhungen der Vergangenheit waren, als über die Qualität dieses Kompromisses. Nach Jahren des Reallohnverlusts liegen die 5,1 Prozent möglicherweise etwas über der Preissteigerungsrate, aber sie markieren keine Trendwende und liegen weit unter dem, was nötig und angemessen wäre.

 Wäre mehr drin gewesen?

 In der Einzelhandelsauseinandersetzung waren die Voraussetzungen zweifelsohne schwierig, weil die Arbeitgeber in die Offensive gegangen waren und der Branche schwerer ein ökonomischer Schaden zuzufügen ist. Das liegt vor allem daran, dass zur Zeit kaum Betriebe komplett dicht gemacht werden können, weil die Arbeitgeber auf unbefristet Beschäftigte, Aushilfskräfte und andere Streikbrecher zurückgreifen können bzw. MitarbeiterInnen nicht streikender Filialen einsetzen. Man kann aber der Frage nach gehen, ob die ver.di-Führung alles getan hat, was möglich und nötig gewesen wäre, um das Maximum herauszuholen. Diese Frage lässt sich verneinen. Es hätte einiges Potenzial gegeben, um den Druck auf die Arbeitgeber zu erhöhen. Und wenn das gelungen wäre, ist auch nicht ausgeschlossen, aus defensiven Kämpfen heraus in die Offensive zu kommen.

Gerade der Landesverband Baden-Württemberg hat gezeigt, dass eine effektivere Mobilisierung möglich ist, wenn KollegInnen über Streikversammlungen in die Tarifbewegung einbezogen werden und eine eskalierende Strategie inklusive einer landesweiten Demonstration eingeschlagen wird.

Bundesweit hat es viel zu wenig koordinierte Aktionen gegeben, durch die der Druck hätte gebündelt werden können. In einzelnen Betrieben und Regionen wurde ohnehin nicht so viel Kampfkraft in die Waagschale geworfen, wie in Baden-Württemberg oder Berlin. Vorschläge, wie die Durchführung einer bundesweiten oder regionaler Demonstrationen, wie sie der LINKE-Vorsitzende und ehemalige ver.di-Sekretär Bernd Riexinger aufgeworfen hatte, wurden – außer in Baden-Württemberg – ebenso wenig aufgegriffen, wie die Verbindung zu anderen gewerkschaftlichen und gesellschaftlichen Bewegungen gezogen wurde. In Berlin dauerte es Monate, bis endlich am 6. Dezember die streikenden LehrerInnen und die Einzelhandelsbeschäftigten gemeinsam auf die Straße gingen. Das wiederum ging darauf zurück, dass in ver.di und GEW BasisaktivistInnen wiederholt diesen Vorschlag eingebracht haben. Auch die Durchführung einer bundesweiten Streikkonferenz, wie sie vom „Netzwerk für eine demokratische und kämpferische ver.di“ und auch von Riexinger vorgeschlagen wurde, blieb eine gute Idee. Eine solche Konferenz hätte nicht nur zu einem Erfahrungsaustausch führen können, sondern auch das Selbstbewusstsein der StreikaktivistInnen erhöht. Der durch DIE LINKE organisierte Ratschlag von StreikaktivistInnen hat eine Vorstellung davon gegeben, was möglich gewesen wäre, wenn solche Initiativen von der Gewerkschaft selbst ergriffen worden wären. Dass solche Vorschläge nicht von unten durchgesetzt werden konnten, zeigt den Mangel – und gleichzeitig den Bedarf – an einer handlungsfähigen Koordination kämpferischer AktivistInnen.

 Vor allem aber muss endlich Schluss damit sein, Tarifverhandlungen getrennt voneinander und separat von gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen zu führen. Die Gewerkschaften müssen endlich Tarifkämpfe als gesellschaftliche Kämpfe für die Umverteilung von oben nach unten angehen und in einem ganz anderen Maße die Unterstützung anderer Gewerkschaften, politischer Kräfte und der sozialen Bewegungen einfordern und organisieren. Das ist möglich, wenn deutlich gemacht wird, dass in solchen Kämpfen Belegschaften nicht für ihre eigenen, „egoistischen“, Interessen kämpfen, sondern ein Erfolg in einer Branche gut für alle Lohnabhängigen ist. Positiv war es, dass DIE LINKE in vielen Städten stärker als in der Vergangenheit eine aktive Rolle in der Streiksolidarität spielte. Gerade Berlin ist hier ein gutes Beispiel, wo vor allem durch die Landesarbeitsgemeinschaft Betrieb&Gewerkschaft der LINKEN und durch den Studierendenverband SDS eine kontinuierliche Unterstützungskampagne für die streikenden KollegInnen organisiert wurde. Negativ ist, dass es kaum aktive Solidaritätsanstrengungen anderer ver.di-Fachbereiche und der anderen DGB-Gewerkschaften gab.

Dass die Arbeitgeber kurz vor Beginn des Weihnachtsgeschäfts bereit waren, von einigen ihrer Forderungen abzurücken, zeigte, dass sie Sorge vor dem möglichen wirtschaftlichen Schaden in der Vorweihnachtszeit und auch vor dem durch einen Streik ausgelösten Prestigeverlust hatten. Ob das nun der beste Zeitpunkt war, um einen Kompromiss einzugehen, ist schwer zu beurteilen, wenn man nicht alle Informationen aus den Verhandlungen kennt. Es muss aber die Frage gestellt werden, ob eine Steigerung von Kampfmaßnahmen mitten im Weihnachtsgeschäft den Druck nicht hätte massiv erhöhen können und die Arbeitgeber zu mehr Zugeständnissen hätte bringen können – zum Beispiel wenn ein zeitgleicher, mehrtägiger Vollstreik aller streikfähigen Betriebe bundesweit ausgerufen worden wäre.

Fazit

 Es ist richtig, den Abwehrerfolg als solchen herauszustellen und vor allem darauf hinzuweisen, dass die Beschäftigten im Einzelhandel bewiesen haben, dass es möglich ist auch in einer solchen – wenig kampferfahrenen – Branche, eine Streikbewegung über viele Monate auf die Beine zu stellen und dadurch die Gewerkschaft zu stärken. Doch die Augen sollten vor dem materiellen Inhalt des Tarifvertrags und sich aus ihm ergebenden gefahren für die Zukunft nicht verschlossen werden. Die Arbeitgeber werden die Prozessvereinbarung nutzen, um wieder in die Offensive zu kommen. Die ver.di-Führung ist alles andere als darauf eingestellt, eine solche Offensive mit allen nötigen Mitteln zurückzuschlagen. Im Gegenteil: die für den Verhandlungszeitraum vorgesehene Friedenspflicht erschwert es, sowohl den innergewerkschaftlichen Druck, als auch den Druck auf die Arbeitgeber zu erhöhen. Linke und kritische Kräfte innerhalb von ver.di und insbesondere des Fachbereichs sollten zusammen kommen und beraten, wie sie verhindern, dass die Prozessvereinbarung zu einem Ausverkauf von Arbeitnehmerinteressen führt und gleichzeitig sicher stellen, dass der Schwung der Streikbewegung zum Aufbau aktiver Betriebsgruppen und einer gewerkschaftlichen Gegenmacht genutzt wird, die in den kommenden Kämpfen wirkliche Verbesserungen erkämpfen können.