Chicago 2012: Lehrerprotest, gefährliche Krankenschwestern und Robin Hood

Ein Augenzeugenbericht aus den USA

In Chicago bekommt man im Mai 2012 einen Eindruck von Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und Perspektiven für den Widerstand in den USA. Anti-NATO-Proteste, Demonstrationen von Krankenschwestern, Streikvorbereitungen von LehrerInnen und die „Labor Notes Conference“ folgen Schlag auf Schlag. Fast jede Veranstaltung ist größer als erwartet.

Vor allem die Solidarität von Menschen auf der Straße ist beeindruckend. BusfahrerInnen, Beschäftigte in Kaufhäusern und Büros applaudieren am 23. Mai der Demo von 6.000 LehrerInnen. Die Chicago Teachers Union (CTU) führte den Protest durch die Straßen. Am Lake Michigan liegt Streik in der Luft wie ein Thunderstorm in einer schwül-heißen Mainacht.

von Eckhard Geitz, zur Zeit Chicago

Gewerkschaften werden in den USA nicht unbedingt als Waffe wahrgenommen, um gegen Kürzungen, Repressionen oder für die Verbesserung der Lebensverhältnisse zu kämpfen. Verständnis von Klassenunterschieden von der Kontrolle der Medien durch das Big Business waren nicht gerade „Common Sense“. Obwohl das auch jetzt nicht der Fall ist, hat die Occupy-Bewegung mit „We are the 99%!“ Menschen zum Nachdenken gebracht. Warum werden in Chicago Schulen und Psychatrien geschlossen? Warum können LagerarbeiterInnen bei Milliardenunternehmen wie Wal Mart kaum verdienen, was sie zum Leben brauchen, auch wenn sie 15 Stunden und länger arbeiten? Warum können 65 Millionen Dollar für Polizeieinsätze während des NATO-Gipfels ausgegeben werden und warum bekommt „Chicago Mercantile Exchange“ Millionen Dollar als Steuergeschenk, wenn die Kassen leer sind? Warum sind 22 Prozent der Kinder in „Gods Own Country“ mangelernährt, während im Wall-Street-Casino Milliarden gewonnen und verloren werden, als hätte es nie eine Krise gegeben?

Shut it down!

Dass die internationalen Demos zum 1. Mai ihren Ursprung in Chicago haben, glaubt man kaum, wenn man die nur 3.000 KundgebungsteilnehmerInnen sieht. Aber hier ist Mayday ein gewöhnlicher Arbeitstag. Gewerkschaften haben Delegationen geschickt. „Es ist an der Zeit zu tun, was Postarbeiter vor 42 Jahren gemacht haben. It is time to shut it down.“ Dieser Vorschlag eines Redners und selbst der Gedanke eines Generalstreiks kamen bei den ZuhörerInnen gut an. Die Sympathie für den Vorschlag ist nicht mit der Perspektive seiner baldigen Umsetzung zu verwechseln. Aber nach dem „Battle of Wisconsin“ Anfang 2011, wo gegen Scott Walters Attacke auf die Gewerkschaften der politische Streik auf Initiative der SAV-Schwesterorganisation „Socialist Alternative“ zum ersten Mal seit Jahrzehnten als ernsthaftes Instrument diskutiert worden ist, hat sich das Klima in den USA verändert.

„Labor Notes Conference“

Die „Labor Notes Conference“ war mit 1.500 TeilnehmerInnen die größte in ihrer Geschichte. AktivistInnen, linke Funktionäre und KollegInnen aus unterschiedlichen Gewerkschaften, Branchen und Bundesstaaten der USA tauschten in über 150 Workshops wichtige Erfahrungen ihrer Kämpfe aus. Der Slogan „We are the 99%“ war allgegenwärtig. Allerdings kamen Debatten darüber, dass Demokraten wie Republikaner Parteien von und für die „1%“ sind, zu kurz. Die Schlussfolgerungen blieben hinter den Erwartungen vieler TeilnehmerInnen zurück. Dennoch ist die Konferenz für die Vernetzung der „Troublemaker“ und für betriebliche Strategien unverzichtbar.

Kämpfende Gewerkschaften

National Nurses United (NNU), die Gewerkschaft des Krankenpflegepersonals, hat am 18. Mai den Auftakt zu den Anti-NATO-Protesten gemacht. 4.000 Krankenschwestern forderten die Besteuerung von Börsengewinnen. Die „Robin-Hood-Tax“ zur Finanzierung einer angemessenen Gesundheitsversorgung für alle und das zwischenzeitliche Kundgebungsverbot wegen des Auftritts von „Rage“-Gitarrist Tom Morello haben der NNU enorme Aufmerksamkeit gebracht. Auf dem Rückflug von Chicago nach Kalifornien wurde eine NNU-Delegation persönlich an Bord begrüßt und zum Protest beglückwünscht. Unter www.democracynow.org findet man erstklassige Berichte über die Anti-NATO-Proteste, die Rückgabe ihrer Medaillen durch 40 Kriegsveteranen und die Polizeibrutalität während des NATO-Gipfels.

Die Forderungen der NNU und ihre Offenheit gegenüber politischen Streiks kombiniert mit der aktuellen Mobilisierung und Streikvorbereitung der Leh-rerInnen haben das Potenzial für die dritte soziale Explosion nach Wisconsin und der Occupy-Bewegung gezeigt. Die CTU kämpft gegen Schulschließungen, Privatisierungen, Personalmangel und für bessere Löhne. Aktuell zeigt der tagelange Kampf von Hunderttausenden Studierenden in Kanada, der zu Redaktionsschluss noch andauert, amerikanischen Aktivist-Innen sehr konkret die Möglichkeiten der Ausweitung ihrer Proteste. Time to shut it down!