Kirchliche Dumpinglöhne

Studie der Hans-Böckler-Stiftung: Diakonie nutzt „Dritten Weg“als Konkurrenzvorteil auf dem Gesundheitsmarkt. Ausgründungen, Leiharbeit und Tarifflucht üblich

Ver.di bekommt im Kampf um Tarifverträge und das Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen argumentative Schützenhilfe. Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung veröffentlichte in der vergangenen Woche eine Studie, wonach die diakonischen Einrichtungen der evangelischen Kirche das dort geltende Sonderrecht („Dritter Weg“) „ aktiv als Geschäfts- und Wettbewerbsstrategie“nutzen, um sich gegen die sozialwirtschaftlichen Konkurrenten durchzusetzen. Wie andere Unternehmen auf dem „Gesundheitsmarkt“auch, versucht die Diakonie demnach mehr oder weniger flächendeckend, die Kosten durch Ausgliederungen, Leiharbeit, Werkverträge und unter Umgehung selbst der kircheneigenen Lohnregelungen zu senken. Fazit: Die „christliche Dienstgemeinschaft“, mit der die Verweigerung von Tarifverträgen und des Streikrechts begründet wird, existiert de facto nicht.

von Daniel Behruzi

Seit Monaten macht ver.di mit einer Öffentlichkeitskampagne, örtlichen Arbeitsniederlegungen und einem zentralen Protest bei der Synode der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) im November vergangenen Jahres Druck für Tarifverträge in der Diakonie. Angesichts zumeist schlecht organisierter und kaum streikerfahrener Belegschaften ist das kein leichtes Unterfangen. Hinzu kommt, dass die Kirchenoberen ihren Beschäftigten das Grundrecht auf Streik absprechen. Am 20. November wird das Bundesarbeitsgericht in dieser Frage entscheiden. Die von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Dahme (Fachhochschule Magdeburg), Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt (Evangelische Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe), Dr. Gertrud Kühnlein und Dr. Anna Stefaniak (Sozialforschungsstelle der TU Dortmund) erstellte Studie liefert nun stichhaltige Argumente für die Anliegen der Gewerkschaft. Denn sie zeigt: Die Kirchen verhalten sich wie alle anderen Unternehmen auch, wenn es darum geht, den im Gesundheitswesen allgegenwärtigen Kostendruck an ihre Beschäftigten weiterzugeben. Darum – so die logische Schlussfolgerung – sollten den Kirchenmitarbeitern auch dieselben Rechte wie allen anderen Beschäftigten zustehen.

In den bundesweit 27000 diakonischen Einrichtungen gelten keine Tarifverträge. Die Arbeits- und Einkommensbedingungen der insgesamt rund 435000 Beschäftigten werden stattdessen in sogenannten Arbeitsvertraglichen Richtlinien (AVR) festgelegt. In vergangenen Zeiten orientierten sich diese größtenteils am Bundesangestelltentarifvertrag (BAT) des öffentlichen Dienstes. Doch heute zählen die Forscher in den 22 evangelischen Landeskirchen „knapp zwei Dutzend“AVR – viele davon deutlich unterhalb des Gehaltsniveaus im öffentlichen Dienst. Noch unübersichtlicher wird die Situation der Studie zufolge dadurch, dass Einrichtungen zum Teil auch die Richtlinien anderer Landeskirchen anwenden können, wenn sie ihnen günstiger erscheinen. Zudem enthalten viele AVR weitgehende Öffnungsklauseln, so dass die Betriebe fast nach Belieben von den selbst gesetzten Regeln abweichen können. Zum Teil wird Neueingestellten auch nur ein Individualarbeitsvertrag angeboten, zu schlechteren Bedingungen als denen in den eigentlich gültigen Richtlinien vorgesehenen. Das geht, weil die Mitarbeitervertretungen (MAV) kirchlicher Einrichtungen im Gegensatz zu Betriebsräten keinen rechtlichen Anspruch auf Prüfung individueller Arbeitsverträge haben. Auch sonst haben sie deutlich weniger Mitbestimmungsrechte als die nach dem Betriebsverfassungsgesetz gewählten Gremien.

Diese Sonderstellung nutzen große Teile der Diakonie weidlich aus, berichten die Wissenschaftler. Zudem setzten die kirchlichen ebenso wie andere Gesundheitskonzerne auf Lohndumping. So seien Ausgliederungen zur Senkung der Arbeitskosten „flächendeckend verbreitet“. Häufig werde Küchen- oder Reinigungspersonal in externe Servicegesellschaften überführt. Auch Leiharbeit sei eine „übliche Praxis«, die allerdings mittlerweile an Bedeutung verloren habe – u.a., weil auch diakonische Einrichtungen angesichts der gesellschaftlichen Ächtung der Leiharbeit zunehmend auf schlecht bezahlte Werkverträge ausweichen. Das Fazit der Wissenschaftler: „Gelebte Dienstgemeinschaft existiert in der Praxis nicht.“Diese folge „in der sozialunternehmerischen Wirklichkeit den Gesetzmäßigkeiten der gesamten Sozialbranche, und die ist von den herrschenden Refinanzierungsbedingungen bestimmt und nicht von Glaubens- bzw. Wertebesonderheiten“.

„Wenn diakonische Einrichtungen wie normale Wirtschaftsunternehmen am Markt agieren, müssen sie sich auch den gleichen Regeln unterwerfen. Dazu gehört das Recht der Beschäftigten auf Tarifverträge und das Recht auf Streik, um diese Verträge durchsetzen zu können“, kommentierte ver.di-Bundesvorstandsmitglied Ellen Paschke die Untersuchungsergebnisse. Die Beispiele und Belege der Studie entsprächen exakt den Erfahrungen von Gewerkschaftern im Alltag kirchlicher Einrichtungen. „Es ist nicht länger hinnehmbar, dass die Kirchen im Arbeits- und Tarifrecht außerhalb der allgemein geltenden Gesetze agieren und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter so zu Beschäftigten zweiter Klasse machen“, betonte Paschke.

Als „Bremse der herrschenden Konkurrenzbedingungen“ könne ein „Tarifvertrag Soziales“ wirken, so die Autoren der Studie. Mit einem für alle Betriebe des Gesundheits- und Sozialwesens geltenden Tarifwerk könnte dem Dumpingwettbewerb in der Branche tatsächlich ein Ende gesetzt werden – allerdings nur, wenn diese Regelung für allgemeinverbindlich erklärt würde. Das wiederum geht nur, wenn ver.di auch in den Kirchen reguläre Tarifverträge durchsetzt, da diese einen Großteil der betroffenen Einrichtungen betreiben. Es ist daher im Interesse auch der Beschäftigten in staatlichen, freigemeinnützigen und privaten Trägern, ihren bei Diakonie und Caritas beschäftigten Kollegen in der laufenden Auseinandersetzung beizustehen.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Tageszeitung junge Welt am 17. Juli 2012