Ein hoch politisiertes Weltsozialforum in Tunis

Foto: http://www.flickr.com/photos/mehr-demokratie/ CC BY-SA 2.0
Foto: http://www.flickr.com/photos/mehr-demokratie/ CC BY-SA 2.0

Dieser Artikel erschien zuerst am 12. April in englischer Sprache auf socialistworld.net

Vom 26. bis 30. März kamen rund 70.000 AktivistInnen aus aller Welt in Tunesien zum WSF zusammen

von Jeroen Demuynck, Mitarbeiter des Europaabgeordneten Paul Murphy von der „Socialist Party“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Irland)

Aufgrund des revolutionären Prozesses, den das Land zur Zeit durchmacht, war Tunesien als Austragungsort für das Weltsozialforum (WSF) eine gute Wahl. Auch dieser Umstand war ein Grund für die dort herrschende hoch politisierte Atmosphäre. Massenhaft waren tunesische AktivistInnen vertreten. Die UGTT, der tunesische Gewerkschaftsdachverband, war mit gut 1.000 AktivistInnen von der Partie.

Dass die konservativ-islamistische Partei „Ennahda“ an die Macht gekommen ist, hat dazu geführt, dass kein einziges der gravierenden Probleme, die ja erst der Grund für die revolutionäre Erhebung gewesen sind, gelöst worden ist.

Das CWI („Committee for a Workers´ International“ / „Komitee für eine Arbeiterinternationale“, dessen Sektion in Deutschland die SAV ist) nahm mit AktivistInnen aus sechs verschiedenen Ländern teil und unsere revolutionären, marxistischen Ansätze trafen auf ein breites und begeistertes Echo.

Die OrganisatorInnen des WSF hatten anfangs Zweifel an der Durchführbarkeit dieser Veranstaltung. Seit dem ersten Forum, das im brasilianischen Porto Alegre stattgefunden hat, war das Interesse nur noch begrenzt. Diese Sorge bestätigte sich in Tunis teilweise durch die nur mäßige Beteiligung von AktivistInnen aus Asien und Lateinamerika. Weitere Bedenken kamen auf, aufgrund der politisch instabilen Lage in Tunisien, vor allem seit dem politisch motivierten Mord an Chokri Belaïd, einem bekannten linken Oppositionellen.

Doch die große Teilnehmerzahl aus nordafrikanischen Ländern ist ein Beleg dafür, dass der revolutionäre Prozess in Tunesien und der angrenzenden Region weiterhin lebendig ist. Dieser beeinflusst immer noch die Vorstellungen vieler linker AktivistInnen und anderer Menschen.

Leider hatten einige Entscheidungen der OrganisatorInnen auch einen negativen Effekt, was zu Spannungen unter den tunesischen AktivistInnen führte. So mussten zum Beispiel Studierende zugunsten von WSF-TeilnehmerInnen ihre Wohnheime räumen, ohne dass davon jedeR mitbekommen hätte!

Der revolutionäre Prozess ist noch lange nicht zu Ende

Unter den tunesischen AktivistInnen herrscht das Gefühl vor, dass die Revolution erst noch zu Ende geführt werden muss. Der revolutionäre Prozess entwickelt sich immer noch weiter und ist aufgrund der scharfen politischen Polarisierung im Land überall sichtbar.

Die große Mehrheit der Bevölkerung identifiziert sich mit der Revolution. Aber zwei Jahre nach dem Sturz von Ben Ali ist der Alltag von zahlreichen Problemen geprägt. Die Arbeitslosenquote ist exorbitant hoch und eine ganze Generation junger Menschen ist ohne Zukunft. Für diejenigen, die einen Arbeitsplatz haben, gilt allzu oft, dass die Bedingungen dort sehr schlecht, die Löhne niedrig sind und häufig unterhalb des offiziellen Mindestlohns von 200 Dinar (100 Euro) im Monat liegen.

Die Koalitionsregierung wird angeführt von der reaktionären, islamistischen Partei „Ennahda“. Seit sie an der Macht ist, hat „Ennahda“ eine Politik verfolgt, die der der abgesetzten Diktatur sehr ähnlich ist: Es geht um Neoliberalismus mit verheerenden Folgen.

Vor kurzem hat die Regierung einen Kreditvertrag über rund 1,35 Milliarden Euro mit dem Internationalen Währungsfonds unterschrieben. Dafür hat sie zugesichert, staatliche Subventionen für Lebensmittel und Kraftstoff abzuschaffen, während die Lebensmittelpreise in der letzten Zeit gleichzeitig heftig gestiegen sind. Unterdessen beteiligen sich viele Unternehmen an einer Offensive für niedrigere Löhne und die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen.

Die „demokratische“ Fassade, hinter der sich die Regierung verschanzt, zerbröckelt, weil man nicht in der Lage ist, den gesellschaftlichen Erwartungen und den Forderungen der Bevölkerung zu entsprechen. Der Klassenkampf entwickelt sich, und die Antwort der Behörden darauf ist es, auf immer brutaler werdende Gesetzestexte zurückzugreifen. Dazu gehört auch, dass man die sogenannten „Ligen zum Schutz der Revolution“ haranzieht. Hierbei handelt es sich um reaktionäre, islamistische Milizen, die als Söldner von „Ennahda“ auftreten.

Nach der Ermordung von Chokri Belaïd strömte die Arbeiterbewegung in Scharen herbei, um an seiner Beerdigung teilzunehmen, und es gab einen 24-stündigen Generalstreik, der überall im Land befolgt wurde. Bedauerlicherweise verordnete sich der Gewerkschaftsbund UGTT selbst hinsichtlich der Verurteilung der Polizeigewalt einen Maulkorb. Der Streik hätte genutzt werden können, um mit dem Ziel, die Regierung zu stürzen, einen Aktionsplan zu entwickeln.

Solch ein Plan wäre auf breite gesellschaftliche Unterstützung gestoßen. Ein junger Aktivist drückte seine Empfindungen aus, als er uns sagte: „Wir werden ihnen nicht erlauben, unsere Revolution zu stehlen“. Dieser Eindruck wird von vielen geteilt und schlägt sich zum Teil auch in der hohen Zustimmung für die „Volksfront“ in Umfragen nieder. Die „Volksfront“ ist ein Bündnis linker Parteien und Organisationen. Sie kommt in den Wahlumfragen auf 20 Prozent.

Doch UGTT und die „Volksfront“ haben keine klare Strategie, mit der die Revolution vorangebracht werden könnte. Es sind so viele junge AktivistInnen auf der Suche nach Wegen, auf denen der revolutionäre Prozess beschleunigt werden kann und die reaktionäre herrschende Clique davon abgehalten wird, die Oberhand zu gewinnen.

Die Gier nach revolutionären Ideen

Die Suche nach Ideen, mit denen der revolutionäre Prozess verstärkt und beschleunigt werden kann (dazu zählte auch die Frage der Kontrolle der Produktionsmittel und des demokratischen Sozialismus), zeigte sich am Interesse, das unsere Flugblätter und das politische Material weckten, das wir beim WSF anboten. Nach dem ersten Tag hatten wir fast alle Zeitungen, Bücher und Broschüren verkauft.

Unsere Flugblätter zur Lage in Tunesien und über unsere Internationale, das CWI, sowie unsere Analysen zur Weltlage, die wir alle sowohl in arabischer, französischer als auch englischer Sprache mit dabei hatten, wurden begeistert angenommen.

Aus allen Bereichen des WSF kamen die Leute zu uns an den Stand. Viele von ihnen kehrten immer wieder zu Diskussionen mit uns zurück, nachdem sie unser politisches Material gelesen hatten. Die Diskussionen liefen häufig auf hohem politischen Niveau ab.

Großes Interesse weckte die Idee eskalierender Generalstreiks, bis die Regierung gestützt und durch eine Regierung aus ArbeiterInnen, junge Leute und den verarmten Schichten ersetzt wäre. Die meisten Diskussionen, die wir geführt haben, drehten sich um die Frage der Strategie, mit der man mit dem kapitalistischen System brechen und wie man vorankommen kann, um am Ende eine demokratisch-sozialistische Gesellschaft zu etablieren.

Dabei ging es nicht nur um die Frage des Sturzes einer durch und durch maroden Regierung, sondern auch um den Aufbau eines grundlegend anderen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems.

All das trug zu einer dynamischen und lebhaften Atmosphäre an unserem Stand bei. Es kam zu spontanen Treffen kleiner Gruppen von Leuten, die die Gespräche mit verfolgt hatten, jeweils mit eineR oder zwei unserer AktivistInnen. Das von uns organisierte Treffen, bei dem wir uns dem internationalen Kampf gegen den Kapitalismus widmeten, war mit 80 Personen gut besucht, obwohl wir Schwierigkeiten hatten, einen geeigneten Raum dafür zu finden. Dieses Treffen wurde auch live auf der Homepage des WSF übertragen, und 1.200 Menschen nahmen auf diesem Weg daran teil.

Das CWI wird alle Anstrengungen unternehmen, um in der Region noch viel präsenter zu sein. Wir werden dabei mithelfen, eine revolutionäre Bewegung aufzubauen, die mit einem sozialistischen Programm ausgerüstet und in der Lage ist, die revolutionären Hoffnungen zu erfüllen, die vor etwas mehr als zwei Jahren ihren Anfang nahmen.