Bei der Berliner Charité stehen die Zeichen wieder auf Sturm

Auf dem Silbertablett

Die Charité in Berlin steht nur ein Jahr nach dem großen Streik vom Mai 2011 vor einer erneuten Tarifauseinandersetzung. Ging es letztes Jahr noch um klassische Entgelt- und manteltarifliche Forderungen, steht nun der Gesundheitsschutz im Mittelpunkt. Die Charité könnte bundesweit das erste Krankenhaus sein, das auf Basis der „Druck muss raus!“-Kampagne von ver.di eine Tarifauseinandersetzung führt.

von Stephan Gummert, Mitglied der ver.di-Betriebsgruppe an der Charité Berlin*

Eigentlich veröffentlichte die Charité im ersten Quartal nur Jubelmeldungen. Trotz Streik und Tarifsteigerungen wurde ein Jahresplus 2011 von acht Millionen Euro erzielt. Einmal Blut geleckt zwingt die Politik die Charité für das Jahr 2012 erstmals statt eines ausgeglichenen Jahresergebnisses mehrere Millionen Überschuss anzustreben. Das übliche Mittel dafür sollen weitere Arbeitsverdichtung und weiterer Personalabbau sein.

Radikale Maßnahmen der Charité-Leitung

Zur Jahresmitte sieht die Charité ihren angestrebten Millionenüberschuss in Gefahr und hat nun den Pflegedienst ins Visier genommen. Personalkostenüberschreitungen im Pflegedienst bei gleichzeitiger Kostensteigerung durch externe Leiharbeit seien Hauptübel der akuten Misere.

Pflegedirektion und pflegerische Centrumsleitungen (die Charité zergliedert sich in mehrere bettenführende Centren) erarbeiteten einen Maßnahmenkatalog, der seit 1. Juni in Kraft ist und zu massiven Widerständen bei Pflegenden und Auszubildenden führt. Ein de facto Einstellungsstopp bei Stammkräften bei dem gleichzeitigen Versuch, externe Leiharbeit zu drosseln, führt zu verordneter Unterbesetzung auf vielen Stationen. Ausfälle sollen aus eigenen Ressourcen – also mit Überstunden und durch rechtswidrigen Einsatz von Auszubildenden – kompensiert werden. Ohnehin schon überplante Beschäftigte sollen durch Nebenabreden zum Arbeitsvertrag zur weiteren Selbstausbeutung überredet werden. Sogar Betten- und Stationsschließungen gehören zum Maßnahmenkatalog.

Vereint im Widerstand

Als die Maßnahmen in Leitungskreisen bekannt gemacht wurden, vergingen nur wenige Tage und eine breite Front des Widerstands formierte sich. Selbst aus der pflegerischen Führungsebene sind kritische Töne über die Unmöglichkeit der Umsetzung solcher Maßnahmen zu hören.

Personalräte sowie die Jugend- und Auszubildenden-Vertretung reagierten schnell und konsequent. Die Maßnahmen wurden in einem Flugblatt der Gewerkschaft ver.di breit im Betrieb und in der Berliner Öffentlichkeit bekannt gemacht. Während eines gut besuchten Pflegekongresses der beiden größten öffentlichen Krankenhausträger begannen die ersten Aktionen gegen den Maßnahmenkatalog. Es folgten ein Fernsehbericht in der „Berliner Abendschau“ und eine Mobilisierung zu Charité-weiten Kundgebungen.

Willkommen in der Tarifauseinandersetzung 2012

Die ver.di-Betriebsgruppe an der Charité bewies einmal mehr ihre Schlagkraft, denn die 2011 etablierten und erprobten Strukturen konnten fast sofort und angemessen auf die Charité-Provokation reagieren. Nach schneller Öffentlichkeitsarbeit wurde eine Stimmung an die ver,di-Tarifkommission gemeldet, die Insider mit der kurz vor dem Streik 2011 verglichen. Arbeitshetze und Unterbesetzung auf den Stationen und in den Funktionsbereichen in der gesamten Klinik beförderten und beschleunigten gewerkschaftsinterne Abstimmungsprozesse.

Auf den Charité-weiten Kundgebungen am 18. Juni ließen die Streikführer des Jahres 2011 die Katze aus dem Sack. Zum Zeitpunkt der Kundgebungen um 15 Uhr hatte der Charité-Vorstand bereits seit vier Stunden die Aufforderung der Gewerkschaft ver.di zu Tarifverhandlungen über Mindestbesetzung, Gesundheitsschutz und Ausbildungsqualität auf dem Tisch. Die Charité ist somit die erste Klinik in Deutschland, die zu diesen Themen eine Auseinandersetzung führen wird.

Zentrale Forderungen

Unter dem Beifall der Beschäftigten wurden einige zentrale Forderungen öffentlich gemacht.

Mehr Personal ins Krankenhaus! Auf den Intensivstationen soll ein Betreuungsschlüssel von einer Pflegekraft für maximal zwei Patienten und bei entsprechendem Aufwand sogar eine 1:1-Betreuung durchgesetzt werden.

In den Normalpflegebereichen soll nicht mehr allein Nachtdienst gemacht werden.

Umfangreiche Ideen zum Gesundheitsschutz liegen vor. Es sollen tarifliche Instrumente zu deren Durchsetzung geschaffen werden, die auch Räume für Selbstorganisation und Entwicklung aus den Teams heraus ermöglichen.

Es sollen die Arbeitsbedingungen älterer Beschäftigter verbessert werden. So fordert ver.di eine Nachtdienstbefreiung für ältere Pflegekräfte, die nicht zu Versetzungen und Herabgruppierungen führt.

Regelungen zur Altersteilzeit und zur Verbesserung der Situation der Auszubildenden sollen durchgekämpft werden. Im Ausbildungsbereich gibt es dazu einen völlig separaten Forderungskatalog, dessen Schilderung den Rahmen hier sprengen würde.

Die Gewerkschaft beginnt an der Charité einen wichtigen Kampf im Gesundheitswesen. Es gilt nun dafür Sorge zu tragen, dass sie nicht allein bleibt. ver.di bietet über die „Druck muss raus“-Bewegung eine überregionale und trägerübergreifende Plattform für solche Kämpfe. Nutzen wir diese!

 

„Die hohen Leasingkosten sind seit langem bekannt, dennoch wurde Stammpersonal abgebaut. Die Zitrone ist ausgequetscht – eine weitere Zunahme der Arbeitsbelastung ist absolut nicht hinnehmbar“

Carsten Becker, Sprecher der ver.di-Betriebsgruppe an der Charité* („junge Welt“ vom 19. Juni) www.charite.verdi.de

 

Erfolgreicher Charité-Streik 2011

Bei dem fünftägigen Vollstreik im Mai vergangenen Jahres erreichten die über 2.000 Streikenden, dass zeitweise fast die Hälfte der rund 3.200 Betten geschlossen und 90 Prozent der Operationen abgesagt werden mussten. Das Ergebnis stellt eine materielle Verbesserung für die Beschäftigten dar. So bedeuten allein die 150 Euro mehr seit 1. Juli 2011 für die Mehrheit eine Gehaltserhöhung von fünf bis sieben Prozent. Bis 2014 werden die Einkommen für die meisten Entgeltgruppen an das Bundesniveau angeglichen. Daneben wurden noch mehrere weitere Fortschritte erzielt. Allerdings ist unter anderem die lange Laufzeit des Tarifvertrags (bis 2016) ein Schwachpunkt.

Ausführliche Artikel über den Arbeitskampf und das Ergebnis unter www.archiv.sozialismus.info/charite.

*Angabe zur Funktion dient nur zur Kenntlichmachung der Person