Revolution 2.0

Tunesien und Ägypten: Neue Massenkämpfe

Vor zwei Jahren begann mit der Selbstverbrennung von Mohammed Bouazizi in Tunesien die Revolution, die zum Sturz von Ben Ali führte. Kurze Zeit später musste auch der ägyptische Diktator Hosni Mubarak sein Amt räumen. Der Sturz der Diktatoren bedeutete aber nicht den Sieg der Revolutionen in diesen beiden nordafrikanischen Ländern. Die neuen Regierungen aus Parteien des rechten politischen Islams haben an den grundlegenden sozialen Verhältnissen nichts geändert und wurden zum Ende des Jahres 2012 mit neuen Massenprotesten konfrontiert.

von Torsten Sting

Die Gründe für das Erwachen der Unterdrückten waren in beiden Ländern nahezu identisch. Jahrzehntelange Repression durch die Diktaturen in Kombination mit Armut und Perspektivlosigkeit. Dennoch war es kein Zufall, dass sich diese historische Entwicklung zu einem Zeitpunkt ergab, als die tiefste Krise der Weltwirtschaft seit achtzig Jahren grassierte. Die Folgen waren gerade für die ex-kolonialen Länder besonders gravierend. Die wirtschaftliche Lage verschlechterte sich, die Arbeitslosigkeit stieg weiter an. Verschärft wurde die soziale Not durch deutlich steigende Lebensmittelpreise. Es bedurfte des berühmten letzten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Der Freitod des arbeitslosen tunesischen Ingenieurs, der als Händler arbeiten musste, wurde zum Symbol für ganz Nordafrika und die arabische Welt. Als die Behörden sich weigerten ihm eine Lizenz für sein Tun auszustellen, sah er für sich und seine Familie keine Möglichkeit mehr ein menschenwürdiges Dasein zu erreichen. Lieber wollte er sterben, als in bitterer Not zu leben.

Binnen weniger Tage wurde Tunesien von einer mächtigen Welle der Erhebung heimgesucht.

Jahrzehntelang hatte der pro-westliche Diktator Ben Ali alles im Griff. Polizei und Geheimdienst erstickten jeden Ansatz von Widerstand im Keim. Plötzlich war die Angst vor den Schergen des Regimes wie weggeblasen. Mit Zuckerbrot und Peitsche versuchte der greise Herrscher seine Haut zu retten. Einerseits schoss die Polizei in die Menge, anderseits versprach er „Reformen“. Doch die Zeit für Spielchen war vorbei.

Nach wenigen Wochen türmte der Machthaber mit Bergen voll Gold nach Saudi-Arabien. Nach dem Ausbruch der Unruhen wollte Frankreichs damaliger Präsident Sarkozy dem alten Kumpanen gar noch bei der Repression helfen. Dies half jedoch alles nichts, das morsche Regime, dessen Staatspartei Mitglied der Sozialistischen Internationale (der auch die SPD angehört) war, brach unter dem wütenden Ansturm der ArbeiterInnen und verarmten Massen zusammen. Eine zentrale Rolle spielte dabei der Gewerkschaftsverband UGTT. Dessen Führung war zwar über Jahre staatstreu gewesen, aber an seiner Basis hatten sich kämpferische Strukturen gebildet, die die Organisation als Werkzeug in der Revolution nutzbar machten. Unter dem Druck der Ereignisse wurde dieser der Bezugspunkt für die revoltierenden Menschen. Unter seiner Führung wurden große Demonstrationen und Streiks organisiert.

Bei den ersten freien Wahlen gelang es der islamisch geprägten Partei Ennahda, eine Mehrheit zu erringen. Dies hatte in dem säkularisiertesten Land der Region jedoch nur zum Teil etwas mit der Religion zu tun. Natürlich spielt der muslimische Glaube eine wichtige Rolle, den die Islamisten geschickt für sich zu nutzen versuchten. Der Hauptaspekt ist jedoch die politische Schwäche der Linken und Arbeiterbewegung, die keine eigenständige, politische Kraft anzubieten hatten. Eine kämpferische Gewerkschaft ist gut, kann aber letztlich eine Arbeiterpartei nicht ersetzen, weil ihr Programm ausgehend von ihrer Rolle als primär überbetriebliche Interessenvertretung der Lohnabhängigen, im Regelfall begrenzter ist. In dieses Vakuum stießen die Islamisten, die sich als Verteidiger der Revolution ausgaben, deren Kader unter dem alten Regime im Gefängnis saßen – obwohl sie beim Sturz Ben Alis kaum eine Rolle spielten. Zudem präsentierten sie sich als soziale „Kümmererpartei“ die in den Stadtteilen den Armen hilft.

Soziale Zuspitzung

Die neue Staatsspitze hat es nicht vermocht, die schlechte wirtschaftliche und soziale Lage nennenswert zu verbessern. Tunesien ist besonders vom Tourismus abhängig, dieser ist seit Beginn der Revolution deutlich zurückgegangen.

Die Armut nimmt infolge der hohen Arbeitslosigkeit, weiter zu. Speziell Jugendliche die einen hohen Anteil an der Bevölkerung ausmachen, sehen für sich keine Perspektive. Ein Teil resigniert und sucht sein Glück in Westeuropa. Doch angesichts der von EULEX bewachten „Festung Europa“ und der Krise auf dem Kontinent ist dieser Weg gefährlich und unsicher. Die, die bleiben, kämpfen für ihre Zukunft.

Immer wieder ist es seit dem Ende der Ben Ali-Herrschaft zu größeren Demonstrationen, Streiks und lokalen Aufständen gekommen. Die Hauptkraft des politischen Islam, die „Ennahda“-Partei und die gefährlich anwachsenden Kräfte der reaktionären Salafisten haben Milizen gebildet, die vorgeben „die Revolution zu verteidigen“, in Wahrheit aber gegen die Kinder der Revolution mit Gewalt vorgehen. Nicht zuletzt AktivistInnen und Büros der UGTT wurden von ihnen überfallen.

Dies ist der Hintergrund der wieder zunehmenden Konflikte in der Gesellschaft zum Ende des letzten Jahres. Bei diesen Auseinandersetzungen spielte wieder der UGTT eine zentrale Rolle. Der Druck stieg auf die – mittlerweile neu gewählte und von etwas kämpferischeren Kräften zusammen gesetzte – Gewerkschaftsführung nun auf gesamtstaatlicher Ebene die Konfrontation mit den Herrschenden zu suchen. Für den 13. Dezember wurde ein Generalstreik angesetzt, für den es in der Masse der Bevölkerung große Unterstützung gab. Aufgeschreckt durch die Bedrohung des ersten Vollstreiks seit über dreißig Jahren, traf sich die Regierung mit den Führern der UGTT. Obwohl es nicht einmal zu nennenswerten Zugeständnissen kam, sagten die Gewerkschaftsspitzen am Abend des 12. Dezember, wenige Stunden vor Beginn des Streiks, diesen ab! Aber der Geist ist aus der Flasche und die Frage des Generalstreiks nun auf der Agenda.

Die Führer der UGTT setzen auf Kompromisse mit den vermeintlich moderateren Kräften in der Regierung und scheuen einen weitergehenden Konflikt, da sie weder über ein alternatives Programm zur Lösung der Probleme verfügen und Angst davor haben, dass ihnen die Kontrolle über die Bewegung entgleitet.

Die zentrale Aufgabe der nächsten Zeit wird darin liegen, kämpferische und links stehende AktivistInnen in der UGTT zu einer Opposition zusammen zu bringen, um dem Anpassungskurs der Führung eine kämpferische Alternative entgegnen zu können. Zum anderen ist der Aufbau einer sozialistischen Arbeiterpartei zwingend nötig um sowohl den islamischen Kräften, als auch den Liberalen den Kampf ansagen zu können.

Ägypten

Von zentraler Bedeutung ist die Entwicklung in Ägypten. Aufgrund seiner Größe und als Schnittstelle zwischen Nordafrika und Arabien hat das Land am Nil immer wieder Trends gesetzt. Der zähe Kampf um die weitere Entwicklung der Revolution kann eine Vorbildfunktion für andere Länder haben.

Muslimbrüder

Es gibt offenkundige Parallelen zu der Entwicklung in Tunesien. Nach dem Sturz des Diktators Husni Mubarak, jahrzehntelang treuer Handlanger der Imperialisten und Partner Israels, erstarkten die Kräfte des politischen Islam. Sie beteiligten sich erst spät an der Bewegung gegen das alte Regime unter dem Druck der eigenen Basis, die vorwiegend in den Armenvierteln der Großstädte und auf dem Land zu finden ist. Bei den Parlamentswahlen gingen sie als stärkste Partei hervor. Die Präsidentschaftswahlen brachten mit dem Sieg von Mohammed Mursi einen führenden Repräsentanten der „Partei für Freiheit und Gerechtigkeit“ (FJP, politischer Ableger der Muslimbrüder) in das höchste Staatsamt.

Diese Entwicklung ist Produkt der Schwäche der politischen Linken und Arbeiterbewegung. Beim Sturz der Diktatur hatte die städtische Arbeiterschaft noch eine entscheidende Rolle gespielt. Ausgehend von den Streikbewegungen, die es in den letzten Jahren der Mubarak-Herrschaft gab, bildeten sich Netzwerke wie die „Bewegung des 6.April“, die von jungen Menschen geprägt wurden und sich nach links entwickelten. Diese spielten bei der Mobilisierung im Januar und Februar 2011 eine wichtige Rolle. Die verschiedenen Ansätze, die es auf der Linken gab, vermochten es jedoch nicht in der Kürze der Zeit (zwischen Sturz von Mubarak und den Neuwahlen lagen nur wenige Monate) eine gemeinsame Kandidatur zu bewerkstelligen. Bei den Wahlen waren somit die Kräfte des alten Regimes mit ihren bewährten Seilschaften und die Kräfte der Muslimbrüder deutlich im Vorteil. Zwar waren letztere unter Mubarak offiziell verboten, wurden aber quasi geduldet um die sich regende Opposition kontrollieren zu können. Die islamischen Kräfte hatten über viele Jahre Strukturen gebildet, auf die sie nun zurückgreifen konnten. Im Gegensatz zu den liberalen Kräften betonten sie neben der Rolle des Islam, die soziale Frage und konnten – mangels bedeutender Alternativen von links- die Wahlen für sich entscheiden und die staatliche Macht auf sich vereinen. Mursi profitierte zudem davon, dass ihm in der zweiten Runde mit Ahmed Schatik ein Ministerpräsident des alten Regimes gegenüberstand. Viele wählten angesichts dessen, lieber den Vertreter der Muslimbrüder. Im ersten Wahlgang hatten über zwanzig Prozent den am meisten mit der Revolution verbundenen nasseristischen Kandidaten Hamdeeb Sabbahi gewählt, was das Potenzial für eine vereinigte linke Kandidatur zum Ausdruck brachte.

Deal mit dem Militär

In den ersten Wochen nach seinem Amtsantritt lieferte sich Mursi einen Machtkampf mit dem Militär, dass immer wieder die Muskeln spielen lies. Im Endeffekt einigten sich die islamischen Kräfte und die Streitkräfte auf einen Kompromiss. Letztere akzeptieren die politischen Machtverhältnisse. Die FJP lässt die gesellschaftliche und ökonomische Stellung des Militärs unberührt, obwohl es starke Stimmen in der Revolution gab, gerade diese zurecht zu stutzen. Die Offizierskaste verfügt damit nach wie vor über wichtige Unternehmen und damit auch über erheblichen wirtschaftlichen und politischen Einfluss.

Machtprobe um Verfassung

Zum Ende des letzten Jahres gab es um den Entwurf für eine Verfassung eine neue Zuspitzung der Lage in Ägypten. Die Verfassungsgebende Versammlung – dominiert von den islamischen Kräften – erarbeitete einen reaktionären Entwurf, der sogar Verschlechterungen gegenüber der Mubarak-Ära beinhaltete. Die Scharia (islamisches Recht) wird zur Grundlage der Gesetzgebung gemacht. Auch wenn die Anwendung der Scharia letztlich von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen abhängt – sie gilt zum Beispiel in Saudi-Arabien und Pakistan, die Anwendung und Interpretation unterscheidet sich aber deutlich – werden Rechte von Frauen und der religiösen Minderheiten infrage gestellt. Zudem ist der Schutz des Staatsoberhauptes vor Kritik so gefasst, dass sich viele Linke, Gewerkschafter oder Journalisten im Gefängnis wiedersehen werden – seit Mursis Amtsübernahme liegen die Anklagen wegen „Beleidigung des Präsidenten“ höher als zu Mubaraks Zeiten. Daraufhin zogen sich viele der säkularen und nicht-islamischen Kräfte (Liberale, gemäßigte Linke, Kopten) aus der Verfassungsgebenden Versammmlung zurück.

Mursi verknüpfte die Verkündung des Entwurfes mit einem Dekret, das ihm diktatorische Vollmachten bis zur Abstimmung über die Verfassung gab. Eine Welle der Empörung war die Folge.

Wieder strömten Hunderttausende auf den legendären Tahrir-Platz. Nur waren diesmal Mursi und seine Partei Anlass des Zorns. Parteibüros der Muslimbrüder wurden gestürmt, ohne dass Polizei oder Militär einschritten. Die Richter, welche die anstehende Abstimmung überwachen sollten, gingen in den Streik. Mehrere Berater der Präsidenten kündigten ihren Rücktritt an, das Militär drohte mit einem Eingreifen, sollte sich die Lage nicht beruhigen.

Binnen kurzer Zeit war Mursi von der Offensive in die Defensive geraten. Er wurde nun von zwei Seiten in die Zange genommen. Vertreter des alten Regimes, die im Staatsapparat noch immer zahlreich vertreten sind, und die zu einer neuen Massenbewegung revitalisierten Armen und Beschäftigten.

Die islamischen Kräfte mobilisierten zu Demonstrationen, um Mursi zu unterstützen. Diese waren ähnlich gewaltig wie die der Gegner. Dies zeigt, dass die Muslimbrüder noch immer über eine Massenbasis verfügen. Die Bruderschaft lässt ihre Unterstützer zunehmend mit Gewalt gegen die RevolutionärInnen vorgehen. Dies hat die ersten Todesopfer hervorgebracht und stellt eine ernste Warnung für die Arbeiterbewegung dar.

Unter diesem Druck beeilte sich der Präsident die Abstimmung zur Verfassung schnell abzuhalten. Diese brachte ihm zwar eine Mehrheit von 63,8 Prozent, aber die sehr geringe Wahlbeteiligung von knapp 33 Prozent (obwohl es etliche Berichte darüber gibt, dass die Muslimbrüder Wähler unter Druck gesetzt haben, dafür zu stimmen) drückt die einsetzende Entfremdung gegenüber Mursi und der Muslimbruderschaft aus. Für die Massen der ägyptischen ArbeiterInnen und Jugendlichen steht die soziale Frage weiterhin im Mittelpunkt. Löst die Muslimbruderschaft die sozialen und wirtschaftlichen Probleme nicht, wird sie mit weiteren Massenprotesten konfrontiert sein und könnte sie die Macht schnell wieder verlieren. Schon jetzt ist die Unterstützung Mursis in Meinungsumfragen von 78 auf 57 Prozent (Angaben von Anfang Dezember) gefallen. Die Salafisten haben sich gespalten und zum Jahreswechsel ist die Gründung einer dritten Partei des rechten politischen Islam angekündigt worden.

Aufgaben der Linken

In den westlichen Medien wird die Auseinandersetzung in Ägypten gerne als eine zwischen islamistischen und säkularen Kräften dargestellt. Tatsächlich vollzieht sich gleichzeitig ein Machtkampf innerhalb der herrschenden Elite und ein Klassenkampf zwischen oben und unten. SozialistInnen und die Arbeiterbewegung müssen in dieser Situation eine unabhängige Position einnehmen und sollten sich keiner Seite der herrschenden Elite unterordnen. In der „Nationalen Rettungsfront“ haben sich nun manche linke Organisationen mit bürgerlich-liberalen Kräften wie Mohammed el-Baradei und dem früheren Mubarak-Außenminister Amr Mussa zusammen geschlossen. Während es richtig und notwendig sein kann, gemeinsam mit Kräften der Rettungsfront gegen die Aushöhlung demokratischer Rechte durch Mursi auf die Straße zu gehen, wäre es für SozialistInnen falsch sich diesem Bündnis anzuschließen. Denn el-Baradei und Moussa vertreten letztlich ebenso wie die Muslimbrüder die Interessen des Kapitalismus und sind arbeiterfeindlich. Ebenso falsch war es aber, dass einige Linke, wie die Revolutionären SozialistInnen (RS, ägyptische Sektion der Internationalen Sozialistischen Tendenz, mit der in Deutschland die Gruppe Marx21 verbunden ist) bei der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen zur Wahl von Mursi aufgerufen und über Jahre eine zu unkritische Position gegenüber den Muslimbrüdern eingenommen haben. Damals bezeichneten sie Mursis Politik als „reformistisch“ und erweckten den Eindruck, die Arbeiterklasse habe unter seiner Präsidentschaft etwas zu gewinnen. Heute kritisieren die Revolutionären SozialistInnen die Muslimbruderschaft als „wahre Bedrohung für die Revolution und die nationale Einheit“ und nennen diese und die Überreste des alten Regimes „zwei Seiten derselben Medaille“. Die RS sind die stärkste Organisation der revolutionären Linken in Ägypten und ihnen könnte eine entscheidende Rolle beim Aufbau der Arbeiterbewegung zukommen. Doch mit einer solchen Zickzack-Politik, in der Fehler nicht offen bilanziert werden, laufen sie Gefahr, die große Chance zum Aufbau einer revolutionär-marxistischen Kraft zu vergeben. Wenn sie nun von „nationaler Einheit“ sprechen, erweckt das den Eindruck, dass sie den Bogen in die andere Richtung überspannen und sich in der Bewegung gegen Mursi nicht ausreichend von den bürgerlich-liberalen Kräften abgrenzen. Nötig ist aber die Einheit der Arbeiterklasse und der Aufbau einer Arbeiterpartei mit sozialistischem Programm.

Wirtschaftliche Probleme

Seit dem Abdanken von Mubarak gleitet die ägyptische Wirtschaft immer mehr in eine tiefe Krise ab. Aufgrund der politischen Instabilität investieren nur wenige internationale Konzerne. Der Tourismus, eine der wichtigsten Einnahmequellen des Staates ist deutlich zusammengeschrumpft. Damit verschärfen sich die Haushaltsprobleme von Ägypten. Die Devisenreserven sind seit Anfang 2011 von damals sechzig Milliarden Dollar auf heute etwa 15 Milliarden Dollar gesunken (Spiegel Online, 30.12.12). Die Ratingagentur Standard & Poor‘s senkte die Kreditwürdigkeit des Landes herab. Dies wird zur Folge haben, dass sich die Kredite verteuern werden. Vor dem Hintergrund der Unruhen, hat der Internationale Währungsfonds (IWF) die Verhandlungen über eine Kreditlinie von 4,8 Milliarden Dollar zunächst ausgesetzt.

Angesichts der immer bedrohlicheren ökonomischen Situation, wächst der Druck auf die Staatsführung Farbe zu bekennen. Mit welchen Mitteln will sie der Lage Herr werden? Premierminister Hisham Qandeel will „für ein wirtschaftsfreundliches Klima (…) sorgen (…) um Ägypten zum Ziel für direkte ausländische Investitionen“ zu machen.

Angriff auf Gewerkschaften

Die immer wieder aufflammenden Arbeitskämpfe und die neu entstandenen Gewerkschaften stellen daher ein Hindernis für dieses Ziel dar. Angesichts der globalen Wirtschaftskrise, hat das Land aus Sicht der Herrschenden nur dann eine Chance, Konzerne anzuziehen, wenn es weiterhin Hungerlöhne und möglichst schwache Arbeiterorganisationen zu bieten hat. Daher ist es kein Zufall, dass Mursi im Windschatten der Verfassungskrise ein Dekret erließ, welches einen Frontalangriff auf die Gewerkschaften darstellt. Demnach soll pro Betrieb nur noch eine Gewerkschaft zugelassen sein. Ziel sei, so die scheinheilige Begründung der Regierung die „Einheit der Gewerkschaftsbewegung“. In Wirklichkeit soll damit verhindert werden, dass dem alten Dachverband ETUF, der unter Mubarak ein Büttel der Diktatur war, mit den kämpferischen Gewerkschaften eine ernsthafte Konkurrenz erwächst. Parallel dazu, versuchen sich die Muslimbrüder den alten Verband unter den Nagel zu reißen. Diejenigen Vorstandsmitglieder die älter als 60 Jahre alt sind, wurden von ihrem Posten abgesetzt und mit Mursis Gefolgsleuten besetzt.

Instabilität

Wie wichtig der Aufbau unabhängiger Strukturen der Arbeiterbewegung ist, zeigt sich daran, dass wichtige Subventionen für Butangas und Strom gekürzt werden sollten. Quasi als Zeichen des guten Willens gegenüber dem IWF. Dies hätte für die arme Bevölkerung eine weitere deutliche Verschlechterung ihrer Lebenssituation mit sich gebracht. Es ist ein Zeichen für die Möglichkeit einer Spaltung der Muslimbruderschaft entlang von Klassenlinien, dass Mursi sich gegen den Widerstand seiner Partei nicht durchsetzen konnte und die Pläne zurückzog. Offensichtlich haben Teile der Muslimbrüder Angst vor einer neuerlichen Massenbewegung.

Arbeiterbewegung

Letztgenanntes zeigt die Möglichkeiten für die Linke und Gewerkschaften auf, bedeutende Teile der ArbeiterInnen, Armen und armen Bauern, die das islamische Lager bisher unterstützten, mit einem kämpferischen und sozialistischen Programm in der nächsten Zeit für sich zu gewinnen. Der Aufbau einer sozialistischen Arbeiterpartei und kämpferischen Gewerkschaften wird einige Zeit brauchen. Unmittelbar ist es wichtig, die verschiedenen Streikbewegungen zusammenzuführen und so den Druck auf Unternehmer und Regierung zu erhöhen. Gegen die zunehmende Gefahr durch militante Teile des politischen Islam, muss organisierter Selbstschutz über alle politischen Unterschiede auf der Linken hinweg, aufgebaut werden. Zentral bleibt ein Programm, wie die Wirtschaft Ägyptens und die Lage der Masse der ArbeiterInnen und BäuerInnen verbessert werden kann.

Sozialistische Perspektive

Unter den Bedingungen einer schwachen nationalen, herrschenden Klasse, werden Ägypten, Tunesien und der gesamte arabische Raum (mit Ausnahme der reichen Ölstaaten) Spielball der Imperialisten und ihrer Konzerne bleiben. Dies wird durch die vorherrschende wirtschaftliche Krise in weiten Teilen der Welt und erst recht mit einer möglichen Verschärfung in diesem Jahr, keine Änderung hervorrufen. Stabile wirtschaftliche und politische Verhältnisse sind reine Utopie. Angesichts dessen, sind die Herrschenden unfähig demokratische Reformen oder gar sozialen Fortschritt zu bewerkstelligen. Eine neue Verfassung muss von VertreterInnen der einfachen Bevölkerung ausgearbeitet werden und müsste das Recht auf Arbeit, ausreichendes Einkommen, Bildung, Gesundheitsversorgung, Religionsfreiheit und demokratische Rechte beinhalten. Das ist mit der Herrschaft einer Minderheit von Kapitaleignern und der imperialistischen Dominanz des Landes nicht machbar.

Es bleibt die Aufgabe der ArbeiterInnen zusammen mit den kleinen BäuerInnen den Bruch mit dem Kapitalismus zu vollziehen. Statt dem internationalen Kapital den roten Teppich auszurollen, müssen eine revolutionäre Regierung der ArbeiterInnen und Unterdrückten errichtet, und die wichtigen Industrien verstaatlicht und demokratisch durch die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften kontrolliert werden. Durch breite gesellschaftliche Debatte kann ein Plan ausgearbeitet werden, wie sich die Gesellschaft entwickeln, in welchen Bereichen investiert werden soll und wie die Lage der Armen verbessert werden kann. Dies zu erreichen, ist nur mittels einer Revolution möglich, bei der die Entmachtung der heimischen Kapitalisten, Großgrundbesitzer und der Offizierskaste mit einem Appell an die Nachbarländer und die Arbeiterklasse der Industrieländer einhergeht, ebenfalls in diese Richtung zu marschieren und konkrete, internationale Solidarität zu leisten. So kann der Anfang gemacht werden, dass Tor zu einer besseren Zukunft in der arabischen Welt aufzustoßen.

Torsten Sting ist Mitglied der SAV und aktiv in der Gewerkschaft ver.di. Er lebt in Rostock.

 

Übersicht zu Organisationen und Personen

Tunesien

Ennahda – Wichtigste Partei des politischen Islam. Unter dem Regime von Ben Ali verfolgt, stellt sie nun den Ministerpräsidenten des Landes.

UGTT – Gewerkschaftsdachverband, unter Ben Ali staatsnah, unter dem Druck der Massen wichtige Rolle bei dessen Sturz und nun im Kampf gegen die neue, von den islamischen Kräften gebildete Regierung.

Ägypten

Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP) – Politischer Arm der Muslimbrüder, führende Partei des politischen Islam in Ägypten.

Nationale Rettungsfront (NSF) – Bündnis der Opposition. Wichtigste Strömungen sind die Liberalen mit Mohamed eEl-Baradei, dem ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Amr Moussa und den linken Nasseristen um Hamdeeb Sabbahi.

Mohamed El-Baradei – westlich orientierter Vertreter der liberalen Kräfte, ehemaliger Chef der UN – Atomenergiebehörde.

Amr Moussa – war Außenminister unter Mubarak, dann Vorsitzender der arabischen Liga

Hamdeeb Sabbahi – Führender Kopf der linken Nasseristen, d.h. Anhänger des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser. Dieser lehnte sich mit seiner Politik an der stalinistischen UDSSR an. Ohne mit dem Kapitalismus zu brechen, verstaatlichte er wichtige Schlüsselindustrien und den Suez-Kanal, was ihn in Konflikt mit dem Imperialismus und Israel brachte. Galt als Verfechter des „Panarabismus“, d.h. der Vereinigung der arabischen Länder und einer Politik, mit dem Ziel den jüdischen Staat Israel zu zerstören.

ETUF – Ägyptischer Gewerkschaftsbund, Werkzeug von Mubarak. Unter den neuen Gegebenheiten versuchen die Muslimbrüder Einfluss auf diesen zu gewinnen. Aus Unzufriedenheit mit der Rolle des ETUF, haben sich hunderte unabhängige Basisgewerkschaften gebildet.

Bewegung des 6.April – Im Jahre 2008 gab es einen bedeutenden Streik in der Industrieregion von Makhalla al-Kuhra. Zur Unterstützung gründeten AktivistInnen eine Facebook-Gruppe. Daraus entwickelte sich ein Netzwerk von jungen Menschen, die auch beim Sturz von Mubarak eine wichtige Rolle spielten. Danach gab es eine Spaltung in verschiedene Organisationen.

Salafisten – Besonders reaktionäre Strömung im politischen Islam. Steht für weitgehende Entrechtung der Frauen und mittelalterliche Moralvorstellungen, inspiriert und gesponsert von Saudi-Arabien. Salafisten gehen mit Gewalt gegen Linke, GewerkschafterInnen und Frauen vor, die sich nicht ihren Vorstellungen entsprechend verhalten.

Kopten – etwa drei Millionen Anhänger starke christliche Minderheit in Ägypten. Unter Mubarak konnten sie recht ungestört ihren Glauben praktizieren. Viele Kopten waren dennoch wichtiger Teil der Massenbewegung gegen das alte Regime. Speziell salafistische Kräfte bedrängen Christen und andere Minderheiten zunehmend. Durch die neue Verfassung fürchten die Kopten um die Möglichkeit ihren Glauben ausleben zu können.