Revolution und Konterrevolution im Nahen Osten und in Nordafrika

Foto: http://www.flickr.com/photos/mohamedazazy/ CC BY-NC-ND 2.0
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Gebraucht wird eine unabhängige Führung von Seiten der Arbeiterklasse

Von Alison Hill, „Socialist Party“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in England & Wales)

Es ist nun zweieinhalb Jahre her, dass der „Arabische Frühling“ begonnen hat – eine Reihe von Ereignissen, die den Nahen Osten radikal veränderte, so Serge Jordan, der die inhaltliche Einleitung zum gut besuchten Arbeitskreis über den Nahen Osten und Nordafrika bei der Sommerschulung des Komitees für eine Arbeiterinternationale (dem die SAV angeschlossen ist) übernahm. Diese Transformation hat sich auf ökonomischer, gesellschaftlicher, politischer und militärischer Ebene vollzogen. Es ist eine neue geo-politische Situation entstanden, die alle möglichen Elemente umfasst: Revolution, Konterrevolution, Krieg, Bürgerkrieg, sektiererische Gewalt, wirtschaftliche Krise, Regime-Wechsel, Instabilität und imperialistische Einmischung.

Diese komplexe Mixtur an Faktoren macht eine solide Analyse und Bewertung der Lage erforderlich. Und durch den rasanten Gang der Ereignisse wird die Situation noch weit komplexer. Die Abläufe wirken sich auf verschiedene Länder aus. So trugen einige TeilnehmerInnen einer Anti-Kürzungsdemo in Israel beispielsweise Plakate mit Bezug auf die Massenbewegung in Ägypten. Es ist aber offensichtlich, dass es in jedem Land ganz eigene Dynamiken gibt.

Libyen

In Libyen, wo die Arbeiterbewegung schwach ist, haben wir es mit einer einzigartigen und chaotischen Situation zu tun, die von Unsicherheit und Gewalt charakterisiert ist. Die Mordrate ist dramatisch angestiegen, und die Zentralregierung hat damit begonnen, mit Milizen zusammenzuarbeiten, um die Ordnung aufrecht zu erhalten. Nun ist es dort aber auch zwischen rivalisierenden Milizen zu Gewaltausbrüchen gekommen. Dadurch wird die Lage immer instabiler, obwohl die ArbeiterInnen mit ihren Streiks auf den Ölfeldern ebenfalls in Aktion getreten sind.

In Marokko kommt es in zunehmendem Maß zu gesellschaftlichen Spannungen. Die herrschende Elite bereitet sich auf den Klassenkampf vor, der sich wahrscheinlich am Problem entzünden wird, dass die Lebensmittel-Subventionen ins Visier der Kürzungspolitik geraten.

Weil Ägypten sozusagen das Herz der arabischen Welt darstellt, war der Sturz Mursis ein dramatischer Wendepunkt. Dadurch haben auch die politischen Entwicklungen in anderen Ländern an Fahrt gewonnen. Kapitalistische KommentatorInnen und sogar einige VertreterInnen der politischen Linken haben eine Menge an Verwirrung gestiftet. Viele Fragen warten auf adäquate Antworten: Welche Rolle spielt die Armee? War es ein Putsch oder nicht? War es eine Revolution? – Es wäre falsch, in dieser Situation, die sich in der Tat durch revolutionäre wie auch konterrevolutionäre Elemente auszeichnet, mit starren Erklärungsmustern zu arbeiten.

Der Armee ist der Putsch zwar von einer wahrhaft revolutionären Massenbewegung aufgezwungen worden. Es ist allerdings gefährlich, Illusionen in die Armee zu haben. Jede repressive Maßnahme gegen die „Muslimbruderschaft“ wird sich am Ende auch gegen die Arbeiterklasse richten. Der alte Staatsapparat ist immer noch existent.

Das Argument, man leiste gegen den politischen Islam Widerstand, kann vom Staat genutzt werden, um die eigene Macht zu konsolidieren, und von Seiten des Staates ist es bereits zu brutalen Gewaltausbrüchen gekommen. Zudem könnten einige islamistische Splittergruppen dazu verleitet werden, sich mehr in Richtung terroristischer Gewalt zu entwickeln, um auf diese Weise auf die staatliche Repression zu reagieren.

Islamistische Gruppierungen

Die Arbeiterklasse muss ihre eigenen politischen Vertretungsinstanzen herausbilden. Andernfalls werden einige dieser islamistischen Gruppen in das bestehende Vakuum stoßen. Sie könnten bei den Ärmsten der Armen den Fuß in die Tür bekommen, wenn die Linke nicht in Aktion tritt. Diese Gruppierungen reden nicht nur vom Djihad. Sie verteilen Lebensmittel, Medikamente und andere Dinge des täglichen Bedarfs. In einigen Gegenden haben sie parallele Gesellschaftsstrukturen aufgebaut. Die entfremdeten jungen Leute sind die, die sich am ehesten von den Djihadisten beeinflussen lassen – und das Scheitern des Regimes, das es nicht vermocht hat, diesen jungen Menschen die Grundlagen jeder menschlichen Existenz zur Verfügung zu stellen, bedeutet, dass sie im ganzen Nahen Osten einen für sie fruchtbaren Boden vorfinden.

Der wesentliche Faktor ist in Tunesien – wie auch in Ägypten – der Kampf zwischen den gesellschaftlichen Klassen. Die Anzahl der Streiks weist darauf hin, dass dort ein intensiv geführter Klassenkampf an der Tagesordnung ist. In Ägypten hat es in den letzten fünf Monaten 5.544 Demonstrationen gegeben, im selben Zeitraum sind in Tunesien 215 Unternehmen bestreikt worden.

Dass dieser Kampf zwischen den gesellschaftlichen Klassen vor sich geht, bedeutet nicht, dass es nicht auch zwischen den verschiedenen politischen Lagern innerhalb der herrschenden Klasse zu Spannungen kommt. In Ägypten hat sich die Armeespitze zweifelsfrei die Massenbewegung zunutze gemacht, um sich der rivalisierenden „Muslimbruderschaft“ zu entledigen. Der „Muslimbruderschaft“ war es nicht möglich, die völlige Kontrolle über den Staatsapparat zu erlangen.

In Tunesien könnte es dazu kommen, dass einige in Versuchung geraten und sich dem säkularen Flügel der herrschenden Klasse zuwenden, weil sie ihm eine positive Rolle zugestehen. Das ist aber gefährlich. Zu denken, dass an erster Stelle der Aufbau eines säkularen Staates stehen muss, und der Sozialismus erst später auf der Tagesordnung steht, wird dazu führen, dass die Arbeiterklasse in die Hände des Klassenfeindes fällt.

Es geht nicht um die Frage, ob die Dinge sich säkular oder religiös entwickeln müssen. Um sich die Arbeiterklasse vom Hals zu halten, haben auch säkulare Regierungen reaktionäre rechte Kräfte unterstützt.

„Algerisierung“

Der Begriff der „Algerisierung“ Ägyptens bezieht sich auf die Lehren, die aus den Entwicklungen in Algerien in den 1990er Jahren zu ziehen sind. Dort war die schreckliche Folge der Entwicklungen, dass der Arbeiterklasse und den verarmten Massen eine unabhängige Perspektive für ihre gesellschaftliche Klasse genommen wurde. Einige Linke haben den Putsch von 1992 gegen die FIS (algerische radikalislamische Partei; Ergänzung der Übersetzung) begrüßt. Danach kam es aber zu einer von der Armee angestrengten Terror-Welle, der 200.000 Menschen zum Opfer fielen und in deren Verlauf es zur Zerstörung sozialer und ökonomischer Strukturen gekommen ist, unter der die verarmten Massen und die Arbeiterklasse zu leiden haben.

Wegen der sich ausbreitenden Massenbewegung ist das algerische Regime nun nervös. Man versucht, den jungen Menschen entgegen zu kommen, öffnet Kinos, verlängert die Öffnungszeiten von Clubs und Kneipen bis Mitternacht und lässt sogar die Gebäude im Zentrum von Algier neu anstreichen. Damit soll die Revolte verhindert werden. Hinzu kommt, dass an der Spitze des algerischen Staates eine Krise ausgebrochen ist, was teilweise auf den schlechten Gesundheitszustand des Präsidenten zurückzuführen ist.

Nicht ein Regime im Nahen Osten und in Nordafrika kann von sich behaupten, stabil zu sein. Aufgrund der Entwicklungen in Ägypten befinden sich die herrschenden Klassen in einem allgemeinem Angstzustand. Hinzu kommt, dass die Unterstützung für die neuen islamistischen Regime stark zurückgegangen ist. Rund 63 Prozent der ägyptischen Bevölkerung spüren, dass es ihnen schlechter geht als vor Mursis Machtübernahme. Mehr als 4.500 Fabriken sind in seiner Amtszeit geschlossen worden.

Und es ist die Wirtschaftskrise, die den Spielraum für neue Regime weiter begrenzt. Im Wirtschaftsmagazin „The Wall Street Journal“ hat Anfang Juli ein Journalist dafür plädiert, es müsse in Ägypten einen neuen Pinochet geben. Der herrschenden Klasse ist es momentan allerdings nicht möglich, der Arbeiterklasse einen entscheidenden Schlag zu versetzen. Die Revolutionen haben weiterhin immense Reserven in der Bevölkerung.

An den mit Ägypten ausgehandelten Krediten des „Internationalen Währungsfonds“ (IWF) hängen Bedingungen, die sehr wahrscheinlich zu neuen Erhebungen von unten führen werden. Dabei wollte der IWF nur gute Beziehungen zum Regime aufbauen und den wirtschaftlichen Zusammenbruch sowie weitere revolutionäre Unruhen verhindern. Bislang haben alle vergleichbaren Staaten wie z.B. die Vereinigten Arabischen Emirate, der Oman oder Kuwait die Daumenschrauben enger gedreht und der eigenen Bevölkerung schwere Lasten aufgebürdet.

Die syrische Tragödie

In Syrien haben wir es mit einer humanitären Krise zu tun. Täglich verlassen 6.000 Menschen das Land. Die Flüchtlinge drängen nach Jordanien, in die Türkei und den Libanon, was auf diese Länder wiederum einen destabilisierenden Effekt hat. Der Agrarsektor befindet sich in der Krise, was zu Lebensmittelknappheit führt. Rivalisierende Gruppen richten ihre Gewehre gegeneinander – in Bürgerkriegen entwickeln sich neue Bürgerkriege.

In letzter Zeit hat sich das Gleichgewicht der Kräfte zu Gunsten von Assad verschoben. Aus dem Iran und dem Irak heraus wie auch von der Hisbollah wird ihm der Rücken gestärkt. Für den westlichen Imperialismus sollte diese Situation äußerst unangenehm bis peinlich sein. Wen werden am Ende die Waffen erreichen, die man heute den syrischen Rebellen zukommen lässt? Es ist möglich, dass Assad eine Zeit lang zumindest über einen Teil des Landes die Kontrolle behält. Was auch immer passieren wird: Wir sind ZeugInnen eines langwierigen und blutigen Konflikts.

Gleichzeitig hat die herrschende Klasse Israels ihre Gründe, weiterhin von militärischen Mitteln Gebrauch zu machen. Das kann nur zu einer weiteren Destabilisierung führen.

Im Zuge der sich anschließenden Diskussion wurde auch von Beispielen berichtet, bei denen politische AktivistInnen den Fehler gemacht haben, Ausschau nach einem „fortschrittlichen“ Flügel innerhalb der kapitalistischen Klasse zu halten, der Rettung versprechen könnte. In solchen Fällen fehlte es am Verständnis, dass die Arbeiterklasse ihre eigene politische Repräsentanz aufbauen muss. In der Türkei wurde der Einfluss solcher Ideen, die Illusionen in bestimmte Teile der Bourgeoisie schüren und auf der alten stalinistischen Herangehensweise basieren, regelrecht einem Praxistest unterzogen. Die Leute konnten deshalb nicht glauben, dass die Polizei gegen die Proteste eingesetzt werden würden, weil die herrschende Klasse doch um ihre eigenen demokratischen Rechte fürchten müsse. Sie mussten aber die schlimme Erfahrung machen, dass die Regierenden noch viel mehr Angst vor einer möglicherweise entstehenden Massenbewegung der ArbeiterInnen haben, die ihnen viel mehr wegnehmen kann als nur das Recht auf individuelle Entfaltung.

Andere Beiträge ermöglichten einen Blick auf die Bedingungen für ArbeiterInnen in vielen anderen Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas. An diese Informationen zu kommen ist nur deshalb möglich, weil dem CWI in diesen Ländern ArbeiterInnen beigetreten sind.

Palästina

GenossInnen aus Israel/Palästina erklärten, dass die israelische regierende Klasse zwar Verhandlungen mit der Palästinensischen Autonomiebehörde aufgenommen hat, dabei aber nicht im Sinn hat, einem souveränen palästinensischen Staat zuzustimmen.

In den letzten zwei Jahren hat es in Israel eine Bewegung gegen hohe Lebenshaltungskosten gegeben. Schlecht bezahlte Beschäftigte, sowohl mit jüdischem als auch palästinensischem Hintergrund, sind den Gewerkschaften beigetreten. Dabei hat keine Gewerkschaft eine klare Haltung zu den Besetzungen im Westjordanland. Aktuell sind Meinungsumfragen zufolge 39 Prozent der Menschen der Meinung, die Siedlungen seien nur Verschwendung von Steuergeldern. Im vergangenen Jahr sagten dies noch 24 Prozent. 31 Prozent gaben an, dass die SiedlerInnen dem Friedensprozess im Weg stehen würden.

Klar ist, dass das Hauptaugenmerk auf einem Programm liegen muss, dessen Kernziel aus dem gleichen Recht auf Selbstbestimmung für Israelis und PalästinenserInnen besteht, und das zum Bestandteil eines sozialistischen Kampfes für den Wandel werden muss. Sollte es zu einer erneuten palästinensischen Aufstandsbewegung kommen, so wäre diese in der Lage, sich an die israelische Arbeiterklasse zu richten und an sie zu appellieren. Ohne Freiheit für die PalästinenserInnen gibt es auch für die Beschäftigten in Israel keine Sicherheit. Erreicht werden kann dies nur mit einem sozialistischen Programm.

In seinem Schlusswort fasste dann Niall Mulholland vom Internationalen Sekretariat des CWI eine exzellente Debatte zusammen. Er sagte, dass die Wurzeln der revolutionären Bewegungen, die wir heute im ganzen Nahen Osten und in Nordafrika erleben, auf die globale Krise des Kapitalismus zurückgehen. Auf der Grundlage des Kapitalismus ist kein Regime in der Lage, für dauerhafte Reformen zu sorgen, weshalb die Regime in Ägypten, Tunesien und anderen Länder wahrscheinlich auch wieder abgelöst werden.

In Ägypten ist es im Juni zu einer der größten Massenbewegungen der Menschheitsgeschichte gekommen. Revolution und Konterrevolution existieren gleichzeitig und nebeneinander. Die Generäle hatten den Putsch nicht wirklich geplant, doch einen Tag vor einem Generalstreik hatten sie plötzlich die Befürchtung, die Massen könnten das ganze System zu Fall bringen. Nun steht das neue Regime unter Druck, die Versorgung sicherzustellen zu müssen.

Die Juni-Bewegung hat aber immer noch große Energiereserven, und neue Schichten von ArbeiterInnen treten in Aktion. Was aber fehlt ist eine revolutionäre Alternative durch die Massen selbst. Das Regime befindet sich in einem fortwährenden Konflikt mit der Arbeiterklasse und den Djihadisten, die aus dieser Situation beide und für sich genommen etwas machen könnten. Die ArbeiterInnen sind allerdings dazu in der Lage, schnell die richtigen Schlüsse zu ziehen: Um das Regime der „Muslimbruderschaft“ zu stürzen, hat es nur ein Jahr gebraucht.

„Balkanisierung“

In verschiedenen Ländern besteht die Gefahr der „Balkanisierung“, des Auseinanderbrechens von Nationalstaaten. In Syrien hat Assad einen sektiererischen Bürgerkrieg provoziert, um an der Macht zu bleiben. Der Westen und die Golfstaaten mischen sich ebenfalls ein und sorgen mit ihren Waffenlieferungen an die Opposition für eine Verlängerung des Konflikt.

Im Irak besteht die Gefahr, dass das Land in einem sektiererischen Flächenbrand zerbricht, und die Region aufgrund von sektiererischen Überlegungen neu aufgeteilt wird.

In Israel/Palästina werden die erneuten „Gespräche über neue Gespräche“ nicht dazu führen, dass die PalästinenserInnen ihre Gebiete wirklich als Staat anerkannt bekommen. Wegen der Siedlungen ist es wahrscheinlich, dass es sich bei einem wie auch immer konzipierten palästinensischen Staat noch nicht einmal um ein zusammenhängendes Gebilde handeln wird.

Unsere Forderung nach zwei sozialistischen Staaten als Teil einer sozialistischen Föderation würde bedeuten, dass die Grenzen neu gezogen werden müssten. Die Voraussetzung dafür wären aber Abkommen zwischen den arbeitenden Menschen, nachdem der Kapitalismus überwunden worden ist.

Es ist ein neuer Kampf nötig, der nach dem Muster der ersten Intifada ablaufen muss; in dem Sinne, dass individueller Terrorismus abgelehnt wird und es zu keinem Bündnis mit irgendeinem arabischen Regime kommt. Die erste Intifada scheiterte letztendlich in der Erreichung ihrer Ziele, weil es an einer unabhängigen Führung fehlte, die sich auf die Arbeiterklasse bezog. Ein neuer, massenhaft geführter Kampf kann aber Erfolg haben. Dieser muss dann allerdings auch Appelle an die israelische Arbeiterklasse enthalten, sich gemeinsamen Aktionen anzuschließen.

Die Ideen des CWI sind im Hexenkessel des Nahen Ostens und Nordafrikas einem Praxistest unterzogen worden. Es war uns damit möglich, im Zuge der mächtigen Ereignisse in einer Reihe von Ländern in der Region neue AnhängerInnen zu gewinnen.