75 Jahre nach seinem Tod: Die politischen Ideen von Antonio Gramsci

Teil I: Kommunismus und Einheitsfront

 
„Die großen Revolutionäre wurden zu Lebzeiten von den unterdrückenden Klassen ständig verfolgt, die ihrer Lehre mit wildestem Ingrimm und wütendstem Hass begegneten, mit zügellosen Lügen und Verleumdungen gegen sie zu Felde zogen. Nach ihrem Tode versucht man, sie in harmlose Götzen zu verwandeln, sie sozusagen heiligzusprechen, man gesteht ihrem Namen einen gewissen Ruhm zu zur „Tröstung“ und Betörung der unterdrückten Klassen, wobei man ihre revolutionäre Lehre des Inhalts beraubt, ihr die revolutionäre Spitze abbricht, sie vulgarisiert.“ Lenin, Staat und Revolution (Lenin Werke, Band 25, S. 397) In diesem Jahr (am 27. April) ist der 75. Todestag Antonio Gramscis. Aus diesem Anlass ist wieder eine Reihe von Veröffentlichungen zu erwarten. An sich wäre das zu begrüßen, weil MarxistInnen aus Gramscis politischer Arbeit und seinen theoretischen Überlegungen viel lernen können. Aber leider wurde Gramsci in den letzten Jahrzehnten durch den bürgerlichen Hochschulbetrieb in einer Weise vereinnahmt, dass auch jetzt zu befürchten ist, dass viele Veröffentlichungen eher eine Verhöhnung statt eine Würdigung des Revolutionärs Gramsci sein werden. Die akademische Vereinnahmung Gramscis beruht im Wesentlichen darauf, die Notizen, die er im Gefängnis in 29 Hefte schrieb, losgelöst von seiner vorherigen Tätigkeit als Mitbegründer und schließlich Vorsitzender der Kommunistischen Partei Italiens zu behandeln. Aber Gramsci konnte im Gefängnis, unter den Augen der faschistischen Wärter, nicht offen schreiben. Er hätte sonst Schreibverbot riskiert – oder die Verwendung aus dem Zusammenhang gerissener Zitate gegen die eigenen GenossInnen. Dazu kam, dass er wichtige Quellen aus dem Gedächtnis wiedergab, weil er sie im Gefängnis nicht erhielt. Er leitete sein elftes Heft mit folgender „Warnung“ ein: „Die in diesem Heft enthaltenen Notizen sind, wie in den anderen, mit fliegender Feder geschrieben, um eine rasche Gedächtnisstütze aufzuzeichnen. Sie sind alle genauestens durchzusehen und zu überprüfen, weil sie bestimmt Ungenauigkeiten, falsche Annäherungen, Anachronismen enthalten. Geschrieben, ohne die Bücher, auf die Bezug genommen wird, bei der Hand zu haben, ist es möglich, dass sie nach der Kontrolle radikal korrigiert werden müssen, weil sich gerade das Gegenteil des Geschriebenen als wahr herausstellen könnte“. Deshalb ist es für ein Verständnis von Gramsci wichtig, seine Gefängnishefte im Kontext seiner Schriften und Tätigkeit vor seiner Verhaftung zu betrachten. Diese werden deshalb in diesem ersten Artikel behandelt. Ein zweiter Artikel wird sich mit den Gefängnisheften und mit Gramscis Überlegungen zu „Zivilgesellschaft“, Hegemonie, „Stellungs- und Bewegungskrieg“ und Intellektuellen befassen.

In der Sozialistischen Partei

Gramsci wurde am 22. Januar 1891 auf Ales auf Sardinien geboren. Schon in der Kindheit litt er unter einer schlechten Gesundheit. Durch seinen älteren Bruder Gennaro kam er mit sozialistischen Ideen in Berührung, ab 1911 konnte er durch ein Stipendium in Turin studieren, dem industriellen Zentrum Italiens. 1913 trat er der Sozialistischen Partei bei. Im Ersten Weltkrieg blieb Italien zunächst neutral, erklärte aber am 23. Mai 1915 Österreich-Ungarn den Krieg. Anders als in den meisten Ländern unterstützte die Sozialistische Partei in Italien die Kriegsbeteiligung ihrer Regierung nicht und schloss Kriegsunterstützer wie Benito Mussolini aus. Die Kriegsablehnung beschränkte sich aber weitgehend auf Worte. Turin wurde zum Zentrum der Rüstungsindustrie. Gramsci gab sein Studium auf und wurde Redakteur der sozialistischen Zeitung „Il Grido del popolo“ (Der Schrei des Volkes). Das Vorbild der russischen Revolution 1917 und das Kriegselend führten auch in Turin zu Unruhen, so am 25. August 1917, die brutal unterdrückt wurden (50 Tote, Hunderte Verletzte). Die örtliche Parteiführung der Sozialistischen Partei wurde verhaftet, der junge Gramsci wurde Mitglied der neuen provisorischen Parteiführung. Die Radikalisierung der ArbeiterInnen in Italien und besonders in Turin setze sich nach dem Krieg fort. 1919 gab es in Italien 1663 Streiks, an denen sich über eine Million ArbeiterInnen beteiligten. 1920 waren es 1881 Streiks. Dazu kamen Streiks von LandarbeiterInnen und anderen, an denen sich eine weitere Million beteiligte. BäuerInnen besetzten Land, oft unter der Führung von Kriegsveteranen. Die Sozialistische Partei wuchs von 23.000 Mitgliedern 1918 auf 200.000 Mitglieder 1920, die sozialistischen Gewerkschaften (CGL) von 250.000 auf zwei Millionen Mitglieder. Im März 1919 beschloss die Sozialistische Partei den Beitritt zur in Moskau gegründeten Kommunistischen Internationale. Das hieß aber nicht, dass sie eine kommunistische Partei geworden wäre. Vielmehr entwickelten sich in ihr drei Strömungen: Erstens die Reformisten um Filippo Turati und Claudio Treves, die vor allem im Gewerkschaftsapparat und unter den Mandatsträgern (von den Gemeinderäten aufwärts) stark waren. Zweitens die „Maximalisten“ um Giacinto Serrati, die seit September 1918 die Partei kontrollierten. Ihr Name kam daher, dass sie nicht nur für Reformen, für Tagesforderungen eintraten, sondern auch für das Maximalprogramm der Partei, also die Überwindung des Kapitalismus. Sie waren in Worten revolutionär, aber weigerten sich, mit den Rechten zu brechen. Sie glaubten, sie könnten am Sterbebett des Kapitalismus sitzen und nach seinem Tod das Erbe antreten. Aber der Kapitalismus wird nie von selbst sterben, er muss bewusst gestürzt werden. Strömungen, die in Worten revolutionär, in Taten reformistisch sind, nennen MarxistInnen zentristisch. Drittens die Abstentionisten um Amadeo Bordiga, die vor allem in der Jugend AnhängerInnen hatten und eine „kleine, aber reine“ kommunistische Partei zum Ziel hatten. Sie propagierten kommunistische Ideen, lehnten aber Massenarbeit in Form von der Bildung von Arbeiterräten, von Sowjets (obwohl ihre Zeitung Il Soviet hieß) ebenso ab wie die Beteiligung an Wahlen und der Nutzung des Parlaments als Tribüne. Im Mai gründete Gramsci mit seinen Genossen Palmiro Togliatti, Umberto Terracini und Angelo Tasca in Turin die Zeitung L’Ordine Nuovo (Die neue Ordnung), die zunächst zum Ziel hatte sozialistische Kultur zu verbreiten, aber schnell die Propagierung der in der russischen Revolution entstandenen Arbeiterräte (Sowjets) zu ihrem Schwerpunkt machte. Die Idee stieß auf großen Widerhall. Bis Jahresende waren in Turin 120.000 bis 150.000 ArbeiterInnen in Räten organisiert. Im November 1919 akzeptierte die Metallgewerkschaft FIOM in Turin die Räteidee. Gramsci erklärte die Bedeutung dieser Räte zusätzlich zur Sozialistischen Partei und den Gewerkschaften: Die Räte organisierten ihm zufolge die gesamten Belegschaften gemäß der Gliederung der Betriebe, während Partei und Gewerkschaft nur einen Teil (allerdings den politisch bewusstesten) organisierten. Leider stand L’Ordine Nuovo damit ziemlich allein. Die Rechten und Maximalisten erklärten die Räte für anarchistisch, die Abstentionisten für reformistisch. L’Ordine Nuovo konnte sich zu Recht mit keiner dieser Strömungen voll identifizieren. Bei den Parlamentswahlen im November 1919 wurde die Sozialistische Partei mit zwei Millionen Stimmen und 156 Sitzen (von 508) stärkste Partei. Sie erlangte die Kontrolle über 2.800 Gemeinderäte (ein Viertel der Gemeinden). Im März 1920 begann in der Turiner Metallindustrie eine Aussperrung, um die Rätebewegung zu stoppen. Die ArbeiterInnen antworteten mit einem Generalstreik in Turin, an dem sich Hunderttausende beteiligten. Aber die Sozialistische Partei ließ die Bewegung im Stich und verweigerte die landesweite Unterstützung. Die Bewegung blieb örtlich begrenzt und konnte durch einen Großeinsatz des Militärs (50.000 Soldaten mit gepanzerten Fahrzeugen, Kanonen und Maschinengewehren) unterdrückt werden. Aus dieser Erfahrung zog Gramsci die Schlussfolgerung, dass ein Bruch mit der Sozialistischen Partei notwendig war. Trotz der fortbestehenden Differenzen arbeitete er jetzt gemeinsam mit Bordigas Fraktion an der Gründung einer Kommunistischen Partei. Da Bordiga anders als Gramsci einer landesweiten Organisation vorstand, begann damit eine jahrelange Unterordnung unter Bordiga, die tragisch war, weil Gramsci in praktisch allen Fragen viel klarere Positionen vertrat. Im Rückblick schrieb Gramsci mit lobenswerter Selbstkritik: „1919-20 machten wir äußerst ernsthafte Fehler, für die wir letztlich heute zahlen. Aus Angst, Emporkömmlinge und Karrieristen genannt zu werden, bildeten wir keine Fraktion und organisierten sie nicht in ganz Italien. Wir waren aus Angst vor einer Spaltung in den Gewerkschaften oder einem vorzeitigen Ausschluss aus der Sozialistischen Partei nicht bereit, den Turiner Fabrikräten ein autonomes Leitungszentrum zu geben, das im ganzen Land einen gewaltigen Einfluss hätte ausüben können.“ (Brief an Leonetti, 28. Januar 1924 – Alfonso Leonetti hatte zur Ordine-Nuovo-Gruppe gehört, 1930 wurde er zusammen mit den anderen Zentralkomitee-Mitgliedern Pietro Tresso und Paolo Ravazzoli aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen. Sie bildeten dann die trotzkistische Neue Opposition) Im August und September 1920 führten Provokationen der Arbeitgeber in Mailand zu einer neuen Welle von Fabrikbesetzungen, die sich über ganz Norditalien ausbreitete. Obwohl die Turiner ArbeiterInnen durch die vergangenen Kämpfe erschöpft waren, beteiligten sie sich mit vollen Kräften am Kampf. Gramsci besaß kein Vertrauen in die revolutionären Sprüche von Serrati und anderen. Die Befürchtungen bestätigten sich, die Bewegung endete in einem faulen Kompromiss. Der Abbruch der italienischen Betriebsbesetzungen markierte europaweit das Ende der ersten Welle von revolutionären Kämpfen nach dem Ersten Weltkrieg. Es folgte eine Phase kapitalistischer Offensive, die in Italien mit dem Machtantritt des Faschismus die schlimmsten Formen annahm, und von Abwehrkämpfen der Arbeiterbewegung. Vor diesem Hintergrund fand am 21. Januar 1921 in Livorno die Gründung der Kommunistischen Partei Italiens (PCd’I, ab 1943 Italienische Kommunistische Partei, PCI) statt. Im Sommer 1920 hatte der zweite Weltkongress der Kommunistischen Internationale (Komintern) den Ausschluss der Reformisten verlangt. Die Maximalisten um Serrati lehnten dies ab. In der Folge kam es statt der Abspaltung des rechten Flügels um Turati zur Abspaltung des linken Flügels um Bordiga und Gramsci. Dieser Teil wurde zur neuen italienischer Sektion der Komintern. Die KommunistInnen hatten auf dem Parteitag 58.783 Mitglieder vertreten (die Zentristen 98.028, die Reformisten 14.685). Mitglied der neuen Partei waren anfangs etwa 30.000.

Gramscis Faschismusanalyse:

Die Kapitalisten gingen in die Gegenoffensive. Im März 1920 wurde der Unternehmerverband Confindustria gegründet, um die Fabrikrätebewegung zu zerschlagen. Im August wurde auch ein Großgrundbesitzerverband gegründet. Armee und Polizei wurden aufgerüstet. Eine königliche Garde von 25.000 Soldaten wurde geschaffen, die Carabinieri auf 160.000 aufgestockt. Zwischen Oktober 1919 und Mai 1920 töteten sie über hundert ArbeiterInnen und BäuerInnen Die größte Bedrohung war aber die faschistische Bewegung. Im März 1919 gründete Mussolini in Milano die „Fasci di Combattimenti“ („Kampfbünde“). Die italienischen Nationalisten fühlten sich nach dem Ersten Weltkrieg von ihren Verbündeten um den ihnen zustehenden Anteil an der Beute betrogen. Im September 1919 besetzte deshalb der nationalistische Dichter D’Annunzio mit einem Söldnerhaufen den Hafen von Fiume (Rijeka). Ab Ende 1920 stand für die Faschisten der Klassenkampf von oben im Vordergrund. Im Dienste und mit materieller Unterstützung von Großgrundbesitzern und Kapitalisten terrorisierten sie ArbeiterInnen und BäuerInnen. Die Faschisten mobilisierten ihre Kampfbünde in eine Stadt, führten dort bewaffnete Demonstrationen durch, verwüsteten Gewerkschaftsbüros, Volkshäuser, Redaktionen und Druckereien der Arbeiterbewegung, verletzten und ermordeten AktivistInnen und knöpften sich dann die nächste Stadt vor. Der kapitalistische Staatsapparat ließ sie gewähren. Gramsci war einer der wenigen, die früh erkannten, dass ohne den Sieg der Revolution eine blutige Konterrevolution drohen würde. Zum Beispiel schrieb er im Januar 1920 in einem Artikel: „Wir glauben, dass die Bourgeoisie das Schicksal, das sie erwartet, nicht anders vermeiden kann, als in dem sie auf eine reaktionäre und militärische Diktatur zurückgreift, und dass sie das früher oder später tun wird.“ In einem Artikel im Oktober 1920, nach der Niederlage der Betriebsbesetzungsbewegung, warnte er noch eindringlicher: „Es steht außer Zweifel, dass die Reaktion in Italien stärker wird und jeden Augenblick versuchen wird, sich gewaltsam aufzuzwingen. Die Reaktion hat immer bestanden, sie gehorcht ihren eigenen Entwicklungsgesetzen und wird in dem grauenhaftesten Terrorismus gipfeln, den die Geschichte je gesehen hat.“ Angesichts dieser grundsätzlichen Klarheit ist es zweitrangig, dass Gramsci in seinen zahlreichen Artikeln, die er in den folgenden Jahren über die Entwicklung des Faschismus geschrieben hat, die eine oder andere Fehleinschätzung unterlaufen ist, und er gelegentlich Episoden und vorübergehenden Entwicklungen zu viel Gewicht beigemessen hat. Angesichts eines historisch neuen Phänomens wie dem Faschismus waren derartige Fehler unvermeidlich. Interessant ist auch, dass Gramsci später zur Analyse des Faschismus an die Marxsche Bonapartismustheorie anknüpfte. In dem Artikel „Russland, Italien und andere Länder“ in der „Unità“ vom 26. September 1926 wies er auf das instabile Kräftegleichgewicht in Italien 1919 bis 1920 als eine Voraussetzung des Faschismus hin und verwies auf die Parallelen zu den von Marx im „18. Brumaire des Louis Bonaparte“ beschriebenen „Methoden und Systemen“. An diese Analysen von Marx knüpften in den folgenden Jahren auch die beiden bedeutendsten marxistischen Faschismustheorien (von August Thalheimer und Leo Trotzki) an. Aber natürlich war die Analyse des Faschismus kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zu seiner Bekämpfung. Und das war in der Tat ein tragisches Kapitel. Da die Faschisten die Arbeiterbewegung zerschlugen, von der sich das Kapital bedroht fühlte, war von bürgerlichen Parteien kein ernsthafter Widerstand zu erwarten. Und in der Tat: Verschiedene bürgerliche Parteien koalierten mit den Faschisten. Auch die Führung der Sozialistischen Partei lehnte einen ernsthaften Kampf gegen den Faschismus ab und schloss im August 1921 sogar ein Stillhalteabkommen mit ihm. Angesichts der tödlichen Bedrohung, die der Faschismus für jeden einzelnen organisierten Arbeiter darstellte, musste es zu Opposition gegen diese fatale Politik der Parteiführung kommen. Aber leider war die Kommunistische Partei unter der sektiererischen Führung von Bordiga unfähig, die Möglichkeiten, die das für sie bot, zu nutzen.

Kampf um die Einheitsfront

Wie oben erwähnt, gingen nicht nur in Italien, sondern international die Kapitalisten 1920/21 in die Offensive. Auf ihrem dritten Kongress 1921 erteilte die Komintern der „Offensivtheorie“ eine Absage, wonach RevolutionärInnen unter allen Umständen Offensivkämpfe führen müssten und betonte die Notwendigkeit, die Mehrheit der Arbeiterklasse zu erobern, bevor die Macht erobert werden könnte. Am 18. Dezember 1921 veröffentlichte das Exekutivkomitee der Komintern Leitsätze über die Arbeitereinheitsfront. Ihr Grundgedanke war, dass revolutionäre und reformistische ArbeiterInnen zwar bezüglich der Notwendigkeit einer Revolution verschiedener Meinung sind, dies aber kein Hinderungsgrund für gemeinsame Abwehrkämpfen gegen Lohnsenkungen, schlechtere Arbeitsbedingungen und faschistischen Terror ist. Richtig gehandhabt stellte die Einheitsfrontmethode für RevolutionärInnen eine Win-Win-Situation dar: Wenn die reformistischen Partei- und Gewerkschaftsführer Angebote für einen gemeinsamen Kampf für Ziele ablehnten, deren Berechtigung ihrer Basis einleuchtete, diskreditierten sie sich und die ArbeiterInnen wurden ihnen gegenüber kritischer und offener für die Ideen der KommunistInnen. Wenn sie dagegen entsprechende Angebote annahmen, bot das günstige Voraussetzungen, die ArbeiterInnen vor Verschlechterungen zu bewahren und Verbesserungen zu erreichen und gleichzeitig im Kampf das Selbstbewusstsein und die Kampferfahrung der ArbeiterInnen zu heben. Nicht zuletzt konnten die ArbeiterInnen bei jedem Schritt des Kampfes die kommunistische und die reformistische Organisation in der Praxis erproben und erkennen, dass RevolutionärInnen auch die besten KämpferInnen für Reformen sind – auch in diesem Fall können reformistische ArbeiterInnen näher an die kommunistische Partei herangeführt werden. Natürlich konnten reformistische Parteiführer behaupten, diese Angebote seien nicht ernst gemeint, sondern sollten sie nur entlarven. Aber bei richtiger Anwendung verstanden die reformistischen ArbeiterInnen, dass nicht die KommunistInnen ihre Parteiführer entlarvten, sondern dass diese sich selber entlarvten und mit ihrem Verhalten deutlich machten, dass ihnen die Rettung des Kapitalismus wichtiger war als die Verteidigung der Interessen der ArbeiterInnen an ihrer Basis, wenn sie den gemeinsamen Kampf für einsichtige Forderungen ablehnten. Natürlich kam es bei der praktischen Handhabung der Einheitsfrontmethode auch zu Fehlern: Auf der einen Seite konnten die Angebote zur Zusammenarbeit am Bewusstsein der reformistischen ArbeiterInnen vorbei gehen und von ihnen als platter Entlarvungsversuch abgelehnt werden. Auf der anderen Seite gab es die Gefahr, dass die KommunistInnen bei der praktischen Zusammenarbeit vergaßen, dass es angesichts des begrenzten Spielraums für Reformen im Kapitalismus immer auch darum ging, ArbeiterInnen für revolutionäre Ideen und für die kommunistische Partei zu gewinnen. Auf der einen Seite unterlagen KommunistInnen der Versuchung, die Zusammenarbeit mit sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsführern abzulehnen, weil sie nicht verstanden, dass die ArbeiterInnen an der Basis noch Vertrauen in sie hatten. Deshalb war eine „Einheitsfront nur von unten“, die von sozialdemokratischen ArbeiterInnen verlangte, mit ihrer Parteiführung zu brechen – und damit aufzuhören, SozialdemokratInnen zu sein – überhaupt kein Einheitsfrontangebot. Auf der anderen Seite bestand die Gefahr, dass die Einheitsfront dazu verflachte, gemäß einem Ritual offene Briefe an diese Führer zu schreiben und das Angebot zur Zusammenarbeit in den Betrieben und Stadtteilen zu vergessen. Die Einheitsfrontpolitik war in der Komintern umstritten. Die PCd’I unter Bordiga akzeptierte zwar die wirtschaftliche Einheitsfront, also den gemeinsamen Kampf für höhere Löhne. Sie lehnte aber eine politische Einheitsfront ab, also zum Beispiel den gemeinsamen Widerstand gegen den Faschismus. Das war in Italien besonders verheerend. Konkret zeigte sich das an der Frage der „Arditi del Popolo“ („die Mutigen des Volks“). Diese Organisation entstand ab dem Juni 1921 als Versuch des Selbstschutzes gegen den zunehmenden faschistischen Terror und stieß bei den ArbeiterInnen auf begeisterte Unterstützung – bis dann im August der „Nichtangriffspakt“ zwischen Sozialistischer Partei und Faschisten als kalte Dusche kam. In einem ersten Artikel (am 15. Juli) begrüßte Gramsci sie und warnte zugleich vor dem Versuch eines sozialistischen Abgeordneten, sie auf ein rein defensives Vorgehen festzulegen. Als aber die Mehrheit der Parteileitung eine sektiererische Haltung einnahm, wurde dies von Gramsci akzeptiert. Eine weitere Differenz zwischen Bordiga und der Führung der Komintern war Bordigas Ablehnung der Fusion kommunistischer Parteien mit anderen Parteien. Seiner Meinung nach durften Mitglieder nur einzeln der Pcd“I beitreten. Die Möglichkeit, dass sich ganze Organisationen (oder Fraktionen innerhalb von Organisationen) in eine revolutionäre Richtung entwickeln könnten, schloss er aus – obwohl es damals mehrere Beispiele dafür gab. Das bekannteste Beispiel war die deutsche USPD, die sich 1917 von der SPD abgespalten hatte und Ende 1920 mehrheitlich mit der KPD fusionierte. In Italien selbst wurde die Frage auch konkret: Im September 1921 entstand in der Sozialistischen Partei eine Fraktion für den Anschluss an die Komintern, während die Partei insgesamt ihren Aufnahmeantrag nach der Abspaltung der PCd’I zurückzog. Im Herbst 1922 vollzog die Sozialistische Partei den von der Komintern geforderten Ausschluss der Reformisten schließlich doch. Auch Serrati war jetzt wieder für den Beitritt zur Komintern – aber jetzt war die Mehrheit der Partei dagegen. Die Komintern warf der PCd’I-Führung vor, durch ihr Sektierertum zu diesem Rückschlag beigetragen zu haben. Gramsci unterstützte bis zum Herbst 1923 die falsche Politik Bordigas. Ab September 1923 trat Gramsci für eine gemeinsame Tageszeitung mit den vereinigungswilligen SozialistInnen als konkreten Schritt zur Vereinigung ein, die nach ein paar Monaten zustande kam. Er schlug für sie den Namen „Unità“ (Einheit) vor. Die Zeitung wirbt noch heute damit, 1924 von Gramsci gegründet worden zu sein, obwohl ihr Inhalt heute nicht mehr an Gramscis Ideen erinnert. Zudem arbeitete er an der Bildung einer neuen Parteiführung ohne die Bordiga-Strömung. Im Herbst 1924 fand dann die Fusion mit den linken SozialistInnen statt. Gramsci war im Mai 1922 als Vertreter der PCd’I in der Komintern nach Moskau gekommen. Er war jedoch lange krank und verbrachte Monate in einem Sanatorium. Als im Herbst die Parteileitung vom Mussolini-Regime verhaftet wurde, ging er nach Wien, um näher an den Ereignissen in Italien dran zu sein. Nach seiner Wahl ins Parlament am 6. April 1924 kehrte er unter dem (fragwürdigen) Schutz der parlamentarischen Immunität nach Italien zurück.

Zickzack der Komintern

Das Tragische war, dass genau zu der Zeit, als Gramsci unter dem Einfluss der Kommunistischen Internationale seine ultralinken Fehler korrigierte, die Internationale selbst in eine ultralinke Richtung abglitt. In Deutschland hatte die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische Truppen Anfang 1923 zu einer verheerenden Wirtschaftskrise mit galoppierender Inflation geführt. Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) hatte großen Zulauf, die Sozialdemokratie zerfiel. Aber die KPD und die Komintern erkannten erst allmählich, dass der Übergang von Abwehrkämpfen gegen die Offensive des Kapitals zu einer revolutionären Offensive notwendig war. Sie fürchtete, die ArbeiterInnen in Teilkämpfen zu verheizen und wollte ihre Kräfte für die Entscheidungsschlacht schonen – quasi einen revolutionären Sprung machen, ohne dafür Anlauf zu nehmen. Das ging schief. Bis auf einen durch Kommunikationsprobleme ausgelösten versehentlichen Aufstand in Hamburg blieb die KPD passiv – bis die Wirtschaftskrise vorbei war und die Regierung die KPD vorübergehend verbot. Nach dieser Niederlage, die umso demoralisierender war, als sie ohne Kampf stattgefunden hatte, erkannte die Komintern zunächst nicht, dass die revolutionäre Situation vorüber war und eine mehrjährige Stabilisierung des Kapitalismus begonnen hatte. Zugleich erklärte sie das Verbot der KPD zu einem Sieg des Faschismus in Deutschland, obwohl es derartige Unterdrückungsmaßnahmen in der Weimarer Republik schon mehrfach gegeben hatte. Allgemein wurden reaktionäre Regierungen in der bürgerlichen Demokratie (wie die von Poincaré in Frankreich damals) mit dem Faschismus auf eine Stufe gestellt. Zusätzlich erklärte die Komintern die Sozialdemokratie zur „dritten“ bürgerlichen Regierungspartei (neben liberalen und rechten/reaktionären Parteien), negierte also den Unterschied zwischen einer Arbeiterpartei mit bürgerlicher Führung, wie sie die sozialdemokratischen Parteien international bis in die 1990er Jahre hinein waren, und einer bürgerlichen Partei. Die Verwirrung gipfelte darin, die Sozialdemokratie auf eine Stufe mit dem Faschismus zu stellen. So schrieb Sinowjew, der Vorsitzende der Komintern: „Die führenden Schichten der deutschen Sozialdemokratie sind im Augenblick nichts anderes als eine Fraktion des deutschen Faschismus mit sozialistischer Phraseologie. Das ist keine Übertreibung, das ist eine Tatsache. (…) Allmählich wächst sich die ganze internationale Sozialdemokratie objektiv zu nichts anderem als zu einer Abart des Faschismus aus, das heißt zu einer von den Gruppen der Konterrevolution, was bedeutende Schichten der sozialdemokratischen Arbeiter nicht hindert, sich ganz ehrlich für Sozialisten zu halten. Kann irgend jemand daran zweifeln, dass die italienische Sozialdemokratie, an deren Spitze Turati und Modigliani stehen, im gegebenen Augenblick nichts anderes ist als eine Fraktion des italienischen Faschismus?“ („Lehren der deutschen Ereignisse und die Taktik der Einheitsfront“, Januar 1924) Dass die Komintern auf Grundlage ihrer ganzen Autorität, die sie bei Gramsci erlangt hatte, jetzt einen ultralinken Kurs verfolgte, war keine Hilfe für Gramsci, seine ultralinken Fehler vollständig zu überwinden. So polemisierte er 1926 (beim Lyoner Exilparteitag) gegen „die Behauptung, dass die Sozialdemokratie nicht als der linke Flügel der Bourgeoisie, sondern als der rechte Flügel des Proletariats angesehen werden müsse“. („Fünf Jahre Leben der Partei“, 24. 2. 1926) Zu diesem Zeitpunkt machte die Komintern aber bereits einen opportunistischen Zickzack. In Italien fand (nach dem Ausschluss aus der CGL durch die Reformisten im Februar 1925) die kommunistische Gewerkschaftsarbeit in zwei Strukturen statt. Die „Comitati di difesa sindacale“ (gewerkschaftliche Verteidigungskomitees) dienten als breite Einheitsfrontorgane gegen den Faschismus. Die „Comitati di agitazione“ (Agitationskomitees) sollten dagegen kommunistische Ideen verbreiten und dabei auch den Reformismus kritisieren. Aber die Komintern ging zu dieser Zeit so weit nach rechts, dass sie Kritik am Reformismus nicht für opportun hielt und ständigen Druck zur Auflösung der Agitationskomitees ausübte. Gramsci versuchte, diese Auflösung zu verzögern.

Gramsci und der Stalinismus

Dass die Kommunistische Internationale bis 1922 eine im Wesentlichen richtige Politik betrieben hatte und danach zwischen ultralinken und rechten Fehlern hin und her taumelte, war eine direkte Folge der Fraktionskämpfe in der Sowjetunion nach Lenins Tod und der beginnenden Herausbildung des Stalinismus. In einem Brief an führende Genossen vom 9. Februar 1924 skizzierte Gramsci einige politische Differenzen: Er wies darauf hin, dass Trotzki zwar vor 1917 organisatorisch Blöcke mit den Menschewiki gebildet, politisch aber immer links gestanden habe. Er habe schon 1905 eine sozialistische und Arbeiterrevolution in Russland für möglich gehalten, während die Bolschewiki damals noch für eine politische Diktatur des Proletariats zusammen mit der Bauernschaft im Rahmen des Kapitalismus waren. 1917 seien Lenin und die Mehrheit der Bolschewiki zu Trotzkis Position der Übernahme der politischen und wirtschaftlichen Macht umgeschwenkt, während Sinowjew und Kamenjew noch an der alten Position festhielten. In der aktuellen Diskussion gehe es darum, dass Trotzki und die Opposition einen Rückfall in die alte Position befürchteten (das bezog sich auf die Zugeständnisse an kapitalistische Elemente im Rahmen der „Neuen Ökonomischen Politik“ in der Sowjetunion). „Indem sie ein größeres Eingreifen der proletarischen Elemente in das Leben der Partei und eine Verminderung der Macht der Bürokratie fordern, wollen sie vor allem den sozialistischen und proletarischen Charakter der Revolution sichern.“ Gramsci wies also das Märchen zurück, dass es sich bei Trotzki und der Opposition um eine menschewistische Abweichung handle, er erkannte, dass es nicht um einen persönlichen Machtkampf um die Nachfolge Lenins, sondern um einen Konflikt zwischen der Arbeiterklasse und der sich herausbildenden Bürokratie ging. Er verstand, dass die russische Oktoberrevolution eine Bestätigung von Trotzkis Theorie der permanenten Revolution war. Umso erstaunlicher ist es, dass Gramsci sich wenige Monate später auf die Seite der Stalin-Fraktion schlug. Dabei mögen parteitaktische Überlegungen eine Rolle gespielt haben: Angesichts der Heftigkeit des Kampfes gegen die Opposition musste ihm klar werden, dass eine öffentliche Parteinahme zugunsten Trotzkis einen Feldzug des Apparats der Komintern nicht nur gegen ihn, sondern auch gegen die italienische Partei zur Folge haben würde, die er der vom Faschismus verfolgten und auf Hilfe der Komintern angewiesenen Partei nicht zumuten wollte. Außerdem neigte Gramsci dazu, die Opposition in der Sowjetunion mit der Opposition Bordigas in Italien gleichzusetzen, was etwas verblüfft, da Trotzki zu denen gehörte, die Gramsci von der Richtigkeit der Einheitsfrontpolitik überzeugt hatten. Dazu kam, dass Gramsci wohl die Vorwürfe gegen die Opposition akzeptierte, sie unterschätze die Bauernschaft. Eine richtige Haltung zur Bauernschaft war wegen deren zahlenmäßigem Gewicht für den Sieg der italienischen Revolution eine zentrale Frage. Und Gramsci war der Ansicht, dass die Lösung der Agrarfrage und die Lösung der Frage Süditaliens im Rahmen der Kapitalismus nicht möglich sei – damit vertrat er faktisch Trotzkis Theorie der permanenten Revolution bezogen auf Italien. Deshalb spielten in Gramscis Denken die Frage des Bündnisses der Arbeiterklasse mit der Bauernschaft (und den Intellektuellen) und die Hegemonie (Vorherrschaft) der Arbeiterklasse in diesem Bündnis eine große Rolle. Um dieses Bündnis zu sichern, müsse die Arbeiterklasse auch zu Zugeständnissen bereit sein. Sie dürfe keine „korporatistische“ Politik betreiben, also nicht nur die engen wirtschaftlichen Interessen der Arbeiterklasse vertreten. Offenbar dachte Gramsci, dass die Stalin-Fraktion mit ihren Zugeständnissen an die Bauern (vor allem an die Agrarkapitalisten, die Kulaken) eine solche Politik betreibe, während die Forderung der Opposition nach beschleunigter Industrialisierung zu wenig Rücksicht auf die Bauernschaft nehme. Das war eine schwere Fehleinschätzung. Erstens war das von der Opposition geforderte Wirtschaftswachstum realistisch. In der durch Weltkrieg und Bürgerkrieg zerrütteten sowjetischen Industrie genügten oft kleine Reparaturen oder Ersatzteile, um Fabriken wieder in Betrieb zu nehmen. Die vorgesehenen Wachstumsraten wurden in der Realität ständig übertroffen. Zweitens sollte die Bauernschaft, die große Masse der sowjetischen Bevölkerung, die Hauptnutznießerin der Industrialisierung sein. Durch das staatliche Außenhandelsmonopol war die Bauernschaft gezwungen, Industriewaren weit über dem Weltmarktpreis zu kaufen. Die Opposition wollte die Industrie modernisieren und so die Preise senken (die Schere zwischen den niedrigen Preisen der Agrarprodukte der Bauern und den Industrieprodukten schließen). Die Stalinfraktion ignorierte diese Probleme, bis die Schere zwischen Agrar- und Industriepreisen dazu führte, dass die Bauern ihr Getreide nicht mehr verkaufen wollten. Dann reagierte die Bürokratie in Panik mit Zwangsmaßnahmen, die im Terror der Zwangskollektivierung mit Millionen Toten gipfelten. Gramscis Vorstellung, dass die Stalinfraktion das Bündnis mit der Bauernschaft besser hegen und pflegen werde als die Opposition, erwies sich als grausamer Irrtum. Wenn Gramsci auch die Stalinfraktion gegen die Opposition unterstützte hieß das nicht, dass er kritiklos gewesen wäre. Die Differenzen in der Gewerkschaftsfrage 1926 wurden schon erwähnt. In diesem Jahr vertrat Gramsci auch eine andere Einschätzung der Weltlage. Während die Kominternführung die Stabilisierung des Kapitalismus jetzt überschätzte, nachdem sie sie 1924 ignoriert hatte, betonte Gramsci die zunehmenden Widersprüche. Auch Gramscis Umgang mit der Opposition war ein völlig anderer als der Stalins. Trotz der erheblichen Differenzen setzte sich Gramsci 1926 dafür ein, dass Bordiga offizieller Vertreter der PCd’I bei der Komintern in Moskau werden solle. Er war bereit, Oppositionellen gemäß ihrer Fähigkeiten wichtige Vertrauenspositionen zu geben und erwartete von ihnen, dass sie im Gegenzug ihre Fraktionstätigkeit einstellten. Mit Bordiga blieb er trotz der politischen Differenzen freundschaftlich verbunden, wie seine Briefe 1926/27 während des gemeinsamen Aufenthalts auf der Verbannungsinsel Ustica bezeugen. Sein Hauptvorwurf gegen die russische Opposition war, dass sie bei ihrer Opposition gegen Stalin die Parteistatuten verletzte. Er erkannte oder berücksichtigte nicht, dass Stalin zu einer loyalen Zusammenarbeit überhaupt nicht bereit war. 1924 hatte er verstanden gehabt, dass die Opposition die ArbeiterInnen gegen die Bürokratie vertrat. Statt zu erkennen, dass die Stalin-Fraktion umgekehrt immer bewusster die Interessen der Bürokratie gegen die ArbeiterInnen vertrat, ließ er seine Erkenntnis von 1924 wieder fallen. So verstand er nicht, dass in diesem Kampf die Verletzung von Parteistatuten und Gesetzen historisch und im Interesse der Arbeiterklasse vollkommen gerechtfertigt war. Abgesehen davon hatten innerhalb der Bolschewiki bis 1921 Fraktionen als legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung gegolten. Ihr Verbot 1921 war nur eine vorübergehende Maßnahme gewesen (und das Recht zur Bildung politischer Plattformen wurde gleichzeitig bestätigt). Jetzt wurde die „monolithische“ Partei, die Partei „aus einem Guss“ im Widerspruch zur historischen Realität zum bolschewistischen Modell für alle kommunistischen Parteien erklärt. Gramsci akzeptierte auch das.

Arbeiter- und Bauernregierung gegen Faschismus

Die PCd’I war unter den Schlägen des faschistischen Terrors und durch die sektiererische Politik unter Bordiga auf etwa 5.000 Mitglieder zusammengeschmolzen. Unter der Führung von Gramsci wuchs sie durch die Anwendung der Einheitsfrontmethode und die Fusion mit den linken SozialistInnen auf 27.000 Mitglieder (also knapp die Mitgliederzahl zur Zeit ihrer Gründung) an. Begünstigt wurde das durch die vorübergehende Änderung der politischen Lage im Sommer 1924. Die Ermordung des sozialdemokratischen Abgeordneten Matteotti am 10. Juni führte zu einer Welle der Empörung in der Bevölkerung. Die Anhänger der Faschisten waren demoralisiert. Bürgerliche, sozialistische und kommunistische Abgeordnete zogen aus dem Parlament aus und trafen sich separat. Als 1935 die stalinisierten Kommunistischen Parteien im Bruch mit der marxistischen Tradition für den Kampf gegen den Faschismus die Bildung von „Volksfronten“ (politischen Bündnissen auch mit demokratischen bürgerlichen Parteien) und Volksfrontregierungen propagierten, beriefen sie sich auch auf Gramsci – zu Unrecht. Gramsci hielt es zwar für wahrscheinlich, dass der Sturz des Faschismus nicht unmittelbar mit dem Sturz des Kapitalismus zusammenfallen, sondern dass es ein demokratisches Zwischenspiel geben werde (so wie es in Russland 1917 erst die Februar- und dann die Oktoberrevolution gab). Er befürwortete auch, zur Mobilisierung gegen den Faschismus demokratische Forderungen wie die Einberufung einer verfassungsgebenden („konstituierenden“) Versammlung aufzustellen. Aber das hieß nicht, die Bildung einer bürgerlich-demokratischen Regierung zu propagieren oder sich gar daran zu beteiligen (wie das die Italienische Kommunistische Partei nach dem Sturz des Faschismus dann tatsächlich tat). Stattdessen propagierte die PCd’I die Bildung einer „Arbeiter- und Bauernregierung“. Die Parole der „Arbeiterregierung“ hatte die Komintern 1922 als Krönung der Einheitsfrontpolitik aufgestellt, als Angebot an die sozialdemokratischen ArbeiterInnen, nicht nur gemeinsam im Betrieb und auf der Straße zu kämpfen, sondern auch gemeinsam die Regierung zu übernehmen – vorausgesetzt, die Sozialdemokraten (oder Teile von ihnen) wären bereit, mit dem Kapitalismus zu brechen (die Kapitalisten zu enteignen, den kapitalistischen Staatsapparat zu entwaffnen, die ArbeiterInnen zu bewaffnen etc.) Im Sommer 1923 erweiterte die Komintern dann die Parole zur „Arbeiter- und Bauernregierung“. Damit war etwas grundlegend anderes als eine Koalitionsregierung aller Arbeiter- und Bauernparteien (oder gar ein Bündnis mit bürgerlichen Parteien, die von ArbeiterInnen und BäuerInnen gewählt werden) im Rahmen des Kapitalismus gemeint. Gramsci erklärte 1924, die Propagierung einer Arbeiter- und Bauernregierung sei jetzt so wichtig wie die Forderung nach Arbeiterräten und Arbeiterkontrolle in den Jahren 1919/20. Wie wenig man mit bürgerlichen Parteien gegen den Faschismus kämpfen konnte, zeigte die Matteotti-Krise: Gramsci forderte einen Generalstreik. Aber der bürgerliche Widerstand bestand vor allem darin, den König untertänigst zu bitten, Mussolini als Ministerpräsident zu entlassen. Die Massen zu mobilisieren, lehnten die Führer bürgerlicher Parteien ab, aus Angst, eine solche Bewegung könnte den Rahmen des Kapitalismus sprengen. Die Empörung der Massen ebbte ab. Am 3. Januar 1925 übernahm Mussolini öffentlich die „moralische, politische und historische“ Verantwortung für den Mord an Matteotti. Das faschistische Regime ging gefestigt aus der Krise hervor, die Unterdrückung der politischen Gegner wurde weiter verschärft, die Arbeiterorganisationen schließlich völlig zerschlagen. Dabei wurde auch Gramsci trotz seiner Immunität als Abgeordneter am 8. November 1926 verhaftet und im folgenden Jahr zu über zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt. Wolfram Klein ist Mitglied des SAV-Bundesvorstands und Autor verschiedener Broschüren, unter anderem zur Russischen Revolution, zum Leben von Malcolm X und zu Leben und Werk Clara Zetkins. Er promoviert zur Geschichte des Trotzkismus nach dem Zweiten Weltkrieg und lebt in Plochingen bei Stuttgart.