Vor 20 Jahren: Gründung von Jugend gegen Rassismus in Europa (JRE)

Interview mit dem ehemaligen JRE-Bundessprecher Sascha Stanicic

Auf Initiative von Mitgliedern des Komitees für eine Arbeiterinternationale (CWI), dem in Deutschland die SAV angehört, demonstrierten am 24. Oktober 1992 40.000 Menschen, vor allem Jugendliche, in Brüssel gegen Rassismus. Das war die erste internationale Demonstration gegen Rechts. Daraus enstand die Initiative „Jugend gegen Rassismus in Europa“ (JRE). Bei der Gründungskonferenz waren 200 Jugendliche und die Organisation entwickelte sich schnell zur erfolgreichsten antifaschistischen Initiative in Deutschland mit Gruppen in über 50 Städten.

JRE ist 1992 europaweit in kurzer Zeit entstanden. Wie war das schnelle Anwachsen zu erklären?

Hintergrund der Gründung von JRE war ein europaweites Anwachsen von faschistischen Aktivitäten. Insbesondere in Deutschland hat es die Pogrome und Mordanschläge von Rostock, Mölln und Solingen gegeben. Und vor diesem Hintergrund hatte sich eine Massenbewegung gerade unter Jugendlichen, aber auch in breiten Teilen der Gesamtbevölkerung gegen faschistischen Terror und gegen das Anwachsen faschistischer Organisationen entwickelt. JRE hat sich dabei als die dynamischste, aktivste und ein politisches Programm aufweisende Jugendorganisation schnell entwickeln können.

Wie hat sich denn JRE von anderen antifaschistischen Gruppen, wie den autonomen Antifas, unterschieden?

JRE hat sich letztendlich durch drei zentrale Aspekte hervorgehoben. Der erste war der internationale Aspekt. Wir haben gesagt, die Faschisten sind international auf dem Vormarsch und international verschärft sich der staatliche Rassismus durch diskriminierende Ausländergesetze, Abschiebungen usw. Also müssen wir dem international etwas entgegen setzen.

Das hat seinen Anfang genommen mit einer internationalen Demonstration am 24. Oktober 1992 in Brüssel, an der über 40.000 Jugendliche aus elf verschiedenen Ländern teilnahmen. Wir haben immer dem internationalen Austausch und internationalen Kampagnen einen sehr großen Stellenwert zugemessen. Wir haben z. B. 1994 ein internationales Zeltlager in Deutschland organisiert, an dem 1.200 Jugendliche teilnahmen.

Zweitens hat JRE gesagt, dass die Ursachen von Faschismus und Rassismus bekämpft werden müssen, und diese auch klar in der kapitalistischen Gesellschaft benannt. Wir haben es nicht bei moralischen Appellen gegen die Unmenschlichkeit der Nazis belassen, sondern erklärt, dass das Anwachsen der Nazis in einem direkten Zusammenhang steht zu den sozialen Problemen, den gesellschaftlichen Widersprüchen, Massenarbeitslosigkeit, Sozialabbau, Zukunftsängsten.

Und drittens waren wir der Meinung, dass man die Nazis konfrontieren muss, dass man getreu dem Motto „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen“ den Nazis nicht die demokratischen Rechte gewähren darf, die sie abschaffen wollen. So haben wir es immer wieder geschafft, in direkten Massenmobilisierungen gegen faschistische Aktivitäten solche zu verhindern. Dabei bestand allerdings ein wichtiger Unterschied zur autonomen Strategie: dass wir immer versucht haben, solche Aktionen mit größtmöglicher Öffentlichkeit vorzubereiten und breite Teile der Jugend und der Arbeiterklasse zu mobilisieren.

Kannst du ein paar Beispiele von Aktionen nennen, die JRE durchgeführt hat?

Es gab auf örtlicher Ebene unzählige Aktionen, wo wir immer wieder faschistische Versammlungen, Aufmärsche, Infostände verhindert haben. Ich erinnere mich daran, dass die JRE-Gruppe Lindau sich als „Junge Rechtsextremisten (JRE)“ getarnt in eine Versammlung der Republikaner gemogelt hat und diese dann zum Abbruch bringen konnte. In Kassel haben wir eine Demonstration mit 1.800 TeilnehmerInnen organisiert, die an den Wohnungen von Nazi-Kadern vorbei zogen und diese geoutet haben. In Köln haben wir unter dem Motto „Keine Brötchen für Manfred Rhous“ den Ober-Nazi der Stadt in seinem Stadtteil isoliert. Wir haben Stadtteilarbeit in ostdeutschen Plattenbausiedlungen gemacht. Wir haben aber auch in Siegen an der Organisierung eines Schüler- und Azubistreiks gegen die Schließung eines Stahlwerks teilgenommen und in Stuttgart Proteste gegen Kürzungen bei Jugendhäusern organisiert. Die sicherlich erfolgreichsten Aktionen war die Verhinderung von zwei Bundesparteitagen der NPD im Jahr 1993.

Wir haben auch antifaschistische Konzerte organisiert. Die britische JRE hat sogar einen CD-Sampler herausgebracht, für den Bands wie Chumbawamba, Jamiroquai und Björk Songs zur Verfügung gestellt haben.

Fast schon legendär war der JRE-Ordner- und Sanitätsdienst für Demonstrationen. Dies war uns sehr wichtig, weil wir bei Demonstrationen sowohl den Nazis als auch der oft gegen die AntifaschistInnen agierenden Polizei möglichst geschlossen und organisiert entgegen treten wollten, auch um einen effektiven Schutz für alle DemonstrationsteilnehmerInnen gewähren zu können.

Wie hat JRE die Zusammenarbeit mit anderen Gruppen organisiert und mit wem hat JRE zusammengearbeitet?

Für uns war immer klar, dass wir mit allen Teilen der Linken und der Arbeiterbewegung gegen die Faschisten kämpfen und mobilisieren wollen. Wir haben ganz viele Aktionsbündnisse mit Gewerkschaftsjugenden, mit anderen antifaschistischen Gruppierungen, mit linken Organisationen gebildet. An der JRE-Bundeskonferenz 1994 hat zum Beispiel der Bundesjugendsekretär der Chemiegewerkschaft teilgenommen. Als die Bundesregierung 1994 ein Verbot von JRE diskutierte gab es sehr viel Solidarität nicht zuletzt aus der DGB-Jugend.

Wie viel Jugendliche hat JRE denn auf dem Höhepunkt in Deutschland und europaweit organisiert?

JRE war eher so etwas wie eine organisierte Bewegung als eine feste Organisation. Wir hatten auf dem Höhepunkt in Deutschland in gut fünfzig Städten Gruppen, die sich uns angeschlossen hatten. Dort waren mit Sicherheit weit über 1.000 Jugendliche mehr oder weniger fest organisiert. Aber ich denke, dass wir europaweit viele Zehntausende organisiert und aktiviert haben.

Brauchen wir heute eine neue JRE oder muss man andere Wege gehen?

JRE agierte zu einer Zeit, als die Arbeiterbewegung und die Linke im allgemeinen sehr in der Defensive waren. Viele Jugendliche, die sich in den achtziger Jahren noch in sozialistischen Jugendorganisationen engagiert hätten, waren nur noch bereit, zu einzelnen Themen wie eben Faschismus und Rassismus aktiv zu werden. Daran haben wir angesetzt und versucht durch Bildungsarbeit und Diskussionen die gesellschaftlichen Ursachen von Rassismus und Faschismus zu erklären. Heute ist die soziale Krise viel tiefer als vor 20 Jahren. Antifaschistische Aktivitäten müssen eng verzahnt werden mit dem Kampf gegen die kapitalistische Krise, Sozialkürzungen und Entlassungen. Angesichts der Euro-Krise besteht die Gefahr eines wachsenden Nationalismus. Dieser kann nur durch eine überzeugende linke und internationalistische Antwort auf die Krise des Kapitalismus gestoppt werden. Viele Jugendliche, aber auch ältere ArbeitnehmerInnen und Erwerbslose sehen diese Zusammenhänge. Heute besteht wieder die Chance, starke Organisationen aufzubauen, die den Kampf gegen den Faschismus und den Kampf gegen das Kapital führen. Die Partei DIE LINKE und für Jugendliche insbesondere der Jugendverband Linksjugend [’solid] bieten einen Ansatz eine Kraft aufzubauen, die als Alternative zu den etablierten Parteien auch die Faschisten zurück drängen kann. Das hebt die Bedeutung breiter antifaschistischer Kampagnen durch Gewerkschaften, linke Organisationen und soziale Bewegungen nicht auf, vor allem wenn es darum geht Naziaufmärsche und andere faschistische Aktivitäten zu verhindern. Aber der faschistische Sumpf kann nur trocken gelegt werden, wenn die Ursachen bekämpft werden. Und diese liegen im kapitalistischen System.

Von JRE sollte aber vor allem eines mitgenommen werden: der Widerstand muss international sein. Heute gilt das angesichts der Weltkrise des Kapitalismus noch mehr als vor zwanzig Jahren.

Dieses Interview erschien in der Broschüre „Stoppt Nazis und Rassisten. Ein Programm für den Kampf gegen Rechts“, die hier bestellt werden kann.