„Die griechische Gesellschaft kocht vor Wut“

Interview mit dem griechischen Marxisten Nikos Anastasiadis über die Stimmung gegenüber Deutschland in der griechischen Bevölkerung


 

Die deutschen Medien berichten ausführlich über eine große Wut und Verärgerung gegenüber Deutschland in der griechischen Gesellschaft. Fotos aus griechischen Zeitungen wurden veröffentlicht, auf denen Angela Merkel als Nazi dargestellt wird. Wie schätzt Du die Gefühle und Ansichten griechischer ArbeiterInnen gegenüber Deutschland ein?

Die griechische Gesellschaft kocht vor Wut. Ich will erklären warum: Die Politik der griechischen Regierung und der Troika hat in den letzten zwei Jahren den Lebensstandard griechischer ArbeiterInnen durchschnittlich um dreißig Prozent fallen lassen – und weitere Verschlechterungen werden noch kommen. Diese Politik hat Millionen Menschen in die Arbeitslosigkeit und in Verzweiflung gedrängt. Griechische ArbeiterInnen haben aber niemals „über ihre Verhältnisse gelebt“ – offizielle EuroStat-Zahlen zeigen, dass griechische ArbeiterInnen die längsten Arbeitszeiten haben und weniger Lohn erhalten, als die meisten Beschäftigten in Europa.

All diese Opfer helfen auch nicht den öffentlichen Haushalten (die permanent schlechter ausgestattet werden), sondern dienen nur dazu die Banken und Besitzer von Staatsanleihen zu retten – griechische, deutsche und andere.

Vor diesem Hintergrund wird die deutsche politische und wirtschaftliche Elite so wahrgenommen, dass sie auf die Durchsetzung dieser arbeiterfeindlichen Austeritätspolitik drängt, die eine Sackgasse ist. Natürlich erwachsen daraus Empörung und Wut gegen diese Elite. Die Menschen sehen, dass die deutsche Regierung und die deutschen Banken die zerstörerischen Memoranda fordern. Wenn man dann noch die ironischen und beleidigenden Äußerungen von deutschen Offiziellen hört, kann man sich erklären, warum es eine solche Wut gegen deutsche Politiker gibt.

Einige Linke ziehen eine Parallele zwischen der heutigen Einflussnahme Deutschlands auf Griechenland und der Besetzung während des Zweiten Weltkriegs. Denkst Du, dass solche Vergleiche gerechtfertigt sind?

Um diese Frage zu beantworten, muss man etwas genauer hinschauen. Die EU hatte ja niemals „Solidarität“ oder „Kooperation“ zum Ziel, wie die Regierungen es darstellen. Sie war immer ein Vehikel für die stärkeren kapitalistischen Staaten, um die ärmeren Länder zu dominieren. In den ersten zehn Jahren des Euro wurde die griechische Wirtschaft von ausländischem Kapital geplündert, was zur Kontrolle von bis zu einhundert Prozent bestimmter Waren auf dem griechischen Markt führte. Dies geschah durch die Privatisierung vormals öffentlicher Betriebe (wie zum Beispiel die Übernahme des griechischen Telekommunikationsunternehmens durch die Deutsche Telekom) oder durch eine Dominanz mittels Niedrigpreisen. In anderen Fällen (z.B. Siemens) setzten die Kapitalisten das Mittel der Korruption ein, um staatliche Verträge abzuziehen. Die griechischen Kapitalisten haben das Spiel mitgespielt, weil sie die politische Unterstützung der EU zur Steigerung ihrer Profitabilität durch Angriffe auf die Löhne und Rechte der griechischen ArbeiterInnen erhielten. Und dann gab es den einen oder anderen „Solidaritätsfonds“, um die wahre Situation zu verschleiern.

Diese Ausplünderung wird nun brutal verstärkt. Die Troika verlangt in den nächsten Jahren Privatisierungsmaßnahmen in Höhe von 46 Milliarden Euro. Gleichzeitig fördert die Troika mit ihrer die wirtschaftliche Depression verschärfenden Politik multinationale Firmen, die aufgrund ihrer Größe und besseren finanziellen Ausstattung die Schließung von Konkurrenten herbei führen können. Und auch die Schließung verschiedener öffentlicher Einrichtungen schafft einen neuen Markt für private Anbieter zum Beispiel im Bildungs- und Gesundheitswesen.

Gleichzeitig verlangen die Banken, die Anleihebesitzer und die EU-Elite, dass die Wirtschaftspolitik von durch die Troika eingesetzten Technokraten ausgeführt wird und nicht durch gewählte Repräsentanten der griechischen Bevölkerung. Es gibt also so etwas wie eine ökonomische Besetzung und eine Ausplünderung der Ressourcen Griechenlands. Das erinnert an neo-koloniale Methoden und auch an die durch die Nazis eingesetzte Verwaltung während der Besetzung. Es ist klar, dass die Troika selbst grundlegende demokratische Rechte nicht toleriert. Denn ihre Politik ist so unpopulär und sie hat offensichtlich Angst vor der Reaktion einer verzweifelten Bevölkerung.

Natürlich gibt es keinen Massenmord an den DemonstrantInnen auf den Plätzen und die Menschen können frei diskutieren, sich organisieren und protestieren. Dementsprechend ist die Lage natürlich ganz anders als in den 1940er Jahren. Es gibt auch eine große Schicht von „Kollaborateuren“, die modernen Quislings, die griechischen Kapitalisten, Banken und politischen Führer. Wir sollten nicht vergessen, dass diese Politik auch die griechischen Banken rettet (neben den deutschen, französischen etc.) und dass die griechischen Kapitalisten massiv von den Kürzungsprogrammen profitieren.

Welche politischen Kräfte propagieren anti-deutsche Gefühle? Und wie geht die politische Linke damit um?

Es gibt einen gewissen Trend zum Nationalismus, der auch mit der allgemeinen anti-deutschen Stimmung zusammen hängt. Dieser Nationalismus wird natürlich von den Rechtspopulisten und Faschisten propagiert, aber auch von einem Teil der Linken. Aber bei den Bewegungen und Demonstrationen der letzten Zeit war die dominierende Stimmung eine internationalistische und es gibt ein Verständnis für die Notwendigkeit eines gemeinsamen Kampfes auf europaweiter Ebene. Aber je häufiger die europäische Elite ihre Provokationen äußert, desto stärker wird ein Gefühl „nationaler Empörung“ und der Eindruck, dass „die Griechen“ angegriffen werden. Ein Teil der Linken hat diesem Druck nachgegeben und charakterisiert den Kampf als „nationalen Befreiungskampf“. Diese Kräfte sind dann gegenüber Bündnissen mit dem angeblich „nationalen“ Teil des griechischen Kapitals gegenüber aufgeschlossen.

Die Massenparteien der Linken haben aber nicht diese Haltung. Sowohl die KKE (Kommunistische Partei Griechenlands) als auch SYRIZA (Bündnis der radikalen Linken) betonen, dass der Nationalismus eine Sackgasse ist. Aber ihr Internationalismus ist abstrakt, sie stellen keine Forderungen auf, die die ArbeiterInnen Europas tatsächlich vereinigen könnten und sie bemühen sich nicht, europaweite Kämpfe zu koordinieren.

Was kann die deutsche Arbeiterbewegung und die Partei DIE LINKE tun, um den griechischen Arbeiterinnen und Arbeitern zu zeigen, dass nicht alle Deutschen die neo-koloniale Politik Merkels unterstützen?

Es ist wichtig in beiden Ländern gegen nationalistische Stimmungen zu kämpfen. Es ist zu erwarten, dass in den nächsten Jahren die Krise tiefer wird und sich die Spannungen zwischen den europäischen Nationalstaaten verschärfen. Dann können die herrschenden Klassen Nationalismus schüren, um von ihrem eigenen Versagen abzulenken. Das kann sowohl in Deutschland als auch in Griechenland geschehen. Wenn die Arbeiterbewegung und die sozialen Bewegungen sich darauf nicht vorbereiten, kann es passieren, dass nationalistische Stimmungen sich weiter ausbreiten. Das müssen wir vermeiden, denn es würde die ArbeiterInnen und die Jugend desorientieren.

Ich denke, dass die Gewerkschaften und die Linkspartei in Deutschland zum Beispiel die Initiative für gemeinsame Erklärungen von ArbeiterInnen beider Länder ergreifen könnten. Es sollten auch koordinierte Demonstrationen und sogar Streiks durchgeführt werden. Man muss erklären, dass Deutschland (und auch Griechenland) keine homogenen Gesellschaften sind.

In einer kürzlichen Umfrage haben achtzig Prozent der Befragten negative Gefühle gegenüber Deutschland angegeben. Das kann sich aber ändern, wenn die Arbeiterbewegung und die Linke einen klaren Klassenstandpunkt einnimmt und eine Einheit der ArbeiterInnen gegen die Einheit der Bosse und Politiker propagiert.

Das Gespräch führte Sascha Stanicic.