Euro-Krise: Wäre eine europäische Ratingagentur ein Fortschritt?

Kurt F. Domnik / pixelio.de

Ratingagenturen entstanden im 19. Jahrhundert in den USA, um im Interesse von potenziellen Aktionären die Erfolgsaussichten der privaten Eisenbahngesellschaften zu bewerten. In den folgenden Jahrzehnten dehnten sie ihren Tätigkeitsbereich aus. Seit den siebziger Jahren werden sie von den Unternehmen bezahlt, deren Wertpapiere sie bewerten, nicht mehr von den potenziellen KäuferInnen.

In den Neunzigern nahm ihre Macht sprunghaft zu. Das Abkommen Basel II (seinen Namen hat es, weil Basel der Sitz der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, der „Zentralbank der Zentralbanken“, ist) machte die Bewertungen der Ratingagenturen zum Maßstab der Eigenkapitalquoten der Banken: je riskanter die Ratingagenturen zum Beispiel Kredite einschätzen, mit desto mehr Eigenkapital müssen sie abgesichert sein. Regierungen und Zentralbanken nahmen die Bewertungen durch Ratingagenturen in ihre Regelwerke auf.

Dabei haben die Ratingagenturen oft durch positive Bewertungen zur Entstehung von Spekulationsblasen (beispielsweise der dotcom-Blase der Neunziger oder der subprime-Hypotheken-Blase) beigetragen beziehungsweise Unternehmen wie dem Energiekonzern Enron oder der Lehman-Brothers-Bank bis unmittelbar vor ihre Pleite Top-Ratings gegeben.

Im Frühjahr 2011 kam bei bürgerlichen Politikern in der Europäischen Union die Forderung nach einer europäischen Ratingagentur auf, die den großen Drei (Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch) Konkurrenz machen solle. Das EU-Parlament fasste am 8. Juni 2011 den Beschluss, die Gründung einer privaten Stiftung zu prüfen. Als im Januar Standard & Poor’s die Ratings von gleich neun EU-Staaten herabstufte, wurde die Forderung noch einmal lauter. Die Unternehmensberatung Roland Berger ergriff die Initiative für die Gründung einer Ratingagentur, die 2013 ihre Tätigkeit aufnehmen will.

Neben diesen Regierungs- und Unternehmensplänen gibt es auch Forderungen von LINKE-Politikern, die an Stelle einer privaten Stiftung für eine öffentliche Einrichtung plädieren.

Rating-Oligopol und Würgegriff der Finanzmärkte brechen

Harald Koch, Sangerhausen, Bundestagsabgeordneter der LINKEN, Mitglied im Finanz- und Verteidigungsausschuss

Ratingagenturen, ausschließlich privatwirtschaftlich organisiert, haben einen maßgeblichen Anteil an der Finanzkrise. Durch Fehleinschätzungen von Kreditausfallrisiken und schöngefärbte Ratings trugen sie zur Instabilität auf den Finanzmärkten bei. Mit der Aufblähung der Finanzmärkte ab 1990 nahm die Bedeutung und Macht der Ratingagenturen zu, durch neue Regeln im Banken- und Versicherungssektor (Basel II und Solvency I) wurde sie weiter gestärkt.

Ratingagenturen sollen die Kreditwürdigkeit von Schuldnern beurteilen. Ihr Urteil bestimmt nicht nur Finanzierungskosten für Unternehmen oder Staaten, sondern ist sogar Richtschnur in Gesetzgebungsprozessen. Auf dem Rating-Markt gibt es ein Oligopol von drei US-amerikanischen Ratingagenturen: Moody’s, Standard & Poor’s und die kleinere Agentur Fitch sind marktbeherrschend (kontrollieren circa 90 Prozent des globalen Ratingmarktes).

Ratingagenturen haben nicht nur zu viel Macht. Sie haben in ihren Urteilen kläglich versagt und rechtfertigen nicht das in sie gesetzte blinde Vertrauen.

Kurz zu den Hauptkritikpunkten an Ratingagenturen: Ratingagenturen machen ihre Bewertungsmethoden und die Datengrundlage nicht ausreichend transparent. Ein volkswirtschaftlicher Blick bleibt außen vor. Ratingagenturen sind ferner überfordert durch die Schwemme an neuen, hochkomplexen Produkten, die bewertet werden sollen. Sie hecheln nur hinterher. Daher plädiere ich schon im Vorfeld für einen Finanz-TÜV. Ratingagenturen üben Druck auf Regierungen aus (Rating-Abwertung!) und haben Einfluss auf deren Wirtschaftspolitik. Ratingagenturen agieren zudem meist prozyklisch: Sie werten Länder/Unternehmen in Boomphasen oft zu stark auf – und in Rezessionsphasen zu stark ab. Schließlich bestehen Interessenkonflikte und Korruption: Ratingagenturen helfen durch ihre Beratungen, finanziellen „Giftmüll“ zum gesunden Labsal umzuetikettieren. Und dann bewerten sie selbst dieses Produkt noch wie vom Auftraggeber gewünscht. Sogar wenn Ratingagenturen die Beratung von zu ratenden Unternehmen untersagt wird (vergleiche EU-Ratingverordnung), kann diese Regelung umgangen werden. Das Rating-Unternehmen muss nur in das Beratungsgeschäft einerseits und die Bewertungstätigkeit andererseits aufgespalten und dann unter einer gemeinsamen Holding zusammengefasst werden. Die profitorientierten Rating-Unternehmen haben also Druck, den Unternehmen „entgegenkommen“ zu müssen. Ansonsten: Auftragsverluste. Ratings fallen möglichst positiv aus, damit der Kunde nicht zur Konkurrenz abwandert. Vom „Prinzip des vorsichtigen Kaufmanns“ ist nichts zu spüren!

Dies lässt Befürchtungen keimen, dass Ratingagenturen teils bewusst eingesetzt werden, um Unruhe, Volatilität und Kapitalflucht auf den Finanzmärkten sowie um den Verfall ganzer Volkswirtschaften voranzutreiben, nur damit der Profit von weltweit agierenden Großzockern in schwindelerregende Dimensionen getrieben wird.

Das alles bedeutet: Wir müssen das Rating-Oligopol brechen! Die Bedeutung der Bewertung durch Ratingagenturen muss minimiert werden. Es kann nicht sein, dass drei private Agenturen über die Zukunft ganzer Volkswirtschaften entscheiden.

Banken müssen folglich wieder lernen, sich nicht blind auf externe Ratings zu verlassen, sondern solide Bewertungen der Kreditanträge eigenmächtig mit großem Sachverstand und kritischem Blick zu erstellen. Um die drei großen Ratingagenturen teilweise zu entmachten und Meinungsvielfalt zu stärken, fordere ich die Gründung einer öffentlichen europäischen Ratingagentur.

Eine solche Ratingagentur unterliegt nicht mehr dem Gewinnstreben. Interessenkonflikte und Tendenzen hin zu optimistischen Prognosen gäbe es wohl seltener. Gesamtwirtschaftliche Umstände könnten eher Berücksichtigung finden. Bei Problemen und Schieflagen stellt diese Agentur ihre Erkenntnisse auf dem kurzen Dienstweg den Finanzaufsichtsbehörden zur Verfügung, die somit ihrerseits früher und effektiver eingreifen könnten. Eine nicht-profitorientierte Agentur sollte regionale Expertise haben, um so exaktere Bewertungen abgeben zu können. Eine nachhaltige Risikobewertung muss eingeführt, neben dem Ausfallrisiko müssen soziale, ökologische und ethische Risiken berücksichtigt werden.

Doch eine öffentliche europäische Ratingagentur ist kein Zaubermittel: Die Gründung einer öffentlichen europäischen Ratingagentur ist keine Kurzfristmaßnahme zur Lösung der Finanzkrise. Zudem läge derzeit der Verdacht nahe, dass die Gründung nur erfolgte, um europäische Staaten höherzustufen („Gefälligkeitsbewertungen“). Außerdem würde man den zahlreichen kleineren Rating-Agenturen das Überleben weiter erschweren und nur einen vierten Akteur dem Oligopol hinzufügen. Die Ratingbedeutung als solche muss jedoch abnehmen!

Das Oligopol der Ratingagenturen zu brechen und eine öffentliche europäische Ratingagentur zu gründen, ist mithin nur ein Puzzleteil im großen Maßnahmenpuzzle, um die Finanzmärkte durchgreifend zu regulieren und Staaten aus dem Würgegriff der Finanzmärkte und Ratingagenturen zu befreien.

Entmachtung der Finanzmärkte genügt nicht

Wolfram Klein, Mitglied im Vorstand der LINKEN Stuttgart-Bad-Cannstatt und im SAV-Bundesvorstand

Wenn bürgerliche Politiker eine europäische Ratingagentur fordern, um Standard & Poor’s, Fitch und Moody’s Paroli zu bieten, dann ist das Teil von Bemühungen, die Wirtschafts- und Finanzkrise seit 2008 als eine in den Vereinigten Staaten erzeugte Krise darzustellen. Damit soll ihr kapitalistischer Charakter vertuscht werden. Dabei verbreiten sie zum Teil Verschwörungstheorien, wonach „die amerikanischen Ratingagenturen“ die europäische Konkurrenz fertig machen wollten. Abgesehen davon, dass die Ratingagentur Fitch zu 60 Prozent der französischen Fimalac-Holding gehört und zum Beispiel die Allianz Miteigentümer von Standard & Poor’s ist – die europäische Schuldenkrise bedroht seit 2010 so sehr die Weltwirtschaft, dass der US-Imperialismus kein Interesse an ihrer Eskalation hat.

Das ist aber natürlich überhaupt kein Grund zur Beruhigung, denn die Ratingagenturen als kapitalistische Unternehmen vertreten die Profitinteressen ihrer Eigentümer und nicht volkswirtschaftliche Interessen (auch nicht die der Vereinigten Staaten). Und diese Eigentümer sind überwiegend Hedge-Fonds und andere Großinvestoren, die mit ihren Aktien oder Staatsanleihen viel verdienen wollen. Für die macht es Sinn, mit schlechten Ratings hohe Risikozuschläge für griechische oder spanische Staatsanleihen zu produzieren (so dass sie hohe Zinsen für sie kassieren) und so die Europäische Union zu zwingen, Geld in diese Staatsanleihen zu pumpen. Wenn ein Land der sogenannten „Dritten Welt“ noch viel schlechter dasteht, kann es trotzdem eine bessere Bewertung haben – schließlich steht hinter ihm keine EU, es ist also mit hohen Risikozuschlägen nichts zu holen, man würde nur die Kuh schlachten, die man melken will.

Da es nicht um Europa gegen die USA geht, sondern um Schäden durch die Verfolgung von Profitinteressen, macht die Forderung von LINKEN-PolitikerInnen nach einer öffentlichen Ratingagentur einen gewissen Sinn. Aber auch hier gibt es einen Haken: Es steht zu befürchten, dass die Ratings einer solchen Agentur an den Finanzmärkten als Gefälligkeitsgutachten abgetan würden. Dann würden die Risikozuschläge für Staatsanleihen trotzdem hoch bleiben. Dabei trifft dieser Vorwurf von Gefälligkeitsgutachten die privaten Ratingagenturen mindestens genauso. Schließlich werden die meisten Ratings im Auftrag von Unternehmen erstellt, die Wertpapiere anbieten (und die offen drohen, bei einem schlechten Rating zur Konkurrenz zu gehen).

Tatsächlich sind die Ratingagenturen Ausdruck eines viel größeren Problems: Ein Aspekt der kapitalistischen Globalisierung – des Neoliberalismus seit den neunziger Jahren – war die Ideologie, dass der Markt das effizienteste Mittel zur Lösung aller Probleme sei. Die einzige Voraussetzung sei, dass die Marktteilnehmer zuverlässige Informationen als Entscheidungsgrundlage hätten und es keine Diskriminierung beim Informationszugang gebe. Daher gab es in den letzten Jahrzehnten die massive Bedeutungszunahme der Ratingagenturen, die angeblich solche zuverlässigen Informationen lieferten.

Gleichzeitig gab es eine radikale Deregulierung. (Der Staat sollte sich tendenziell nur noch einmischen, wenn diese Informationspflicht verletzt würde, zum Beispiel bei Insiderhandel oder bei falscher Information von AktienkäuferInnen.) Deshalb sind die oftmals verheerenden Auswirkungen der Bewertungen der Ratingagenturen zugleich ein Beleg, wie absurd die ganze Deregulierungsideologie war.

Unser Ziel als Sozialistinnen und Sozialisten kann es folglich nicht sein, diese Deregulierung durch „bessere“ Ratingagenturen zu retten, wir müssen sie schlichtweg rückgängig machen, für wirksame Regeln zum Schutz von Beschäftigten, VerbraucherInnen, Umwelt und so weiter eintreten und die Aufblähung der Finanzmärkte als Folge der Deregulierung beseitigen.

Das heißt aber natürlich keineswegs, dass eine Entmachtung der Finanzmärkte und Re-Regulierung einen Kapitalismus mit menschlichem Gesicht schaffen könnte.

Sicher haben euphorische Ratings für Hypotheken die schwere Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 mit produziert. Aber was wäre ohne sie gewesen? Die Ratings haben EigenheimbesitzerInnen in den Vereinigten Staaten ermöglicht, mehr Hypotheken aufzunehmen und mehr Geld auszugeben. Die private Konsumnachfrage in den USA war bis 2008 ein entscheidender Motor der Weltwirtschaft. Ohne die rosigen Ratings wäre nicht nur die Krise ab 2008 schwächer gewesen, sondern auch das Wachstum bis 2008.

Aber wenn der Kapitalismus nur noch (zeitweise) funktioniert, wenn die Entscheidungsträger rosarote Brillen tragen, mit denen sie die Hindernisse auf dem Weg nicht sehen können, ist das kein Argument für rosarote Brillen, sondern sollte uns motivieren, mit aller Kraft an der Überwindung dieser kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftordnung zu arbeiten.