Pyrrhus-Sieg für Merkel?

Foto: http://www.flickr.com/photos/dskley/ CC BY-ND 2.0
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Nach den Wahlen: Euro-Krise, Koalitionspoker und DIE LINKE

Es ist ziemlich genau ein Jahr her, dass Wolfgang Schäuble (CDU) einige recht denkwürdige Worte äußerte. Vor einem Millionenpublikum stotterte der Bundesfinanzminister im vergangenen Oktober in die Fernsehkameras: „I think … there will no … it will not happen, that there will be a Staatsbankrott in Greece.“ Damit waren plötzlich alle Kriterien und Fristen für die griechischen Kreditzahlungen Makulatur. Auf den Kapitalmärkten und innerhalb der Europäischen Union (EU) trat im letzten Herbst die Sorge in den Vordergrund: Ein „Grexit“ würde sich nicht eindämmen lassen. Ein solches „Leck“ würde womöglich eine finanzpolitische Kernschmelze zur Folge haben, die weitere angeschlagene Euro-Staaten ebenfalls erfassen und die gesamte Gemeinschaftswährung kollabieren lassen könnte.

von Aron Amm, Berlin

Die vor einem Jahr kursierende Panik ob eines möglichen Euro-Kollapses scheint heute wie weggeblasen. Allerdings sind die seinerzeit schwelenden Probleme der Weltwirtschaft im Allgemeinen und der Euro-Zone im Besonderen alles andere als gelöst.

Die Bundestagswahl spielte keine unwesentliche Rolle dabei, dass es in den letzten Monaten um die Gemeinschaftswährung ruhiger geworden war. Angela Merkel hatte, recht erfolgreich, darauf hingewirkt, Schlagzeilen über mögliche neue Hilfsanträge aus dem Wahlkampf rauszuhalten. Geholfen hatte der CDU-Kanzlerin indes auch die Abschwächung der „Schwellenländer“ sowie der Haushaltsstreit in den USA – beides ließ den Euro vorübergehend (auf 1,35 US-Dollar) erstarken. Allerdings werden die global anhaltenden ökonomischen Schwierigkeiten der Wirtschaft in Deutschland und Europa mittelfristig nicht zum Vorteil gereichen. Im Gegenteil.

Folglich sind auch hierzulande – konträr zur vordergründigen Ruhe im Bundestagswahlwahlkampf – möglicherweise schon bald enorme wirtschaftliche, soziale und politische Turbulenzen zu denkbar. Die Zeiträume für diese krisenhaften Entwicklungen sind offen. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass bereits die Europa-Wahl am 25. Mai 2014 anders als in den vorherigen Jahren dieses Mal zu einem brisanten Urnengang werden könnte. Zwei Drittel der Bevölkerung signalisierten in einer Umfrage der „R + V Versicherung“ Anfang September, Angst davor zu haben, als Steuerzahler am Ende sämtliche Kosten der Schuldenkrise im Euro-Raum schultern zu müssen. Die 4,7 Prozent für die „Alternative für Deutschland“ (AfD) bei der Bundestagswahl bedeuten ein erstes Wetterleuchten – gleichzeitig aber auch eine Warnung für die politische Linke und die Arbeiterbewegung. Vor allem die Linkspartei wird gefordert sein, eine echte „Alternative für Beschäftigte und Erwerbslose“ zur EUROpa-Politik der Herrschenden aufzuzeigen.

Friede, Freude, Pflaumenkuchen?

Es mutet schon paradox an, dass die meistgehasste Person Europas in Deutschland auf den Popularitätsskala seit Monaten (einmal abgesehen von Bundespräsident Joachim Gauck) unangefochten den Spitzenplatz einnimmt. In Lissabon war der Unmut über die „mächtigste Frau auf dem Planeten“ („Forbes“) im November 2012 so groß gewesen, dass der portugiesische Regierungschef Passos Coelho Merkel nicht einmal in seinem Amtssitz empfangen konnte, sondern die Kanzlerin außerhalb der Hauptstadt, in einer Festung (dem Verteidigungsministerium) begrüßen musste. In Athen und Madrid war es Merkel im vergangenen Herbst nicht viel besser ergangen.

Die 41,5 Prozent der Union am 22. September werden hingegen allerorten als „Vertrauensvorschuss für die Kanzlerin“ (DIE WELT vom 13. Oktober) gesehen. Während in der EU ein Regierungschef nach dem anderen abgewählt wird, konnte sich Angela Merkel klar behaupten (gleichwohl ihr der bisherige Koalitionspartner flöten ging und damit auch in Deutschland die bisherige Regierung abgestraft wurde).

Stärker als zuvor war der Wahlkampf der CDU auf Merkels Person und auf Persönliches zugeschnitten. So erfuhr man beispielsweise, dass die Kanzlerin daheim ihrem Gatten zuliebe gern Pflaumenkuchen backt, tiefe Männerstimmen mag und in der Freizeit legere Kleidung schätzt. Aber „Brigitte“-Interviews haben sicher nicht den Ausschlag gegeben. Wichtiger wird gewesen sein, dass viele mit Blick auf den Kahlschlag in den Nachbarländern und in Erinnerung des rasanten Kriseneinbruchs 2008/09 den Eindruck hatten: „Offenbar sind wir nochmal mit einem blauen Auge davon gekommen.“ Merkel hatte in der letzten Legislaturperiode nicht nur auf Sparpakete verzichtet, sondern das betrieben, was unter einigen bürgerlichen Politikforschern inzwischen als „mitfühlender Konservativismus“ bezeichnet wird: Zugeständnisse (wenn auch größtenteils bloß verbaler Natur) bei Mindestlohn und Mietendeckelung oder zuvor schon der Rückzieher bei der Atompolitik.

Merkel verdankte ihren Wahlerfolg also nicht einem hier offensiv vorgetragenen neoliberalen Kurs (die nationalkonservativen Kräfte in ihrer Partei stehen längst im Abseits). Der Zuwachs für die Union drückte keinesfalls die von vielen Medien behauptete allgemeine soziale Befriedung aus. Das „rheingold institut“ kommt in ihrer jüngsten Umfrage bezeichnenderweise zum Schluss, dass „die Zukunft für die Wähler derzeit nicht mit verheißungsvollen Vorstellungen verbunden“ sei, sondern „hauptsächlich als finstere Drohkulisse und Krisenszenario“ erscheine. „Das Schreckgespenst der Krise lauert immer noch vor den Grenzen Deutschlands.“

Während Merkel also WählerInnen binden konnte, in dem sie „Kreide fraß“, verharrte die Zahl der NichtwählerInnen weiter fast auf dem Rekordniveau von 2009: Knapp dreißig Prozent gingen auch 2013 gar nicht zur Wahl. Dazu kommen, in diesem Ausmaß ein Novum, etwa 15 Prozent Wählerstimmen, die an Parteien abgegeben wurden, die nicht im neuen Parlament vertreten sind. Ergo finden sich über vierzig Prozent aller Wahlberechtigten in der Situation wieder, nicht im Bundestag vertreten zu sein.

Damit einher gehen bedeutsame Verschiebungen im parteipolitischen Koordinatensystem. Im Nachhinein betrachtet könnte die oberflächlich gesehen so windstille Bundestagswahl 2013 sogar eine Zäsur darstellen und sehr viel stürmischere Zeiten antizipiert haben. Zum einen zeichnet sich – angesichts der gelockerten parteipolitischen Bindungen – deutlich mehr Bewegung ab: Die „Alternative für Deutschland“ verpasste aus dem Stand heraus nur um Haaresbreite den Einzug in den Bundestag. Dabei ist es noch gar nicht lange her, dass erst die „Piraten“ für Furore gesorgt hatten (die 2011 mit circa neun Prozent ins Berliner Abgeordnetenhaus kamen und von vielen bereits im nächsten Bundestag gesehen wurden). Zwischenzeitlich träumten auch die Grünen von ganz anderen Werten und glaubten sich nach „Fukushima“ in Reichweite der Zwanzig-Prozent-Marke. Die parteipolitischen Bindungen haben sich weiter gelockert. Auf das Drei- (Union, SPD, FDP), Vier- (plus Grüne) und Fünf-Parteien-System (plus PDS/LINKE) könnte ein volatiles Mehrparteiensystem werden.

Gleichzeitig deutet sich ein Neuformierungsprozess im bürgerlichen Lager an. Nachdem Philipp Rösler als Bundeswirtschaftsminister den „Schlecker-Frauen“ hinterher gerufen hatte, sie würden schon eine „Anschlussverwertung“ finden, sind nicht wenige neugierig, wie es denn nun mit der „Anschlussverwertung“ der FDP-Abgeordneten aussehen mag. Dass diese Partei, die der Unternehmerseite auch als „pressure group“ im Reichstag diente, zum ersten Mal seit 1949 nicht im nationalen Parlament vertreten ist, könnte mehr als bloß einen Betriebsunfall markieren und diese Partei sogar in eine Existenzkrise stürzen.

Angesichts dieser Instabilität bleibt offen, ob die AfD sich konsolidieren kann – wobei ihr das Abschneiden bei der Bundestagswahl natürlich Auftrieb gibt und auf Grund der Drei-Prozent-Hürde bei der Europa-Wahl in einem guten halben Jahr ein Wahlerfolg wahrscheinlich und gar ein Ergebnis in der Nähe von Zehn-Prozent-Marke möglich ist. (Währenddessen erweisen sich die faschistischen Parteien – wie auch die Bundestagswahl zeigte – derzeit nicht in der Lage, einen Durchbruch zu erzielen).

Schwarz-Rot versus Schwarz-Grün

„Die stellvertretende CDU-Vorsitzende Julia Klöckner brachte es auf den Punkt: Der Bauch sagt Grün, der Kopf SPD. Das bedeutet konkret: Die Union geht auf Nummer sicher und wählt den Partner, der sich bereits zwischen 2005 und 2009 als verlässlich erwies. Es heißt aber auch, dass sich CDU und CSU mittelfristig nach einem neuen strategischen Partner umsehen müssen, da ihnen die FDP vorläufig abhanden gekommen ist“ („Mittelbayrische Zeitung“ vom 11. Oktober). Hinter den Kulissen haben führende Politiker der CDU wie neben Klöckner Merkels weitere Stellvertreter Armin Laschet und Thomas Strobl, aber auch Wolfgang Schäuble schon länger die Fühler Richtung Bündnisgrüne ausgestreckt. Auch bei ihrem Stammwählerklientel gibt es eine Nähe; so überschreibt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) eine Studie über den Zusammenhang zwischen Parteibindung, Einkommen und Vermögen der Haushalte mit den Worten: „Wohlhabende neigen zu CDU/CSU und FDP – und zu den Grünen.“ Damit stellen nicht nur die Verschiebungen in der Parteienlandschaft, sondern auch die Koalitionsüberlegungen nach dieser Bundestagswahl Vorboten kommender Veränderungen dar.

Eine weitere Hinwendung der CDU zu den Grünen und neue schwarz-grüne Bündnisse sind reale Optionen – allerdings wohl weniger bei der aktuellen Regierungsbildung auf Bundesebene. Schließlich ist ein solcher Schritt bislang wenig öffentlich vorbereitet worden. Vor allem aber käme das beim kleineren Partner einem „Wendemanöver bei Sturm“ gleich, und das „mit einem leckgeschossenen Schiff“, so ein führender Grüner laut SPIEGEL 41/2013 zum Zustand seiner Partei. In der Tat machen den Grünen ihre 8,4 Prozent schwer zu schaffen, nachdem sie sich vor Monaten noch bei annähernd 15 Prozent wähnten.

Somit wollte Merkel die parallel laufenden Sondierungsgespräche mit den Grünen wohl primär als „Royal Flush beim Pokern mit der SPD“ (DER SPIEGEL) nutzen. Auch Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt äußerte sich „überzeugt, dass eine Große Koalition derzeit die beste Lösung ist“. Zuvor hatten fatalerweise bereits die Gewerkschaftsspitzen für eine Regierung von CDU/CSU und SPD plädiert.

Ein Faktor bei diesen Überlegungen stellt auch die Euro-Krisenpolitik dar. Zumal Merkel bei der letzten Abstimmung über den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) bereits die Kanzlermehrheit flöten ging. Mit Blick auf bald schon denkbare zusätzliche Euro-Beschlüsse und Banken-Rettungspakete spricht in den Augen großer Teile der Bourgeoisie einiges für gesicherte Mehrheiten in dieser Frage.

Eine Neuauflage der Großen Koalition muss angesichts des Desasters, das das letzte Bündnis mit der Union für die Sozialdemokraten bedeutete, jedoch für die SPD-Spitze gegenüber ihrer murrenden Mitgliedschaft zu „verkaufen“ sein. Für viele war nach der Agenda 2010 und der anschließenden Beteiligung an einer von der Union geführten Bundesregierung angesichts des historischen Einbruchs von 35,2 Prozent (2005) auf 23 Prozent (2009) die Schmerzgrenze erreicht gewesen. Hinter den Kulissen sollen die „Fachpolitiker“ der Parteien schon eifrig Kompromisse ausloten. Nachdem die SPD-Spitze selber anzeigte, nicht auf Steuererhöhungen (seien kein „Selbstzweck“) bestehen zu wollen und Horst Seehofer (CSU) sich ans Betreuungsgeld klammert, muss Merkel der SPD wahrscheinlich beim Mindestlohn entgegenkommen, um die SPD-Basis zu befrieden. Die FAZ setzte dabei am 14. Oktober auf die „Kreativität“ der Verhandlungsführer und kommentierte: „Ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro ist etwas anderes als tarifliche Vereinbarungen. Aber man kann beides verbinden.“

Sollte es also, wie sich derzeit abzeichnet, zu einer Regierung aus CDU/CSU und SPD kommen, würde DIE LINKE die größte Oppositionspartei im Bundestag stellen und somit das Vorrecht haben, in Generaldebatten als Erste auf die Regierung zu antworten. Überhaupt würde es unserer Partei erleichtert werden, sich als Alternative zum Einheitsbrei der Etablierten zu profilieren, wenn die SPD erneut auf den Regierungsbänken sitzen sollte.

„Sehr krass“

Am 9. September strahlte die ARD die Sendung „Wahlkampfarena“ aus. Darin schilderte ein Leiharbeiter, der seit rund zehn Jahren im Leipziger Werk von Thyssen-Krupp eingesetzt wird, dass dort vierzig Stammbeschäftigte 500 ZeitarbeiterInnen gegenüber stünden. Nachdem sich Angela Merkel das angehört hatte, fiel ihr nicht mehr dazu ein, als das Ganze als „sehr krass“ zu bewerten.

„Krass“ ist auch, dass Deutschland mit einem Niedriglohnanteil von einem Viertel aller Lohnabhängigen gleich nach Litauen europaweit den vordersten Platz einnimmt. Damit hat ein erheblicher Teil der Arbeiterklasse dafür bluten müssen, dass die Bundesrepublik verglichen mit anderen Ländern wirtschaftlich noch besser dasteht. (Auch deshalb rückte die BRD in der jährlichen Rangliste des Weltwirtschaftsforums in Sachen Wettbewerbsfähigkeit 2013 vom sechsten auf den vierten Platz vor).

Kein Wunder, dass gerade die Frage vom Umgang mit Leiharbeit und Werkverträgen innergewerkschaftlich in letzter Zeit stark in den Fokus rückte. Obgleich die DGB-Führung im Schatten der Bundestagswahl neue Tarifverträge zur Zeitarbeit eintütete, zog die äußerst kontroverse Diskussion gerade in ver.di, nicht zuletzt seitens hauptamtlicher SekretärInnen, dieses Mal breite Krise. (In der IG Metall gibt es leider noch viele Betriebsräte, die Leiharbeit „insgeheim ganz gern sehen, weil sie glauben, damit ihre Stammbelegschaft zu schützen“ – „Netzwerk-Info der Gewerkschaftslinken“ vom Oktober). Erwähnenswert ist auch die Initiative für einen „Offenen Brief“ an den designierten neuen IGM-Vorsitzenden Detlef Wetzel, der sich – als Antwort auf Werkverträge – öffentlich für Tariflöhne unterhalb der Entgeltgruppe 1 aussprach.

Aber nicht nur die prekär Beschäftigten, auch die Stammbelegschaften mussten für das anämische Wachstum einen Preis zahlen: So waren die vergangenen zehn Jahre im Hinblick auf die Reallohnentwicklung „ein Jahrzehnt der Stagnation“ („Financial Times“ vom 4. September); im ersten Halbjahr 2013 kam es sogar zu einem leichten Minus. Trotzdem überwiegt gerade in den Großbetrieben noch die Stimmung, mit einem blauen Auge davon gekommen zu sein. Die Herrschenden werden jedoch früher oder später eine härtere Gangart einschlagen. Es könnte ihnen noch zum Problem werden, mit Wahlkämpfen wie 2013 die Arbeiterklasse nicht auf „andere Zeiten“ eingeschworen zu haben.

Die Pläne liegen bereits in den Schubladen der Unternehmerschaft: Demontage der Flächentarifverträge in Europa („EU-Agenda 2020“), Einschränkung des Streikrechts, weitere Deregulierung des Arbeitsmarkts. Unmittelbar geht es ihnen um eine weitere Begünstigung der industriellen Stromfresser bei der „Energiewende“.

Derweil ist auch nach einem halben Jahr Tarifkonflikt im Einzelhandel keine Lösung in Sicht. Offenbar setzt das Kapital auf die Einführung einer neuen Niedriglohngruppe für AuffüllerInnen und die Streichung von Nachtarbeitszuschlägen für diese KollegInnen. Zu Recht pocht Helmut Born von der „ver.di-Linken“ auf eine stärkere Aufklärung über die Lohndrückerei: „Dass die Öffentlichkeit auf so was reagiert, konnten wir in den letzten Jahren bei Lidl, Schlecker, Kik et cetera schon mehrmals erleben.“ Wichtig ist neben koordinierten Streiks und der Bildung von Solidaritätskomitees sowie Aktionsräten auch ein fachbereichsübergreifendes Agieren der Gewerkschaft.

Auch bei Charité, Amazon und den angestellten Lehrkräften setzen sich die Auseinandersetzungen fort. Parallel dazu gibt es in immer mehr Großstädten Volksabstimmungsinitiativen zur öffentlichen Daseinsvorsorge, Mieterproteste und – im Geist von „Stuttgart 21“ – Mobilisierungen gegen profitträchtige Großprojekte.

Am Tropf des billigen Geldes

Die Stärke der deutschen Wirtschaft ist gleichermaßen ihre Achillesferse: die Exportabhängigkeit – die seit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise vor sechs Jahren noch zugenommen hat. Fünfzig Prozent der BRD-Wirtschaftsleistung werden inzwischen von den Ausfuhren gestemmt. Demgegenüber sind es in Frankreich beispielsweise keine dreißig Prozent. Aus diesem Grund war auch der Einbruch im Rezessionsjahr 2009 mit minus fünf Prozent besonders dramatisch.

Seit 2009 ist die deutsche Exportabhängigkeit noch gestiegen. Gerade der Handel mit Asien wurde weiter ausgebaut. In einer Befragung von 19 Großunternehmen durch das „Wall Street Journal“ gab die Mehrheit, darunter Siemens, BMW und Adidas, an, mehr Investitionen in Übersee zu planen als in Deutschland und Europa. All das half der Wirtschaft in der Bundesrepublik in den letzten Jahren. Aber genau das wandelt sich mittlerweile. So reduzierte sich das Wachstum der „alten Industrieländer“ laut Internationalem Währungsfonds (IWF) von drei Prozent 2010 auf 1,5 2012; für dieses Jahr werden nur noch magere 1,2 Prozent prognostiziert. Bei den „Schwellenländern“ trübten sich die Wachstumsraten nicht zuletzt wegen der Abschwächung Asiens von sieben Prozent 2010 auf fünf Prozent 2012 und geschätzte 4,5 Prozent 2013 ein.

Von einem sich selbst tragenden neuen Aufschwung kann weltweit keine Rede sein. Überhaupt hängt die Weltwirtschaft am Tropf des billigen Geldes. Als die Vorsitzenden der Notenbanken in den USA und im Euro-Raum, Ben Bernanke und Mario Draghi, im Frühsommer andeuteten, die gewaltigen Liquiditätshilfen sukzessive einzuschränken, ging es auf den Aktien- und Anleihemärkten sogleich drunter und drüber – was dazu führte, dass die Zentralbank-Chefs alles wieder zurücknahmen. Wobei die globale Ökonomie nicht dauerhaft auf Pump am Laufen gehalten werden kann. Ist es doch wie bei einer Droge, die ständig höhere Dosen verlangt und gleichzeitig an Wirkung verliert. – Die Schwächeanzeichen der „Schwellenländer“ hängen auch damit zusammen, dass nach den Verlautbarungen von Bernanke und Draghi von Südostasien, Lateinamerika und anderswo bereits wieder Kapital abgezogen wird (was in einigen dieser Länder extrem schmerzhafte Folgen hat, da die dortigen Leistungsbilanzdefizite lange Zeit mit Hilfe ausländischer Gelder gestemmt wurden).

Vor diesem Hintergrund wiegen die jüngsten „Herbstgutachten“ um so schwerer. Für Deutschland wurden gerade die Wachstumprognosen für 2013 halbiert: von 0,8 auf 0,4 Prozent. Damit stagniert die größte Ökonomie Europas de facto. Das Investitionsniveau der Konzerne ist seit zwei Jahren rückläufig. Eine Reihe von Unternehmen hat bereits weitere Stellenstreichungen angekündigt; Siemens will sogar 5.000 Arbeitsplätze abbauen.

Ahrensburg, Schäuble und die Euro-Krise

„Es wird in Griechenland noch einmal ein Programm geben müssen.“ Scheinbar ganz nebenbei ließ der Bundesfinanzminister diesen folgenschweren Satz Ende August, mitten im Bundestagswahlkampf, fallen. Und zwar im schleswig-holsteinischen Ahrensburg, bei einem Seniorennachmittag. Viel mehr war bis zum 22. September bezüglich Griechenland und dem Euro nicht zu hören gewesen.

Dabei wird immer deutlicher, dass nicht nur Griechenland neue Kredite benötigen wird. Der britische Politikwissenschaftler Mark Blyth, der in seinem neuen Buch „Austerity. The History of a Dangerous Idea“ den drakonischen Sparkurs von Schäuble und Co. anprangert, rechnet vor: „Portugals Staatsverschuldung stieg von 69 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2006 auf 124 Prozent im Jahr 2012. Die irischen Schulden schnellten von 25 auf 118 Prozent empor, diejenigen Griechenlands, des Sorgenkinds und Aushängeschilds der Euro-Krise und der Austeritätspolitik, von 107 auf 157 Prozent, trotz einer ununterbrochenen Folge von Sparrunden und einer Abschreibung von über 50 Prozent auf griechische Anleihen für private Gläubiger“ (DER SPIEGEL 42/2013).

Zu den ökonomischen Krisen kommen politische Erschütterungen. So verloren die beiden Regierungsparteien Portugals bei den Kommunalwahlen Ende September zwölf Prozent. In den selben Tagen hing die Regierung Italiens unter dem Premier Enrico Letta kurzzeitig an einem seidenen Faden.

Wächst die Euro-Skepsis unter den Herrschenden?

Portugal hatte im Zuge des Euro-Schlamassels ein Darlehen von 78 Milliarden erhalten. Schon bald wird mit einem neuerlichen Kreditantrag in Höhe von fünfzig Milliarden Euro gerechnet. Weitere Krisenländer werden ebenfalls neue Hilfsgelder benötigen. Das könnte Diskussionen unter den Bürgerlichen in Deutschland befeuern, einen Kurswechsel vorzunehmen. Bislang kassiert die Bundesregierung auch an den Darlehen – so erhielt sie von Athen bis Ende letzten Jahres 300 Millionen Euro an Zinsbeträgen. Zudem profitieren deutsche Kapitalanleger an den Privatisierungen in Hellas und anderswo zu Schnäppchenpreisen.

Dennoch starren immer mehr deutsche Kapitalisten mit Argusausgen auf die Rückzahltermine sowie auf das Target-II-System (das den grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr der Notenbanken im Euro-Raum regelt – und mit Hunderten von Milliarden überzogenen Krediten der Krisenländer zu tun hat). Vor diesem Hintergrund könnten nicht nur mittelständische Familienbetriebe, die ohnehin nicht groß von der Schuldenkrise in der Euro-Zone profitierten, sondern auch Repräsentanten der Großindustrie auf einen Paradigmenwechsel bei Merkel und Co. drängen – oder teilweise auf die weitere Entwicklung der „Alternative für Deutschland“ schielen.

Nicht auszuschließen ist allerdings auch, dass die FDP sich als Euro-kritische Partei zu erneuern sucht. Zwar watschte der designierte neue Partei-Chef Christian Lindner seinen prominenten innerparteilichen Euro-Gegner Frank Schäffler kürzlich mit den Worten ab: „Die Richtungsfrage beim Euro ist entschieden.“ Doch kam es daraufhin zu einer Welle von Solidaritätsbekundungen für Schäffler. Es ist im Übrigen bloß zwei Jahre her, dass die damalige FDP-Spitze einen Mitgliederentscheid über den Euro-Rettungsschirm nur um Haaresbreite gewonnen hat.

Aufgaben für DIE LINKE

Gegenüber der Bundestagswahl 2009 büßte die Linkspartei 1,4 Millionen Stimmen ein (auch im Vergleich zur Kandidatur 2005 war ein Minus von 350.000 Stimmen zu verzeichnen). Das musste nicht sein. Vielmehr drückt sich darin aus, wie unzureichend DIE LINKE weiterhin in der Arbeiterklasse verankert ist. Hätte sie in den letzten Jahren ihre Kritik an Banken-Rettungen, Sozialkürzungen und Kriegseinsätzen konsequent und offensiv vertreten und hätte sie durchgehend aktiver an Protesten teilgenommen (anstatt immer wieder den Eindruck parlamentarischer Fixiertheit zu erwecken und vor vier Jahren in Brandenburg erneut zum Partner einer SPD-geführten Regierung zu werden), dann hätte sie auf Bundesebene ihr Ergebnis von 2009 zumindest halten können.

Dennoch ist es nachvollziehbar, wenn die „Antikapitalistische Linke“ (AKL) und andere die 8,6 Prozent vom 22. September als „Comeback“ einstufen. Schließlich drohte unsere Partei laut Umfragen vor eineinhalb Jahren noch an der Fünf-Prozent-Hürde zu scheitern. Davon hat sie sich eindeutig erholt, dieses Jahr bislang 3.000 neue Mitglieder (gerade in den Wochen vor und nach der Bundestagswahl) gewonnen und steht vor Möglichkeiten, in den kommenden Jahren weiter aufzubauen. Zumal DIE LINKE auch in Westdeutschland über fünf Prozent holte (außer in Bayern und Baden-Württemberg kam die Partei in allen Bundesländern auf fünf plus x Prozent) – und bei der Wahl in Hessen ebenfalls erneut in den Landtag einziehen konnte.

Im Kontrast zu allen anderen Bundestags-Parteien hat DIE LINKE im Zuge der Euro-Krise sämtliche Banken-Rettungspakete im Parlament abgelehnt. Diese Linie muss beibehalten werden. (Es war ein Fehler, im Bundestagswahlkampf dazu kaum etwas zu sagen). Wichtig ist mit Blick auf die zu erwartenden weiteren Verwerfungen in der Euro-Zone und der Europa-Wahl im Mai 2014, dass wir als LINKE allerdings auch öffentlich klar Position beziehen – nicht gegen „Europa“, aber gegen eine Euro-Politik im Interesse von „denen da oben“ und gegen eine EU für Banken und Konzerne (statt dem auf dem Dresdner Wahlparteitag beschlossenen expliziten Bekenntnis zum Euro). Darüber hinaus sollten wir uns für internationale Solidaritätsaktionen gegen die Diktate der „Troika“ stark machen. Allein Bernd Riexingers Auftritt an der Seite von Alexis Tsipras während Merkels Athen-Besuch vor einem Jahr hatte Signalwirkung. Auch Fragen wie die Flüchtlingssituation sollten aufgegriffen und gegen die „Festung Europa“ sowie gegen die bestehende Asylpolitik argumentiert werden – wobei es nötig ist, hier immer die soziale Frage mitzubehandeln. Außerdem sollte „Blockupy in Frankfurt am Main“, möglicherweise mit Protesten zur Einweihung der neuen Europäischen Zentralbank (EZB) verbunden, für uns ein wichtiges Datum sein.

Generell ist es neben einem klaren antikapitalistischen, sozialistischen Profil nötig, eine aktive Rolle bei Gegenwehr zu spielen. Hier hat sich die Beteiligung, zum Beispiel bei der Unterstützung des Tarifkampfes im Einzelhandel, in den vergangenen zwölf Monaten bereits verbessert. Sicher ist es von Vorteil, dass mit Riexinger der langjährige Geschäftsführer von einem der streik-aktivsten gewerkschaftlichen Untergliederungen (ver.di Stuttgart) Ko-Vorsitzender der LINKEN geworden ist. Gerade bei ver.di hat das Interesse von einzelnen Aktiven und linken Hauptamtlichen an der Partei zugenommen; was sich auch bei der „Erneuerung durch Streik“-Konferenz im Januar 2013 widerspiegelte, bei der Bernd Riexinger eines der Hauptreferate hielt (auch die Folge-Konferenz im Herbst 2014 in Hannover sollte im Terminkalender gewerkschaftlich engagierter Parteimitglieder fest eingeplant werden). Wobei gleichzeitig festgehalten werden muss, dass es beim Zuspruch unter Gewerkschaftsmitgliedern noch viel Luft nach oben gibt – schließlich schnitt DIE LINKE bei der Bundestagswahl mit einem Anteil von sieben Prozent dieses Mal deutlich schlechter ab als 2009, als sie hier noch 13,8 Prozent der Stimmen bekam.

Jeder einzelne Ortsverein und jede einzelne solid-Gruppe ist gefordert, in der nächsten Zeit im eigenen Stadtteil Fuß zu fassen, an der Seite von protestierenden MieterInnen, Beschäftigten und Jugendlichen zu stehen und über kontinuierliche Präsenz und Aktivitäten Wurzeln zu schlagen.

Weitere Regierungsbeteiligungen, die nach den Landtagswahlen 2014 in Sachsen, Thüringen und Brandenburg, wo sich die Linkspartei ja schon zusammen mit der SPD in einer Koalition befindet, würden neuerliche Rückschläge bedeuten – in Brandenburg hat DIE LINKE bei der Bundestagswahl besonders stark verloren – und der Partei, wenn vielleicht nicht unmittelbar, so doch mittelfristig Stimmen und Unterstützung kosten (wie zum Beispiel Berlin zeigt, wo sich die Ergebnisse der LINKEN, vormals PDS, nach zehn Regierungsjahren halbierten). Zwar ist es grundsätzlich richtig, SPD und Grüne an die Umsetzung ihrer Wahlversprechen zu erinnern und sie im Bundestag dementsprechend zu entlarven. Aber die ständigen Angebote von Gregor Gysi und Co., mit diesen beiden Hartz-IV-Parteien in ein Regierungsbett zu steigen, und dabei bisherige Beschlusslagen der LINKEN zu schleifen, sind fatal. Leider leisten auch Bernd Riexinger und andere dieser Kursverschiebung der Partei Vorschub und schüren Illusionen in Rot-Rot-Grün, wenn sie unermüdlich bekunden, an ihnen würde ein solches Bündnis nicht scheitern. In Hessen leisten die Fraktionsvorsitzende Janine Wissler und die Vorstandsriege der Partei mit ihren Regierungsavancen ebenfalls einen Bärendienst.

Es gilt indes nicht nur, innerparteilich dagegen zu halten, wenn neue Regierungsbeteiligungen auf Länderebene drohen (auch in Hessen steht diese Frage weiter im Raum, wenngleich es nicht das wahrscheinlichste ist, dass SPD und Grüne sich gegenwärtig darauf einlassen). Gregor Gysi und andere Kräfte in der Partei haben weiter eine Beteiligung auf Bundesebene fest vor Augen und arbeiten zielstrebig darauf hin. Angesichts der zu erwartenden ereignisreichen Phase ist auch ein vorzeitiges Ende der neuen Merkel-Regierung nicht ausgeschlossen. Um so wichtiger, in der Partei zu verhindern, dass grundlegende programmatische Positionen aufgeweicht werden – zum Beispiel beim Nein zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr (was wir gerade im nächsten Jahr herausstellen sollten, da sich 2014 der Beginn des Ersten Weltkrieges zum 100. Mal jährt). Gleichwohl steht die Parteilinke nicht nur vor der Herausforderung, die prinzipiellen Positionen zu verteidigen, sondern bei potenziellen Wähler- und UnterstützerInnen auch geschickt und geduldig zu erklären, warum Regierungsbeteiligungen mit bürgerlichen Parteien, ob in Form einer Koalition oder als Tolerierungsmodell, eine Absage erteilt werden muss.

Pyrrhus

Der König Pyrrhos I. von Epiros musste nach seinem Sieg über die Römer im Jahr 279 vor unserer Zeitrechnung schnell einsehen, dass dieser Erfolg auf Sand gebaut war. Auch wenn die Bürgerlichen international weiter bemüht sein werden, eine ökonomische Talfahrt aufzuhalten und das exakte Tempo der Entwicklungen offen ist, spricht einiges dafür, dass Merkel I. bald mit neuerlichen Debatten über einen „Staatsbankrott in Greece“ – und nicht nur dort – konfrontiert sein dürfte. Möglicherweise verzögern sich größere betriebliche Abwehrkämpfe (nachdem viele Stammbelegschaften zunächst den Eindruck gewannen, mit dem „Krisenkorporatismus“ gut gefahren zu sein).

Jedenfalls könnte – wie die Nationalratswahl in Österreich zeigte – eine Große Koalition in der Bundesrepublik in den nächsten Jahren schon bald nicht mehr all zu „groß“ sein. Unabhängig vom genauen Verlauf (schwindender Rückhalt, größere Proteste, vorzeitiges Ende der Koalition) wird es sich um eine zutiefst instabile Regierung handeln. Um so dringender, dass DIE LINKE nicht Kräften wie der „AfD“ das Feld überlässt, sondern in den kommenden Jahren einen starken linken Anziehungspunkt schafft.