Syrien: Acht Monate Massenprotest treffen auf blutige Gewalt

Für einen echten Regimewechsel ist eine vereinigte von der Arbeiterklasse geprägte Bewegung nötig


 

Die Artikel erschien zuerst auf www.socialistworld.net

von Judy Beishon, aus „The Socialist“, der Wochenzeitung der Socialist Party (CWI England und Wales)

Granatenangriffe von desertierten Soldaten der Syrischen Armee auf die Zentrale der regierenden Baath-Partei in Damaskus, Angriffe auf das nachrichtendienstliche Zentrum der Luftwaffe einige Tage zuvor; sie markieren eine neue Phase des Aufstandes in Syrien. Das zeigt den Beginn eines bewaffneten Gegenschlags, nachdem acht Monate lang die meist unbewaffneten Proteste gegen die Regierung von der Staatsmacht mit brutaler Gewalt beantwortet wurden.

Immer mehr Waffen werden über die langen, schlecht bewachten Grenzen ins Land geschmuggelt, vor allem aus dem Libanon und dem Irak. Obwohl es im Vergleich zur Größe der Streitkräfte des Regimes immer noch relativ wenige desertierte Soldaten gibt, werden es stetig mehr, die sich locker in der Freien Syrischen Armee organisieren. Einige behaupten, sie seien von regimetreuen Soldaten nicht vom Desertieren abgehalten, oder sogar unterstützt worden (Guardian vom 19.11.2011).

Demonstrationen gegen den syrischen Präsidenten Bashar al-Assad in Homs

Das meiste Blutvergießen im ganzen Land wird von der Polizei und den Streitkräften unter den Demonstranten angerichtet, die sich, vom Arabischen Frühling inspiriert, verzweifelt nach einem Ende des repressiven und autoritären Regimes sehnen. Die UNO spricht von über 2500 getöteten Zivilisten, einige Schätzungen gehen von weit mehr Toten aus. Ein Bericht legt nahe, dass über 5000 Zivilisten allein in der Stadt Homs, der drittgrößten des Landes, ermordet wurden.

Die Stadt Homs steht derzeit unter andauernder militärischer „Besatzung“, 150 Tote wurden bisher in diesem Monat (November) gemeldet. Aber trotz der gewaltigen Risiken, die das Demonstrieren mit sich bringt, dauern die entschlossenen Proteste in den Vorstädten an.

Gefährlich für die Oppositionsbewegung sind sind die Ansätze von Spaltung in einigen Regionen, die durch die Brutalität und Provokation der staatlichen Sicherheitskräfte hervorgerufen wurden. Insbesondere in Homs entwickeln sie sich zwischen unterschiedlichen Teilen der Bevölkerung, die komplex aus unterschiedlichen religiösen, ethnischen und nationalen Hintergründen zusammengesetzt ist.

International spekulieren Medienberichterstatter jetzt, ob dies den Beginn eines blutigen und sektiererischen Bürgerkriegs bedeuten könnte. Obwohl ein solch verheerendes Szenario möglich scheint, wenn die syrischen Massen nicht beginnen, eigene demokratische, nicht sektiererische Strukturen aufzubauen, zeichnet sich die momentane Situation durch große Demonstrationen gegen das Regime im ganzen Land aus, die Arbeiter und Armee sowohl aus den verschiedenen kleineren Bevölkerungsgruppen als auch der sunnitischen Mehrheit anziehen.

Eine vereinigte Bewegung angeführt von der Arbeiterklasse hat die Kraft, Unterschiede zu überwinden, indem sie gemeinsame Verteidigungsstrukturen auf unterster Ebene aufbaut und ein Programm entwirft, das einen „Regimewechsel“ im Interesse der großen Mehrheit herbeiführt, und nicht in dem der syrischen Kapitalistenklasse und dem des ausländischen Imperialismus.

Die Arabische Liga

Die regional wie die weltweit Mächtigen fürchten die sich entwickelnde Lage, aber sie bereiten sich auch darauf vor, von ihr zu profitieren. Die Arabische Liga forderte ein Ende der schweren Repression in Syrien und wollte 500 „Beobachter“ entsenden. Da diese „Einmischung“ vom syrischen Regime zurückgewiesen wurde, stimmte die Liga für Sanktionen gegen Syrien und schloss es aus der Arabischen Liga aus.

Es ist allzu offensichtlich, dass diese größtenteils autokratischen und feudalen arabischen Staatsoberhäupter nicht aus Sorge um die Menschenrechte handeln, Das sieht man an ihren Taten, nicht zuletzt der Unterdrückung in Saudi-Arabien und seiner militärischen Hilfe, den Protest im Nachbarstaat Bahrain zu zerschlagen. Ihre Kritik am syrischen Präsidenten Assad rührt teilweise von ihrem Wunsch her, sich selbst vor der Empörung ihrer eigenen Bevölkerung angesichts der Massaker in Syrien und deren großen Sympathie für die Massenaufstände in Tunesien und Ägypten zu schützen. Aber sie haben auch ihre eigenen geo-strategischen Interessen im Blick, und sind nicht einverstanden mit einem aus ihrer Sicht „ungeschickten“ Regime mit Kontakten zum Iran. Und sie fürchten die Konsequenzen für die Region, wenn Assad keine deutlichen Zugeständnisse macht oder mit Hilfe eines „ordentlichen“ Machtwechsels abtritt – die dadurch verursachten Spannungen und Konflikte könnten sich im gesamten mittleren Osten ausbreiten.

König Abdullah von Jordanien sagte, dass er zurücktreten würde, wenn er sein langjähriger Freund Assad wäre. Und, er warnte davor diesen, wie er selbst autoritäre Herrscher, durch einen Strohmann aus der Baath-Partei zu ersetzen, da er wohl erkannt hat, dass dieses vermutlich nicht zu „Stabilität“ führen würde. Die seit neuestem wieder erstarkenden Massendemonstrationen in Ägypten zeigen, dass eine Warnung aus Sicht der herrschenden Eliten im Mittleren Osten angebracht ist.

Die Europäische Union (EU) hat Sanktionen über einzelne syrische Politiker, ein Waffenembargo und einen Importstop für Öl verhängt. Diese und die US-amerikanischen Maßnahmen werden unvermeidlich Auswirkungen auf die schwindende Macht von Assads Regime haben. Die EU war 2010 Syriens größter Handelspartner, die Geschäfte machten 22,5% des syrischen Handels aus. Auch der Tourismus, der vor dem Arabische Frühling 12% der syrischen Wirtschaft ausmachte, wurde schwer getroffen. Insgesamt steigt die Arbeitslosigkeit an und die Armut verschlimmert sich. In einigen Fällen werden Gehälter nicht ausgezahlt.

Gleichgewicht der Kräfte

Wie lange kann Assad unter diesem Umständen fortfahren? Die von der alevitischen Minderheit dominierte, aber auch die sunnitische Bevölkerungsmehrheit und die christliche Minderheit einschließende Elite des Landes unterstützt ihn noch, ebenso wie die Anführer des Militärs und des Sicherheitsapparates.

Sie verfügen über beträchtliche Waffenvorräte aus Russland – aktuelle Verträge über Waffenkäufe aus Russland haben den Umfang von 2,5 Milliarden Dollar. Zudem waren sie im Stande, hunderttausende „Unterstützer“ für Assads Regime für eine Demonstration in Damaskus zu versammeln. Jedoch stellte sich heraus, dass viele sich gezwungen fühlten, teilzunehmen, um Strafen zu entgehen.

Die Times vom 15.11.11 berichtete, dass am 13. November ein 14-jähriger Schüler erschossen wurde, der eine massenhafte Verweigerung, für Assad zu demonstrieren, an seiner Schule anführte.

Zudem sind die großen oppositionellen Dachorganisationen untereinander in fast jedem Punkt zerstritten, auch in der Frage, ob man ausländische Interventionen begrüßen soll, ob man mit dem Regime verhandeln soll, und ob der Aufstand bewaffnet werden soll. Die im Exil lebenden Oppositionellen des Syrischen Nationalen Rates (SNR), der in Istanbul ansässig ist, rufen zu einer internationalen Intervention auf, um „Zivilisten zu schützen“. Obwohl der SNR Assads Sturz wünscht, wird berichtet, er unterstütze „die Erhaltung staatlicher Institutionen, besonders des Militärs“, was die prokapitalistische Ausrichtung des Rates zeigt.

Zu den Organisationen, die im SNR beteiligt sind, zählen die Syrischen Lokalen Koordinationskommittees, die Generalkommission der Syrischen Revolution, und die Muslimbruderschaft.

Das Nationale Koordinationskommittee (NKK), das ebenfalls verschiedene oppositionelle Organisationen umfasst, lehnt ausländische Interventionen berechtigterweise ab, aber es spricht sich allein für Demonstrationen aus, um Druck auszuüben und so die Brutalität des Militärs zu beenden, um dann mit dem Regime in „Dialog“ zu treten, um Reformen zu erreichen und nicht etwa seine komplette Beseitigung zu fordern.

Ein sozialistisches Programm ist nötig

Insgesamt ist die oppositionelle Bewegung zersplittert und verfügt nicht über ein Programm, das Arbeiterklasse und Mittelklasse vereinen und ihnen mit Hilfe einer geordneten Strategie von Massenaufständen und Generalstreiks (sowohl in den größten Städten Damaskus und Aleppo als auch in allen anderen Gebieten) zu ermöglichen könnte, Assad zu stürzen. Dieses Programm muss auch eine wirkliche Alternative zum herrschenden Regime aufzeigen, um die Armut und die Spaltung der Bevölkerung zu beenden: ein sozialistisches System mit einer echten Demokratie und der Vergesellschaftung der wichtigsten Ressourcen des Landes.

Wenn man die vergangenen Jahrzehnte der Unterdrückung politischer Parteien und basisdemokratischer Gewerkschaften betrachtet, ist der derzeitige Zustand der Bewegung nicht überraschend. Aber diese demokratischen Strukturen könnten sehr schnell aufgebaut werden, denn sie werden in den nächsten Wochen und Monaten dringend gebraucht.

Sie sollten unbedingt „Hilfe“ von weltweiten und regionalen Mächten zurückweisen, besonders vom NATO-Mitglied Türkei – ebenfalls einem Regime, das seine oppositionellen Gruppen unterdrückt, während es sich als großer Beschützer der Oppositionellen in Syrien ausgibt.

Die imperialistischen Interventionen im Irak, in Afghanistan und Libyen, haben deutlich gezeigt, dass das eigentliche Ziel dieser Mächte Ansehen, Einfluss, Handelsbeziehungen und die Aneignung von Geschäften und natürlichen Ressourcen ist. Die syrischen ArbeiterInnen sollten sich allein auf die Solidarität und Hilfe von internationalen demokratischen Arbeiterorganisationen verlassen.

In Bezug auf „Gewaltfreiheit“ und Bewaffnung ist der einzige Weg, das Blutvergießen einzudämmen und schließlich ganz zu stoppen, das Recht zu unterstützen, bewaffnete und demokratisch organisierte Gruppen zum Selbstschutz einzusetzen – in jedem Viertel und an jeder Arbeitsstätte.

Den Panzern und Raketen des Regimes können die Aufständigen nicht ohne große Verluste unbewaffnet begegnen. Vereinte, bewaffnete Verteidigung ist dringend notwendig.

Abseits von militärischer Intervention

Bislang haben die westlichen Mächte jegliche militärische Intervention abgelehnt – auch beschränkte Maßnahmen wie eine „Flugverbotszone“ entlang der Grenzen. Obwohl sie im Rückblick ihre Intervention in Libyen als Erfolg betrachten, standen sie doch kurz davor, in einen langwierigen und richtungslosen Konflikt verwickelt zu werden. Aufgrund der besonderen Situation in Syrien wäre ein solcher Einsatz sogar wesentlich riskanter. Das liegt zum einen an der wesentlich komplexeren ethnischen und religiösen Struktur (die man mit der Situation auf dem Balkan vergleichen kann), zum anderen an der geografischen Lage Syriens, der zentralen Lage im Mittleren Osten, die im Falle der Intervention schwere regionale Unruhen zur Folge hätte.

Roger Boyes von der Times kommentierte: „Ein brutaler Diktator im Mittleren Osten ist das eine, ein zusammenbrechender Staat an den Grenzen Israels und der NATO etwas ganz anderes.“

Aber diese Bedenken halten sie nicht davon ab, sich auf andere Weise in Syrien einzumischen, ohne aber den Kampf des syrischen Volkes für Demokratie zu unterstützen. Anstatt dessen bereiten sie sich auf die Zeit nach Assad vor, indem sie mit selbsternannten „Oppositionsführern“ verhandeln, in der Hoffnung, sie für westliche Interessen zu benutzen, wie sie es zuvor in Libyen getan haben.

„Wir stehen seit einigen Monaten in regelmäßigem Kontakt mit mehreren Protagonisten der syrischen Opposition, und intensivieren diese jetzt“, sagte eine Sprecherin des britischen Außenministeriums, als der Außensekretär William Hague ein Treffen mit Vertretern des SNR und NKK am 21. November in London arrangierte.

Obwohl die westlichen Mächte Möglichkeiten sehen, in der Zeit nach Assad ihre Interessen durchzusetzen – beispielsweise im Aufbau einer Gegenmacht zur libanesischen Hisbollah und vor allem zum Iran – fürchten sie die Veränderungen, die der Sturz des Regimes nach sich ziehen werden.

Dazu könnte auch der Versuch des Iran zählen, seine Interessen im Irak zu Ungunsten des westlichen Imperialismus auszuweiten.

Die syrische Arbeiterklasse muss sich auf ihre eigene potentielle Stärke – die immens ist – verlassen, um Fortschritte zu erzielen. Vermutlich wird es viele Rückschläge und unerwartete Entwicklungen geben.

Obwohl Assad erklärt hat, bis zum Ende zu kämpfen, könnte er fliehen oder sehr plötzlich gestürzt werden, und dann hätte die Arbeiterklasse die dringliche Aufgabe, die neue Regierung zu gestalten. Die Erfahrungen der Arbeiter in Tunesien, Ägypten und Libyen zeigen, dass man den Vertretern des gestürzten Regimes, den Oberhäuptern des Militärs, und allen anderen pro-kapitalistischen Politikern nicht trauen kann. Anstatt dessen ist es nötig, eine sozialistische Lösung voranzutreiben, denn dies ist der einzige Weg, Arbeitslosigkeit, Armut und Blutvergießen zu beenden, und volle demokratische Rechte für die gesamte Bevölkerung zu gewährleisten.

Forderungen:

  • Vereinter Kampf der Arbeiterklasse und der Armen in Syrien gegen dasRegime, unterstützt von allen Nationalitäten, Volksgruppen undReligionen.
  • Errichtung demokratisch organisierter Komitees in den Vierteln undBetrieben zur Verteidigung gegen Repression und der Weiterentwicklungdes Kampfes
  • Nein zu jeglicher Einmischung durch die weltweiten und regionalenkapitalistischen Mächte
  • Für unabhängige Gewerkschaften und eine neue Massenpartei derarbeitenden Bevölkerung
  • Für eine revolutionäre verfassungsgebende Versammlung
  • Für eine demokratische Regierung der Mehrheit der arbeitenden undarmen Bevölkerung mit sozialistischer Politik, die volle demokratischeRechte für alle Minderheiten gewährt.