Wendepunkt im syrischen Bürgerkrieg?

Vorbemerkung: Beim folgenden Artikel handelt es sich um die Übersetzung einer Analyse des syrischen Bürgerkriegs, die zuerst am 8. Januar 2013 in der „Offensiv“, der Wochenzeitung der schwedischen Sektion des CWI veröffentlicht wurde.

Das Vorgehen des Assad-Regimes führt zu unendlichem Leid unter der Zivilbevölkerung und fordert unzählige Todesopfer. Gleichzeitig verüben die Rebellen Massaker, die – ganz abgesehen von den Opfern – zu weiterer gesellschaftlicher Spaltung führen. Eine imperialistische Intervention muss dennoch abgelehnt werden.

von Arne Johansson, „Rättvisepartiet Socialisterna“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Schweden)

Die Vereinigten Staaten von Amerika, die EU-Mächte und mehr als 130 weitere Regierungen haben das vor kurzem gebildete Oppositionsbündnis in Syrien, die „National Coalition of Syrian revolutionaries and opposition forces“ (SNC; dt.: „Nationale Allianz der Revolutionäre und oppositionellen Kräfte Syriens“), anerkannt. Damit wird die SNC – in den Worten des US-Präsidenten Obama – nun als die einzig legitime und „die einzelnen Kräfte und ihre Standpunkte hinreichend einbindende und repräsentative“ Vertretung des syrischen Volkes betrachtet.

Die Anerkennung der SNC, auf die man sich am 12. Dezember im marokkanischen Marrakesch während des Treffens der „Freunde Syriens“ einigte (und dies auch umgehend öffentlich machte), zeigt, dass die westlichen Mächte jetzt dazu bereit sind, ihre politischen, wirtschaftlichen und militärischen Maßnahmen auszuweiten, um einen Regimewechsel in Syrien zu erzielen. Dieser soll demnach so weit als möglich unter der Kontrolle und im Sinne des Westens stattfinden. Das heißt, dass man die bisherige indirekte Einflussnahme vermittels der verbündeten Staaten der USA in der Region (namentlich die Türkei, Saudi Arabien und Katar) nicht länger als ausreichend erachtet.

Weit weniger Aufmerksamkeit fand der Umstand, dass die USA gleichzeitig dazu übergegangen sind, die Gruppierung „al-Nusra-Front“ – eine militärisch sehr effektive, gut ausgerüstete und gefürchtete salafistische Miliz – als terroristische Organisation einzustufen.

Dass gleichzeitig mehr als 100 Oppositionsgruppen in Syrien unter dem Motto „Wir alle sind al-Nusra“ gegen die Neudefinition dieser Gruppe durch die USA demonstriert haben, hat die ethnischen und religiösen Minderheiten Syriens erschaudern lassen. Sie fürchten, von eben jenen zu BürgerInnen zweiter Klasse degradiert zu werden, die aus dem Land einen sunnitisch-islamistischen Staat machen wollen, sobald das Regime gestürzt worden ist.

Die Anerkennung der SNC durch den Westen fällt zusammen mit einer für das Assad-Regime immer schwieriger werdenden militärischen Situation. So verlor man erst vor kurzem zwei Militärbasen in der Nähe von Aleppo, der größten Stadt des Landes. Aber selbst wenn zum Beispiel der NATO- Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen meint, dass das Regime unter al-Assad schon in den Seilen hängt, und sogar der stellvertretende Außenminister Russlands, Bogdanow, anerkannt hat, dass ein Sieg der Opposition „nicht ausgeschlossen werden kann“, gibt es einige Gründe, die dafür sprechen, dass das Morden noch lange andauern wird.

Militärische Eskalation

Die Entscheidung der USA, Deutschlands und der Niederlande, sechs „Patriot“-Abwehreinheiten zusammen mit 400 US-amerikanischen, ebenso vielen deutschen und 360 niederländischen SoldatInnen entlang der türkisch-syrischen Grenze zu stationieren, unterstreicht den Ernst der Lage. Hinzu kommt, dass noch mehr Kriegsschiffe vor die syrische Küste beordert worden sind.

Obwohl sie mit einer Warnung an das Assad-Regime verbunden wurde, man solle nicht die Chemiewaffen einsetzen, deren Besitz Syrien unterstellt wird, wird bisher immer noch behauptet, dass die erhöhte Militärpräsenz nur auf „Gründe der Selbstverteidigung“ zurückzuführen ist. Trotz der Tatsache, dass das politische Klima in den Vereinigten Staaten kaum dafür spricht, eine Invasion mit Bodentruppen gegen das Regime in Syrien durchzuführen, wie man es im Falle des Irak und Afghanistans gemacht hat, oder auch „nur“ eine Luftwaffenoperation wie gegen Libyen, so ist die Richtung doch klar vorgegeben: Das verstärkte Auffahren von militärischem Gerät und Truppen deutet auf irgendeine Form militärischer Intervention hin.

Der Plan eines sogenannten „humanitären Korridors“ in die von den Rebellen kontrollierten Gebiete wird dementiert, obgleich der britische Premierminister Cameron behauptet, dass die Botschaft an Assad lauten müsse: „Kein Mittel ist ausgeschlossen“.

Der Einsatz von NATO-Truppen an der syrischen Grenze hat mehrere Gründe. Einer davon ist sicherlich, das real existierende Risiko einer Ausweitung des syrischen Bürgerkriegs auf die Türkei, den Libanon und andere benachbarte Staaten zu begrenzen. Zudem erleichtert die Stationierung auch den Kontakt zur Zentrale des Militärkommandos, das die SNC derzeit im türkischen Antalya aufbaut. Auch ist eine Infiltration und Kontrolle der syrischen Rebellen so leichter zu machen. Befehlsübermittler, Spione und „Spezialeinheiten“ sind mit dieser Vorhut einfacher an Ort und Stelle zu bringen. Und zu „schlechterletzt“ sei noch angefügt, dass jedwede Form der direkten Intervention nach Syrien natürlich wesentlich einfacher durchzuführen ist, sollte dies aus Sicht der USA doch noch notwendig werden.

Die westlichen Mächte wollen so schnell wie möglich einen Regimewechsel in Syrien. Dabei haben sie angesichts des Erstarkens der Kräfte des politischen Islam mittlerweile gute Gründe, sich Sorgen zu machen. Was diese religiösen Kräfte angeht, haben sie den Geist praktisch aus der Flasche gelassen. Und dieser Geist könnte den Boden bereiten für jahrelang anhaltenden inneren Unfrieden, die weitere Destabilisierung des gesamten Nahen Ostens und eine neue Flüchtlingswelle von ChristInnen und AlewitInnen.

Patrick Cockburn äußerte sich in der brit. Tageszeitung „The Independent“ zu einem der grässlichsten Videos, „das jeder Syrer gesehen hat“ und in dem zwei gefangen genommene Offiziere der alawitischen Minderheit von syrischen Aufständischen enthauptet werden. Am schlimmsten dabei sei die Szene gewesen, in der gezeigt wird, wie ein 12- oder 13-jähriger Junge gezwungen wird, den Kopf eines Mannes mittleren Alters abzuschneiden.

Das Regime von al-Assad ist für das mehrheitlich unter ZivilistInnen angerichtete Leid, die zivilen Opfer und Zerstörungen verantwortlich, zu denen es aufgrund der Bombardierung von Wohnhäusern und Wohnvierteln gekommen ist, in denen sich bewaffnete Widerstandskräfte festgesetzt haben. Allerdings sorgen die Untaten der Rebellen dafür, dass die vom Regime vorgebrachten Rechtfertigungen für eben dieses grausame Vorgehen mehr und mehr bestätigt werden.

In einem Bericht, der auf der christlichen Webseite „Agenzia Fides“ veröffentlicht wurde, beschreibt ein junger syrischer Christ, der sich selbst mit der Opposition identifiziert, die schrecklichen Szenen, als Milizen der „Freien Syrischen Armee“ (Rebellen; Anm. d. Übers.) in Ras al-Ein kurdische Militärposten angegriffen haben und „wie Eroberer und nicht wie Befreier“ in die Stadt einmarschiert sind. „Wer hat diesen Milizen den Befehl gegeben, auf Grundlage der religiösen Zugehörigkeit Morde zu begehen?“, fügte er fragend hinzu.

Diesem Bericht zufolge sind alle ChristInnen unmittelbar danach aus ihren Häusern vertrieben worden. „Kurden, Araber und Christen – mehr als 70.000 Menschen – sind geflohen. Die meisten davon nach Hassake. Innerhalb weniger Stunden ist eine Geisterstadt entstanden. Dabei hat es die Alawiten am schlimmsten getroffen. Sie wurden nur deshalb getötet, weil sie Alawiten sind. Unter den Opfern war auch ein Lehrer, der die Stadt so sehr liebte, und die Kinder aller Familien schon jahrelang unterrichtet hatte. Einige Milizangehörige spürten ihn auf, nahmen ihn fest und töteten ihn vor den Augen seiner Frau und seiner Kinder, die verschleppt wurden.“

Die „Assyrian Democratic Organization“ (ADO) drängt auch die SNC dazu, „mit Nachdruck zu handeln, um die zunehmenden Spannungen zwischen Arabern und Kurden in Mesopotamien einzudämmen, was negative Auswirkungen auf Frieden und Einheit im gesellschaftlichen Gefüge hat.“

Sektiererische Mutation

In den schwedischen Medien wird von alledem nichts oder nur sehr wenig berichtet. Hier wird in grob vereinfachter Manier ein rosarotes Bild gemalt vom Desaster, das sich in Syrien abspielt. Selbst einige der unkritischsten UnterstützerInnen der bewaffneten Aufständischen in Syrien, die man innerhalb der schwedischen Linken finden kann und zu denen bedauerlicher Weise auch der Blog der sozialistischen Altforderen Kildén und Åsmans gehört (die auch Mitglieder des „Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale“ sind), können den größer werdenden Machteinfluss der islamistischen Kräfte in Syrien nicht länger ignorieren. Sie versuchen die Gefahren herunter zu spielen und die USA sowie die westlichen Mächte zu beschuldigen, sie hätten die moderateren Gruppen mit Waffen ausgerüstet!

Doch ohne unabhängige Kämpfe der Arbeiterklasse – selbst auf dem Level, wie wir es in Tunesien oder Ägypten erleben konnten – bleibt diese sektiererische Mutation einer anfangs wahrhaften, heute aber größtenteils gedämpften und zerstreuten Massenbewegung gegen die Diktatur leider die logische Folge eines in die Länge gezogenen Bürgerkriegs, der hauptsächlich von einigen der reaktionärsten und undemokratischsten Kräfte der Welt (namentlich Saudi-Arabiens, Katars und die hinter ihnen stehenden imperialistischen Mächte) finanziert wird.

Wie dramatisch sich der Djihadismus von al-Nusra ausbreitet, wird von Kildén und Åsman ebenfalls relativiert. Sie wenden ein, dass dieser in erster Linie eine anziehende Wirkung auf die jungen Leute in Syrien hat, weil sie bessere Waffen und höhere militärische Schlagkraft haben als andere Milizen. Die religiöse Überzeugung spiele demzufolge eine untergeordnete Rolle. Trotz der blutigen Erfahrungen und der grausamen Praxis, mit der alte Kämpfer von al-Nusra nach der von den USA angeführten Invasion 2003 aus dem Bürgerkrieg im Irak zurückgekehrt sind, versuchen Kildén und Åsman ihren LeserInnen zu versichern, dass al-Nusra seine Wurzeln in Syrien hat und nicht zum weltweit operierenden Djihadisten-Netz von al Kaida gegen die „Ungläubigen“ weltweit gehört . Obwohl Kildén und Åsman immer dazu aufgerufen haben, der syrischen Opposition mit mehr militärischer Hilfe von Seiten des westlichen Imperialismus beizustehen, kritisieren sie nun die Beschreibung der USA, die die al-Nusra-Einheiten als terroristisch einstuft. Das sei „kontraproduktiv“! Das soll man mal den dreißig Prozent syrischen KurdInnen, AlawitInnen und ChristInnen erzählen, die – wenn überhaupt – hoffen dürfen, als BürgerInnen zweiter Klasse in einem islamistisch-sunnitischen Staat existieren zu können.

Nur wenig Aufmerksamkeit wird den kurdischen Erfolgen zu Teil, die ihre Kontrolle über die eigenen Territorien konsolidieren konnten und es abgelehnt haben, sich dem Assad-Regime oder den verschiedenen Milizen der „Free Syrian Army“ anzuschließen.

„Die kämpferischsten Teile der Opposition haben nicht wirklich ein politisches Programm für die Zeit nach dem Sturz von Assad und je mehr sich dieser Prozess in die Länge zieht, umso sektiererischer wird die Lage“, kommentierte die ehemalige Botschafterin Schwedens in Syrien, Viola Furubjelke.

Obgleich das Regime unter Druck steht, gibt es in dieser Situation kein eindeutiges Zeichen, wonach es plötzlich auseinanderbrechen oder implodieren würde. Und dies ist der Fall seit die herrschende alawitische Elite keine Alternative mehr sieht, außer den Kampf ums Überleben und bis zum bitteren Ende. Aus denselben Gründen dürfen wir einen erbärmlichen Winter in Syrien erwarten, der sich durch einen lang anhaltenden und verzewifelt geführten Grabenkrieg auszeichnen wird, in dem verschiedene religiöse und ethnische Gruppen ausgestoßen oder zur Emigration gezwungen sein werden, um in einer Reihe von Enklaven nach Schutz zu suchen, die von eigenen sektiererischen Milizen gesichert werden. Aber auch auf anderem Wege werden viele das Land als Flüchtlinge verlassen.

Dass das Regime gemeint ist, heißt nicht, dass die Milizen der „Free Syrian Army“ überall als Befreier angesehen werden oder dass man überall meint, es lohne sich, für deren Einheiten das eigene Leben aufs Spiel zu setzen. Wie selbst die Nachrichtenagentur al-Jazeera aus Katar berichtet, machen viele BewohnerInnen Aleppos die Übergriffe des Regimes auf die Rebellen dafür verantwortlich, die diese sich in den Wohnvierteln vor Ort festsetzen können, wo sie in der Lage sind, die Macht zu übernehmen und zu bleiben.

„Unser Land wird zerstört. Wenn das die Revolution sein soll, dann habe ich sie nicht gewollt. Ich betone, das ich das Regime nicht unterstütze. Es hat uns unterdrückt. Aber jetzt werden wir hundert Mal mehr unterdrückt“, sagt ein Gemüsehändler aus Aleppo.

Reaktionärer Charakter des Krieges

Klassenbewusste ArbeiterInnen und SozialistInnen können keine der beiden Seiten in diesem reaktionären Krieg unterstützen: weder das dem Untergang geweihte Assad-Regime noch die Milizen, die entweder direkt von religiösen Extremisten angeführt werden oder sich auf irgendeine Weise mit dem Imperialismus des Westens oder den reaktionären arabischen Staaten verbunden haben, die die Rebellen in Syrien finanziell unterstützen.

Die Aufgabe besteht folglich darin Bündnisse zu bilden, um den gegenseitigen Schutz und die Sicherheit aller bedrohten Wohngebiete und jeder Person zu gewährleisten, die es ablehnt, sich an diesem sektiererischen Krieg zu beteiligen – über alle religiösen und ethnischen Grenzen hinweg. Außerdem brauchen die arbeitenden Menschen ihre eigene unabhängige Bewegung – sowohl gegen Assad als auch die sektiererischen Kräfte und den Imperialismus.

Auf dieser Grundlage werden die syrischen ArbeiterInnen, AktivistInnen für Demokratie und die jungen Menschen früher oder später mit dem Aufbau einer neuen sozialistischen Bewegung beginnen, die sich an den Beispielen in Tunesien und Ägypten orientiert und Bezug nimmt auf die kämpfenden ArbeiterInnen dort. Diese Bewegung wird dann auch Position beziehen gegen reaktionäre Regime, den religiösen Fundamentalismus und den Imperialismus.