ACTA – Bald ad acta?

Ein Kommissar in Bedrängnis


 

von Tanja Niemeier, Brüssel

Die Europäische Kommission "is not amused". Da war ACTA – das internationale Handelsabkommen zur Bekämpfung von Produkt- und Markenpiraterie – schon beinahe in trockenen Tüchern und plötzlich das:

Ende Januar – nach der Unterzeichnung ACTA´s in Tokio – quellen die Mailboxen der Europaabgeordneten aller Fraktionen über mit E-Mails von ACTA- Gegnern und die Website des Europäischen Parlamentes wird einen Tag lang platt gelegt.

Parallel zu dem "stillen" – aber sehr effektivem- E-Mail Protest entwickeln sich Demonstrationen und Proteste in ganz Europa. Der rumänische Präsident Emil Boc ist u.a. wegen der massiven Anti ACTA Proteste zurückgetreten, in Bulgarien hat der verantwortliche Minister seinen Rücktritt angeboten und in vielen anderen Ländern ist der Ratifizierungsprozess gestoppt worden. Ende Februar hat das Europarlament 2,4 Millionen Unterschriften von ACTA entgegengenommen.

Schadensbegrenzung

Die Zunahme der Proteste korreliert mit der Zunahme der Publikationen und Mitteilungen der Kommission zu ACTA, in denen sie um Aufklärung der "Missverständnisse" zu ACTA bemüht ist und den Abgeordneten eine Argumentationslinie zur Beantwortung ihrer E-Mails an die ACTA Gegner mitgeben will. Am 30. Januar richtet sich der EU Kommissar Karel De Gucht, verantwortlich für die ACTA Verhandlungen, in einem Brief an die Mitglieder des parlamentarischen Ausschusses für internationalen Handel, der seitens des Parlamentes als erstes über die Zustimmung oder Ablehnung von ACTA zu entscheiden hat.

Darin schreibt er: "In den letzten Tagen haben Teile der Zivilgesellschaft ihre Kampagne gegen dieses Abkommen intensiviert. Wie wir bereits zuvor gesehen haben – trotz der Anstrengungen die die Kommission unternommen hat, um alle relevanten Fakten zur Verfügung zu stellen – basieren sich ihre Aktionen auf Missverständnisse und möglicherweise selbst auf gewollte Falschinformationen über den Inhalt dieses Abkommens". (Übersetzung aus dem Englischen durch die Verfasserin dieses Artikels)

Hier spricht die Arroganz eines der meist ausgesprochenen Vertreters der Interessen des europäischen Kapitals und des Neoliberalismus. Ein Mann, der offensichtlich weniger besorgt ist über die Besorgnisse Hunderttausender Demonstranten als über die Besorgnisse der europäischen "copy-rights" Industrie. "La quadrature du net", eine Organisation, die für die Rechte von Internetbenutzern einsteht, erklärt, dass ACTA ein direktes Nebenprodukt der Lobbyoffensive der Internationalen Handelskammer ist. Der Vorsitzende der internationalen Handelkammer war zu diesem Zeitpunkt der Firmenchef von Vivendi Universal, dessen Frau, Abgeordnete des Europäischen Parlamentes, als Berichterstatterin für die Durchsetzungsrichtlinie für geistiges Eigentum (IPR Enforcement Directive (IPRED)) fungierte.

Dieselbe Arroganz können die gewählten Vertreter der europäischen Institutionen, die Abgeordneten des Europäischen Parlamentes angesichts der fortdauernden Proteste und der möglichen Auswirkungen auf ihre Wiederwahl im Moment nicht erlauben. So erheben sich im Moment nicht nur die Stimmen derjenigen Abgeordneten, die das ACTA Abkommen von Beginn an abgelehnt haben, sondern auch von denjenigen, die aus Ländern kommen, in denen die Anti – ACTA Proteste am stärksten waren.

Womit erneut der Beweis dafür geliefert wäre, dass die treibende Kraft für Veränderungen und Opposition auf der Strasse liegt, in der aktiven Einmischung der Bevölkerung in ihre eigenen Geschicke. Weiter so, kann ich nur sagen.

Der Inhalt des ACTA Abkommens: Mythos und Realität

In den letzten Tagen haben öffentliche Aussprachen zu ACTA im Europäischen Parlament stattgefunden. Es gab eine direkte Aussprache mit Karel de Gucht im internationalen Handelsauschuss und einen "Workshop" mit verschiedenen ACTA-"Experten", der auch im Internet live zu verfolgen war.

Einer der Vorwürfe, die sich die Kommission in der ACTA Debatte gefallen lassen muss, ist die fehlende Transparenz der Verhandlungen. Kommissar De Gucht ist nicht einverstanden und erklärt, dass er den ACTA Text freigegeben hat, kurz nachdem er das Amt des EU Kommissars übernommen hat (April 2010) Nun ist es aber so, Herr Kommissar, dass die Kommission bereits seit 2008 über ACTA verhandelt.

Die Freigabe des Textes, so erklären viele NGOs, ist erst erfolgt nachdem Teile des Textes geleckt wurden.

"Alles was vor ACTA legal war, bleibt legal"

Das ist einer der Standardsätze, mit denen die Kommission die Gemüter besänftigen will. Es ist richtig, dass in der letzten Version des ACTA keine Rede ist von der Einführung eines "three strike systems", auf dessen Grundlage Internetnutzern, die "illegal" Material downloaden, Dokumente teilen etc., der Zugang zum Internet versagt werden kann. Wahr ist aber auch, dass so ein System in Frankreich bereits besteht.

Es ist auch wahr, dass der ACTA Text keine direkte Anweisungen gibt, um Privatpersonen an den Grenzen festzuhalten und zu überprüfen, ob sich auf ihren ipods und laptops illegal Heruntergeladenes Material befindet. ACTA soll sich nur mit Fälschungen im "gewerblichen Maßstab" beschäftigen und bei der Rechtsverfolgung "Verhältnismäßigkeit" anwenden.

Darum wird der Kommissar auch nicht müde zu behaupten, dass es sich bei ACTA nicht um Big Brother handelt und das internet service provider nicht zur neuen Internet Polizei gemacht werden sollen. Dabei bezieht er sich auf entsprechende Urteile des Europäischen Gerichtshofes im Fall Sabam gegen Netlog.

Aber: "Nichts Genaues weiß man nicht". Die Sprache des Textes ist so vage, dass alles kann und nichts muss. Und deshalb kann es auch keine Entwarnung geben.

An der Aussage "Alles was vor ACTA legal war, bleibt legal" oder im Umkehrschluss: "Alles was vor ACTA illegal war bleibt illegal" ist aber trotzdem was dran. Es gibt bereits verschiedene europäische Richtlinien zur Durchsetzung von geistigen Eigentumsrechten, dass sich selbst Befürworter in der Debatte zum "Schutz des geistigen Eigentums" fragen, welchen Mehrwert ACTA darstellt. Dasselbe gilt für die Strafverfolgung von Piraterie. Auch in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union gibt es bereits genug Gesetze, die "Internetpiraterie" gerichtlich verfolgen können.

"Ping Pong" zwischen den EU Mitgliedsstaaten und der Europäischen Kommission

Es gab einen Moment in der Diskussion mit dem Kommissar, bei dem ich seine Entrüstung in der Art wie die Debatte geführt wird, teilen konnte.

Das war der Moment, als er sich echauffierte über die Haltung verschiedener Staatsoberhäupter und Regierungen, die – wie zum Beispiel der polnische Präsident Donald Tusk – von "ACTA Erpressung" reden. Die ACTA Verhandlungen seitens der EU sind nicht alleine von der Europäischen Kommission geführt worden. Handel ist eine EU Kompetenz, Strafrecht ist Sache der Mitgliedsstaaten.

Deshalb sind die Regierungen der EU Mitgliedsstaaten, die über ihre Unterhändler zunächst ohne Probleme den ACTA Vertrag in Tokio unterzeichnet haben, richtigerweise ebenso verantwortlich für ACTA wie die EU Kommission.

Die begrenzten Argumente der ACTA Gegner im Europäischen Parlament.

Der Widerstand gegen ACTA im Europäischen Parlament nimmt deutlich zu. Dabei ist aber auch klar, dass eine deutliche Mehrheit der Abgeordneten die Notwendigkeit eines stärkeren Schutzes von geistigem Eigentum befürwortet. Vor allen Dingen durch den Druck der Straße wollen sich viele der Abgeordneten nun versichern, ob ACTA nicht doch fundamentale bürgerliche und demokratische Freiheiten antastet.

Andere stellen sich die Frage, ob ACTA überhaupt Sinn macht, weil die Länder, in denen Produktpiraterie in großem Maßstab stattfindet, keine Unterzeichner des ACTA Abkommens sind (zum Beispiel Brasilien, Indien und China – Länder, die gleichzeitig die größten Konkurrenten der europäischen Industrie sind). Teile der progressiveren ACTA Gegner befürchten deshalb, dass die EU diese, und andere weniger entwickelte kapitalistische Länder unter Druck setzen werden, ACTA zu unterzeichnen, wenn sie in der Zukunft andere bilaterale Handelsverträge mit diesen Ländern abschließen wollen.

„Intellektuelles Eigentum ist der Rohstoff Europas“

Kommen wir zum Kern der Sache. Mit ACTA will die europäische Kommission die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie sicher stellen und die Profite der Großkonzerne schützen. Mit dieser Mission ist das Europaparlament durchaus einverstanden. In einem Erschliessungsantrag des Parlamentes vom 24. November 2010 zu ACTA heißt es:

Sie „betrachtet ACTA als ein Instrument zur Steigerung der Wirksamkeit der bisherigen Normen, das die Ausfuhren aus der EU begünstigen und die Inhaber von Rechten schützen wird, wenn sie auf dem Weltmarkt aktiv sind, wo sie gegenwärtig unter systematischen und weit verbreiteten Verstößen gegen ihre Urheberrechte, Marken, Patente, Muster und geografische Herkunftsangaben zu leiden haben; “

Die Kommission erklärt auch, dass die europäischen Zollbehörden eine Verdreifachung des Volumens von gefälschten und Piraterieprodukten im Zeitraum zwischen 2005 und 2010 festgestellt haben.

Studien der OECD zu diesem Thema ergeben, dass der globale Handel mit nachgemachten Produkten zwischen 2000 und 2007 um 150 Milliarden USD angewachsen ist und mittlerweile 250 Milliarden USD beträgt. Aus kapitalistischer Sicht macht dieses Abkommen deshalb auf jeden Fall Sinn.

Und sicherlich- mit 250 Milliarden USD könnte man viel Nützliches anfangen, Umwelt- und Gesundheitsforschung im Interesse der Mehrheit der Weltbevölkerung betreiben, sinnvolle Arbeitsplätze schaffen, Armut und Hunger bekämpfen – und auch vielen Künstlern und Schriftstellern ein gesichertes Einkommen garantieren.

Dafür würde das Geld aber nicht verwendet werden. Es würde die Taschen der großen Konzerne füllen. Deshalb macht ACTA für die Mehrheit der Bevölkerung keinen Sinn.

ACTA vor den Europäischen Gerichtshof ? Was jetzt?

Am 22. Februar hat die Europäische Kommission angekündigt, dass sie ACTA an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) überwiesen hat. Dieser soll jetzt feststellen, ob ACTA tatsächlich in Übereinstimmung ist mit europäischem Recht. Hat die Kommission eventuell selbst Zweifel an ihrem eigenen Abkommen, dass sie öffentlich weiter mit großem Selbstvertrauen verteidigt? Wohl eher nicht. Es sieht danach aus, dass sie Zeit schinden will. Da verschiedene Mitgliedsstaaten der EU aufgrund der ACTA Proteste das Ratifizierungsabkommen ohnehin gestoppt haben, ist die Aussicht das ACTA in kürzester Zeit wirksam wird gegen null gesunken. Bis der EuGH ein Urteil in Sachen ACTA verkündet, gehen mehrere Jahre ins Land. Bis dahin, so scheint das Kalkül der Kommission, haben sich die Gemüter vielleicht beruhigt und kann sie ihr Projekt – die Verteidigung der Interessen des europäischen Kapitals zum Ende führen. Das Parlament hat jetzt darüber zu entscheiden, wie es selbst verfahren will. Der Berichterstatter für den ACTA Bericht, David Martin von der Labour Party aus Schottland, schlägt vor, dass das Parlament ACTA ebenfalls an den EuGH überweist. Eine andere Möglichkeit ist, ACTA so schnell wie möglich durch das Parlament abstimmen zu lassen. Die Chancen, dass das Parlament ACTA zu diesem Zeit ablehnen wird, stehen gut.

Aber selbst wenn das Parlament ACTA ablehnen würde ist der Kampf nicht gewonnen. Solange es Kapitalismus, Konkurrenz und Profitlogik gibt, wird die Kommission ACTA nur neu verpacken und andere Vorschlägen zum Schutz des geistigen Eigentums (lese: zum Schutze des Profites einiger weniger) auf den Tisch bringen.

Deshalb: weiter Druck machen für die Abschaffung des bestehenden Urheberrechts zum Nutzen privater Konzerne:

Emails können auch direkt an den EU Kommissar karel.de-gucht@ec.europa.eu und an den Berichterstatter für das Europaparlament david.martin@europarl.europa.eu geschickt werden.