China: Prozess gegen Bo Xilai

Foto: http://www.flickr.com/photos/booknews/ CC BY-NC-ND
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Beim Prozess gegen Bo Xilai in China handelt es sich um das bedeutendste Ereignis der letzten 30 Jahre.

Dieser Artikel erschien zuerst am 14. September in englischer Sprache auf socialistworld.net

von Sally Tang Mei-Ching, „Socialist Action“ (UnterstützerInnen des CWI in Hong Kong), und Vincent Kolo, chinaworker.info (China-Homepage des CWI, dem „Komitee für eine Arbeiterinternationale“, dessen Sektion in Deutschland die SAV ist)

Das fünf Tage andauernde Gerichtsverfahren gegen den ehemaligen chinesischen Spitzenpolitiker Bo Xilai im August dieses Jahres erzielte nicht die Wirkung, die sich die Führungsriege Chinas erhofft hatte. Es kam darüber doch nur noch mehr über den korrupten Charakter der Diktatur der KPC („Kommunistische“ Partei Chinas) und ihren repressiven Polizeiapparat ans Licht. Viele betrachteten dieses Ereignis als den bedeutsamsten Gerichtsprozess in China seit 30 Jahren. Dadurch bekam man einen Geschmack davon, wie tief die Krise im Staatsapparat und der herrschenden Diktatur fortgeschritten ist.

Bo Xilai, führender „Kronprinz“, einflussreicher Angehöriger der obersten KPC-Familien des Landes und ehemaliges Mitglied des 17. Politbüros der KPC wurde 2012 zu Fall gebracht und wegen Veruntreuung, Annahme von Schmiergeldern und Machtmissbrauch angeklagt. Die Regierungsspitzen – namentlich Staatspräsident Xi Jinping und Ministerpräsident Li Keqiang – wollten mit diesem Prozess eigentlich ihre Anti-Korruptionskampagne beleben, die für sie so etwas wie ein Prestige-Unternehmen geworden ist. Damit wollten sie einen lästigen politischen Rivalen in Verruf bringen und ausschalten, aber auch den Anschein von „Fortschrittlichkeit“ erwecken, indem sie in China sozusagen der „Rechtsstaatlichkeit“ zum Durchbruch verhelfen. Deshalb fand das Verfahren teilweise in der Öffentlichkeit statt. Zu diesem Zweck, so scheint es, wurde vereinbart, dass Bo einige der Anklagepunkte anfechten und ZeugInnen ins Kreuzverhör nehmen konnte. Aus Sicht der regierenden Clique ging dieses Vorhaben gehörig schief: Bo und sein Anwaltsteam rissen das Verfahren beinahe an sich.

Einer der brisantesten Momente, die die Verhandlung zu bieten hatte, war, als Bo sagte, er sei genötigt worden, falsche Geständnisse abzulegen. „Ich habe das gegen meinen Willen zugegeben“, sagte er vor Gericht. Auch wenn diese Erklärung nur bestätigt, was längst bekannt ist, dass in chinesischen Gerichtsverfahren in großem Umfang von erzwungenen Geständnissen Gebrauch gemacht wird, so schlug dieses Statement aus dem Munde eines ehemaligen Spitzenpolitikers der KPC ein wie eine Bombe. Bo selbst hat ähnliche Methoden stillschweigend geduldet, so zum Beispiel in der Zeit, als er im Zuge seiner „strike back“-Kampagne gegen kriminelle Banden in Chongqing hart durchgreifen ließ. Damals wurden Tausende verhaftet und vor Schnellgerichte gebracht.

Kontrollverlust des Regimes

Auch wenn kein Zweifel daran besteht, dass er schuldig gesprochen und eine lange Haftstrafe erhalten wird (das Urteil wird erst zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben), so folgte das Verfahren gegen Bo nicht demselben eng gestrickten Drehbuch, das bei früheren Korruptionsfällen in hochrangigen Kreisen zur Anwendung kam. Der Angeklagte bestritt alle gegen ihn erhobenen Anklagepunkte (es ist sehr wahrscheinlich, dass er sich damit über Vereinbarungen hinwegsetzte, die mit Sicherheit vor dem Verfahren getroffen worden sind) und führte eine Verteidigungsstrategie, die MedienkommentatorInnen als „angriffslustig“ und „außergewöhnlich“ beschrieben haben. Seine Vorgehensweise war darin erfolgreich, die Glaubwürdigkeit der ZeugInnen der Anklage zu diskreditieren. Dazu zählte auch seine Ehefrau Gu Kailai, die als verurteilte Mörderin im Gefängnis sitzt und von Bo als „verrückt“ sowie als notorische Lügnerin beschrieben wurde. Verglichen mit den Prozessen gegen die ehemaligen Mitglieder des Politbüros Chen Liangyu (2008) und Chen Xitong (1998), die nur einen Tag dauerten, war das Verfahren gegen Bo wesentlich länger. Es ist ganz eindeutig, dass das Regime die Kontrolle über diesen Gerichtsprozess verloren hat.

Nach dem Ende des Verfahrens besteht in der Öffentlichkeit der Eindruck, dass Bo Opfer politischer Verfolgung geworden ist. Die meisten Menschen empfinden den gesamten Staatsapparat als korrupt, wobei Bo Xilai nicht besser oder schlechter als andere hochrangige PolitikerInnen wegkommt. Die Angehörigen der neo-maoistischen Linken, die Bo als Alternative zur derzeitigen neoliberalen Führung ansehen, sind durch seine trotzige Haltung ermutigt worden. Doch selbst Liberale und MenschenrechtlerInnen, die Bo politisch wenig abgewinnen können, haben protestiert, dass dies bei weitem kein fairer Prozess gewesen ist. Eine Umfrage des chinesischen Mikro-Blogs „Weibo“ ergab, dass unter denjenigen, die Bo nicht unterstützten, drei Viertel nach dem Verfahren eine bessere Meinung von ihm hatten.

Auch machte die Staatsanwaltschaft keinen sehr sicheren Eindruck. Abgesehen von Zeugenaussagen und dem Geständnis von Bo selbst, stützte sie sich nur auf sehr unkonkrete Indizien. Als Bo seine Geständnisse in allen Punkten widerrief, geriet die Anklage ins Taumeln. Was ihre Urteile anbelangt, baut das von der KPC kontrollierte Rechtssystem in hohem Maße auf Geständnisse, die häufig erzwungen sind. Nach einem Bericht eines in Hong Kong ansässigen Rechtsprofessors wurden 2011 in 95 Prozent der Gerichtsverfahren Geständnisse erzielt. Als der Prozess losging, intensivierten die staatlichen Medien ihre Attacken gegen Bo, um das armselige Auftreten der Staatsanwaltschaft zu vertuschen.

Der Stand der Staatsanwaltschaft wurde auch dadurch verkompliziert, dass das Regime den Fall Bo herunterspielte. Die Anklagepunkte deckten nur einen Bruchteil seiner angeblicher Vergehen ab. Wenn es um hochrangige Korruptionsfälle geht, ist das zu einem üblichen Vorgang geworden. Das Regime will nicht das ganze Ausmaß der Korruption offenlegen, da ansonsten auch andere PolitikerInnen betroffen sein könnten und das ganze Regime beschädigt würde. Die Anklagepunkte gegen Bo umfassten einen Gegenwert von 25 Million RMB (~ vier Millionen US-Dollar) an Korruptions- und Schmiergeldern. Außerdem ging es lediglich um den Zeitrum, in dem er Bürgermeister von Dalian war, und nicht um seine Rolle in Chongqing von 2007 bis 2012, die er bis vor gar nicht allzu lange Zeit dort spielte. Dabei wäre es um weitaus größere Summen gegangen und um „frische Spuren“, die zu anderen führenden PolitikerInnen geführt hätten. Wie auch JournalistInnen und KommentatorInnen angemerkt haben, handelt es sich bei der Summe von 25 Millionen RMB nicht um einen besonders hohen Betrag, wenn es heute um Korruption geht. Es gibt selbst Dorfvorsteher, die größere Summen gestohlen haben!

Die staatlichen Medien zitierten im September aus sechs Anklagepunkten, die gegen Bo vorgebracht wurden, als er aus der KPC ausgeschlossen wurde. Darunter sind die Behinderung der Justiz und eine mögliche Beteiligung an der Ermordung des britischen Geschäftsmanns Neil Heywood, wofür Gu Kailai das Urteil der „bedingten Todesstrafe“ erhielt. Der Deal, mit dem Bo vor Gericht gestellt wurde, sah unter anderem auch vor, dass diese Strafe von sechs auf drei Jahre abgesenkt wurde.

Bo genießt immer noch erhebliche Rückendeckung, unterhält weiterhin Verbindungen zur Staatshierarchie (bzw. zur Fraktion um den ehemaligen Präsidenten Jiang Zemin innerhalb derselben), und es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Kräfte Druck auf die KP-Führung ausgeübt haben, vorsichtig vorzugehen (das Strafmaß zu begrenzen) und Bo Spielraum für die eigene Verteidigung zuzugestehen. Das hat Bo sich im Prozess zunutze gemacht. Es ist nämlich genauso möglich, dass Bo von eben diesen Schichten ermutigt worden ist, eine aufsässige Verteidigungsstrategie zu fahren, da der Machtkampf sich innerhalb der regierenden Partei auszuweiten scheint. Das beinhaltet auch, dass gegen den ehemaligen Sicherheits-Chef und Bo-Verbündeten Zhou Yongkang gegen verschiedene seiner Verbündeten Schritte eingeleitet wurden.

Obwohl Bo alle gegen ihn erhobenen Anklagen zurückgewiesen hat, ging seine Missachtung der sonst üblichen Gepflogenheiten nicht über bestimmte Grenzen hinaus. Es entlarvte die Korruption anderer führender PolitikerInnen nicht und unterließ es auch, die Regierung oder das Justizsystem direkt anzugreifen. Er behauptete zwar, dass ihm „Dinge angehängt“ worden seien, bezog dies aber nur auf die ZeugInnen der Anklage, wie z.B. den Geschäftsmann Tang Xiaolin. Dabei ist offenkundig, dass – sollte es sich bei dem Verfahren um einen Schauprozess gehandelt haben – die Strippenzieher dahinter in der Führung der KPC zu finden sind. Die Selbst-Zensur war möglicher Weise Teil eines vor dem Prozess getroffenen Deals. Und doch spiegelt sich darin wider, welche Position Bo innehat. Er ist einer der wichtigsten Kronprinzen und hat gegenüber dem diktatorischen Regime einen gewissen Selbsterhaltungstrieb – unabhängig von den derzeit amtierenden Führungsriege.

Auch in einer anderen wichtigen Frage wich Bo nicht vom offiziellen Drehbuch ab, da er sich nicht auf seine politischen Erfolge als Oberhaupt von Chongqing bezog. Dabei ist das der eigentliche Grund, um ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Der Mehrheit in der KPC-Führung widerstrebte sein pseudo-maoistischer Populismus, das sogenannte „Modell Chongqing“. Sie fürchteten, dass sich daraus ein Sammelbecken in Opposition zum Regime entwickeln würde. Bo lehnte es gelegentlich ab, sich den Regeln Pekings zu unterwerfen und bot sich in selbstdarstellerischer Weise für zentrale Ämter in Peking an. In den Augen der Zentralregierung waren das unverzeihliche Sünden.

Ein offenes und transparentes Verfahren?

Nach Prozessende bezeichneten die offiziellen und andere Medien Bos Verfahren als „überraschend transparent und offen“. Wenn wir das Verfahren gegen Bo allerdings mit dem Prozess gegen die sogenannte „Viererbande“ im Jahr 1981 vergleichen (damals ging es gegen die Witwe Mao Tse-tungs und drei „linke“ Mitangeklagte), zeigt der Fall Bo, dass die Justiz – was die Offenheit angeht – in der Tat Rückschritte gemacht hat. 1981 waren im Gerichtssaal 900 Personen anwesend, darunter 330 JournalistInnen. Die staatliche Nachrichtenagentur „Xinhua“ berichtete hingegen von nur 110 Personen, die das Verfahren gegen Bo im Saal beobachten konnten. Unter ihnen waren lediglich 19 handverlesene JournalistInnen. Internationale Medien waren nicht zugelassen. Das Regime unter Deng Xiaoping war 1981 sehr siegesgewiss, genoss es anfangs doch starken Rückhalt für sein pro-kapitalistisches Reformprogramm. Das steht im Kontrast zum heutigen Führungskader, der auf wesentlich wackeligeren Beinen steht.

Der Prozess gegen die „Viererbande“ wurde damals live übertragen. Wohingegen die „Live-Berichte“ in diesem Fall auf „Weibo“ (ein mit „Twitter“ vergleichbarer Dienst) gepostet wurden. Dabei kontrollierte das Regime, welche Nachrichten veröffentlicht wurden. Die Manipulation dieser „real time tweets“ wurde ausgeweitet, als der Prozess in Gang kam und die Anklageseite zusammenzubrechen begann. Mittlerweile haben Quellen, die im Gerichtssaal anwesend waren, mehrere bedeutende Fakten öffentlich gemacht, von denen man in den offiziellen „feeds“ auf dem „Weibo“-Blog nichts zu lesen bekam. So gibt es da die Behauptung Bos, dass seine Entscheidung, den ehemaligen Polizeichef von Chongqing, Wang Lijun, zu entlassen, mit der Zustimmung des Ministeriums für öffentliche Sicherheit in Peking unter Zhou Yongkang stattfand.

Das Regime wollte den Umfang der Enthüllungen begrenzt wissen, weil sie Angst haben, die Kontrolle zu verlieren – was dann ja auch tatsächlich eingetreten ist. Bos effektives Auftreten vor Gericht wird dem Regime eine wichtige Lehre sein, in Zukunft behutsamer vorzugehen, wenn es darum geht, selbst in begrenztem Maße eine demokratische Öffnung zuzulassen.

Auch das Urteil, das erst später gefällt und verkündet werden wird, wird dem Regime noch Probleme bereiten. Wenn Bo ein zu hartes Urteil bekommt (wie z.B. die Todesstrafe, was nicht wahrscheinlich ist), dann könnte das Proteste hervorrufen. Schließlich wies das Verfahren einige Mängel auf. Gleichzeitig gilt: Wenn Bo die Bedingungen des Deals gebrochen oder sie zumindest „ausgedehnt“ hat und nicht nur ganz bestimmte Punkte aus seinem Verfahren herausgegriffen hat – was wahrscheinlich ist –, dann wird das Regime seine Trotzhaltung bestrafen, nicht zuletzt um andere abzuschrecken. Bemerkenswert ist, dass der Staatsanwalt in seinem Schlussplädoyer eine „harte Bestrafung“ forderte, was im Gegensatz zu dem Korruptionsverfahren gegen den Konzernchef Liu Zhijun im Juni steht. Darin hatte die Staatsanwaltschaft „mildernde Umstände“ geltend gemacht, da Liu „kooperiert“ und seine Schuld eingestanden habe.

Zu erwarten ist wohl ein Urteil, dass sich irgendwo zwischen 15 bis 20 Jahren Haft und der „bedingten Todesstrafe“ bewegt. So war es auch im Falle der Angeklagten Liu und Gu, wobei es da um schwerwiegendere Straftaten ging. Die staatlichen Medien haben nun auch die Möglichkeit ins Spiel gebracht, dass es gegen Gu ein neues Verfahren wegen Korruption geben könnte, was bezeichnender Weise während ihres Verfahrens wegen Mord nie ins Spiel gebracht worden ist. Das könnte ein Bestandteil der Vergeltungsmaßnahmen gegen Bo sein, weil er nur mangelnde „Kooperationsbereitschaft“ gezeigt hat.

Xi und seine Anti-Korruptionskampagne

Der herrschende Staatspräsident und Generalsekretär der KPC, Xi Jinping, versucht zwischen den verschiedenen Fraktionen innerhalb der Staatsmacht zu einem Ausgleich zu kommen, um ein marktliberales ökonomisches „Reform“-Programm durchzusetzen. Gleichzeitig geht er hart gegen Forderungen nach einer Lockerung der politischen Kontrollmacht vor. Bo Xilai repräsentiert den Flügel der „Kommunistischen“ Partei, der mehr staatliche Kontrolle über die Wirtschaft möchte, während Peking für eine weitere Liberalisierung des Marktes steht.

Traditioneller Weise geht es bei Anti-Korruptionskampagnen nicht um die Bekämpfung der Korruption sonder vielmehr um ein Mittel des Machtkampf innerhalb der herrschenden Elite. Xi will die Fraktionsinteressen aufweichen, die seine Wirtschaftspolitik behindern könnten. Außerdem geht er davon aus, dass er von Seiten der Öffentlichkeit Unterstützung bekommt, wenn er den Anschein macht, hart gegen Korruption ins Feld zu ziehen. Sollte die Kampagne aber zu weit gehen, so ist das auch riskant und kann einen nicht mehr zu kontrollierenden Machtkampf entfesseln und das Regime in en Abgrund reißen. Hinzu kommt, dass die Massen ermutigt werden könnten, gegen korrupte VertreterInnen des Regimes vorzugehen, wie in der Provinz Shaanxi im Juli dieses Jahres geschehen, wo 10.000 Menschen vor dem Regierungsgebäude zusammenkamen und Maßnahmen gegen einen korrupten lokalen Behördenvertreter forderten.

Machtkampf geht weiter

Der Machtkampf wird mit dem Prozess gegen Bo nicht zu Ende sein. Es gibt Anzeichen dafür, dass sich die Auseinandersetzung um Machtansprüche ausbreiten wird wie ein Lauffeuer. Gegen zentrale Figuren, die mit Bo Xilai in Verbindung stehen, sind entweder Untersuchungen eingeleitet worden oder sie wurden bereits ihrer Ämter enthoben. Zhou Yongkang, der frühere Minister für öffentliche Sicherheit und sicherlich ein hochrangigerer Vertreter als Bo, könnte der nächste sein, der zu Fall gebracht wird. Zhou kontrolliert auch das Monopol in der Ölbranche, was ein weiterer Grund für Xi ist, ihn loszuwerden. Das könnte Teil einer Tendenz sein, mit der das staatliche Monopol gelockert und Investitionen von privater Hand mehr Spielraum eingeräumt werden soll.

Unter Zhou hat der Sicherheitsapparat astronomische Ausmaße angenommen und ein höheres Budget aufgewiesen als das Militär. Von daher könnten Schritte gegen Zhou auch für populistische Absichten von Xi herhalten, um den Anschein zu erregen, einem „Missbrauch“ der Polizeigewalt Einhalt gebieten zu wollen.

Seit Dezember 2012 sind in der Provinz Sichuan mehrere Geschäftsleute, die Verbindungen zu Zhou unterhielten, verhaftet worden. Zhou selbst wollte dort eigentlich Parteisekretär werden. Gegen den ehemaligen stellvertretenden Gouverneur von Sichuan, Guo Yongxiang, wurden im Juni dieses Jahres Untersuchungen eingeleitet. Vier andere führende Vertreter von CNPC, Chinas größtem Ölproduzenten, sind vor kurzem entlassen worden, und auch gegen sie wurden Untersuchungen eingeleitet. Zhou verkörpert die Spitze dieser Gruppe von Leuten, die Teil der „Ölbande“ sind. Der Begriff rührt daher, dass sie die staatlichen Ölkonzerne kontrollieren.

Eine weitere hochrangige Figur ist Jiang Jiemin, der am 1. September seines Amtes als Direktor der staatlichen „Kommission für Kapitalaufsicht und Administration“ (SASAC) enthoben wurde. Er wird „schwerer Disziplinarvergehen“ verdächtigt, wobei es sich um ein Synonym für „Korruption“ handelt. Jiang ist ehemaliger Sprecher der CNPC und steht Zhou nahe.

Der interne Machtkampf steht im Zusammenhang mit der Wirtschaftspolitik der neuen Führung unter Xi-Li. Sie wollen die persönlichen Interessen der verschiedenen Industriellen-Gruppen einschränken. Die Xi-Li-Führung will weniger Regulierung und private Investitionen, um die Wirtschaft drastisch zu verändern und – so hoffen sie – eine Schuldenkrise zu verhindern. Dabei scheinen sie den Ölsektor ins Visier genommen zu haben, eine Hochburg der „persönlichen Interessen“ und Trutzburg gegen diese Reformen, die zu einer Neustrukturierung führen sollen. Das alles soll dem Beispiel folgen, das im Eisenbahnministerium bereits zum tragen gekommen ist.

Die Schlüsselindustrien stehen unter der Kontrolle bestimmter ParteiführerInnen und Clans (wie im „Wikileaks“-Bericht von 2010 skizziert). Die Familie von Li Peng kontrolliert die Strombranche, die Familie von Wen Jiabao kontrolliert den äußerst profitablen Handel mit Steinen, während Zhou Yongkang und seine Verbündeten das Ölmonopol unter ihren Fittichen haben.

Es ist klar, dass Xi Jinping politische Reformen (eine teilweise Demokratisierung) abgelehnt hat und auf politischer Ebene in Wirklichkeit erneut hat hart durchgreifen lassen. Doch er und Li Keqiang tun ihr Bestes, um auf wirtschaftlicher Ebene tatsächlich Reformen durchzusetzen, auch wenn dies ebenfalls Konflikte mit anderen Fraktionen in der Staatsführung schüren wird, wenn davon bisher sicher geglaubte Interessen bedroht werden. Die Wirtschaftsreformen von Xi und Li zielen darauf ab, die im Staatsbesitz befindlichen Monopolbranchen zu öffnen, um sie stärker den „Markt-Kräften“ und privatem Kapital zu unterstellen. Die Vorgehen um die Anti-Korruptionskampagne, die an Intensität zunimmt, wird von Xi benutzt, um seine Kontrolle über das Regime zu festigen und den Widerstand der einzelnen Fraktionen gegen seine neue „Strukturanpassung“ zu begrenzen, die voraussichtlich beim dritten Plenum des herrschenden Zentralkomitees der Partei im November bekanntgegeben wird.

Jiang Jiemen mit eingerechnet sind in den vergangenen zehn Monaten drei Mitglieder des Zentralkomitees zu Fall gebracht worden. Die offiziellen Medien stellen dies als großartiges Ergebnis der Anti-Korruptionskampagne von Xi dar. In Wirklichkeit zeigt dies aber nur, wie sehr der Machtkampf an Schärfe zugenommen hat, der in der bevorstehenden Phase womöglich eskalieren könnte. Diese Auseinandersetzung an der Spitze der Politik in China steht für die sich verschärfenden Spannungen zwischen den gesellschaftlichen Klassen und eine Vertiefung der ökonomischen Krise.

SozialistInnen unterstützen keine der rivalisierenden Fraktionen und Gruppierungen innerhalb der „Chinesischen Kommunistischen Partei“, die sich allesamt einer kapitalistischen Politik und einem repressiven Herrschaftsanspruch verschrieben haben. Es ist dringend nötig, eine unabhängige Arbeiterklasse aufzubauen und zu einer wirklich sozialistischen Alternative zu kommen, da große politische Kontroversen bevorstehen.