Occupy Wall Street

Augenzeugenbericht aus den USA


 

Vor vier Wochen bin ich in die USA gekommen, um eine Rundreise zu machen, organisiert von der Schwesterorganisation der SAV in den USA “Socialist Alternative”. In verschiedenen Universitäten und öffentlichen Treffen berichte ich über die Massenproteste in Europa, speziell in Griechenland und Spanien. Doch nun sehen wir die beeindruckende “Occupy Wall Street” Bewegung hier in den USA – im Herzen der “Bestie”.

von Linda Fischer

“Banks got bailed out, we got sold out”

Die Banken wurden gerettet und wir wurden verkauft, ist einer der beliebtesten Slogans auf allen Demonstrationen und Platzbesetzungen. Es ist gleichzeitig einer der entscheidenden Gründe für das Entstehen dieser Bewegung vor drei Wochen in New York “Occupy Wall Street”. Seit Beginn der Krise in 2008 sind hunderte Milliarden US Dollar in die Banken geflossen, während die Krise für die normale Bevölkerung Massenentlassungen, Hauspfändungen, ansteigende Armut und Kürzungen bedeutet. Die New York Times berichtete vor wenigen Wochen, dass im Jahre 2010 2,6 Mio. US-Bürger in Armut abgerutscht sind. 46,2 Mio Menschen in den USA leben heute unter der offiziellen Armutsgrenze. Das ist die höchste Zahl seit den 52 Jahren, in denen sie veröffentlicht werden.

Ich habe mit vielen Leuten auf den Plätzen diskutiert, die jetzt mit Anfang, Mitte Dreissig ihren Job verloren haben und gezwungen sind, wieder zu ihren Eltern zu ziehen (in den USA gibt es nur ein zeitlich befristetes Arbeitslosengeld): “Ich bin jetzt Anfang 30 und lebe wieder bei meinen Eltern. Mein Freund und ich, wir können nicht mal darüber nachdenken ob wir vielleicht Kinder haben wollen oder ein Haus kaufen. Das ist finanziell einfach nicht möglich.” Leute die studiert haben und bis vor ein paar Jahren vielleicht noch an den “amerikanischen Traum” geglaubt haben, sehen sich heute mit einer Realität konfrontiert, in der ihnen selbst gute, und insbesondere teure Bildung nichts mehr nützt. Was bleibt, ist ein Haufen Schulden. Selbst in sogenannten staatlichen Universitäten zahlst du zwischen 8.000 und 15.000 Dollar jährlich.

Speziell mit der Wahl von Obama 2008 haben viele die Hoffnung verbunden, dass sich jetzt endlich etwas ändern wird, doch das Gegenteil ist der Fall. Obama hat wie keine Regierung Milliarden Geschenke an die Banken vergeben und weder die Kriege in Afghanistan und Irak beendet. In Afghanistan wurden die Truppen hingegen sogar noch aufgestockt. Es wurde das sogenannte “Super Committee” gebildet. Eine aus jeweils sechs Demokraten und Republikanern bestehende Kommission, die die Aufgabe hat auf nationaler Ebene 1.2 Billionen US Dollar Budgetkürzungen vorzunehmen. Im Klartext: US-weite massive Kürzungen im Bildungsbereich, bei der medizinischen Versorgung, bei den sozialen Diensten und so weiter. Kürzungen, die die bereits durchgeführten Kürzungen auf der Ebene der verschiedenen Staaten noch übertreffen. Die Wut in der Bevölkerung ist riesig. Die Besetzungen der Plätze wirken wie ein Ventil für diese Wut.

Tunesien, Spanien, Griechenland – USA

Das anarchistische Magazin “Adbusters” verbreitete als erstes die Idee, dass Platzbesetzungen wie in Tunesien, Ägypten oder in Spanien und Griechenland auch in den USA nötig seien und Wall Street besetzt werden müsse. Mehrere Hundert Menschen folgten diesem Aufruf. Nicht nur anarchistische Kräfte, sondern viele Menschen, die die Nase voll haben von der Situation. Innerhalb der nun drei Wochen andauernden Bewegung, verbreiteten sich die Platzbesetzungen rasend. In unzähligen Städten finden Versammlungen auf Plätzen statt: Von New York, nach Philadelphia, Boston, Minniapolis, Seattle, Miami, Chicago usw. Selbst in konservativen Städten die seit 30 Jahren keine Proteste gesehen haben, werde Leute aktiv. In New York fanden bisher die größten Demonstrationen statt, bis zu 15000 Menschen marschierten durch die Straßen.

Ich war in Seattle als die Bewegung anfing und letzten Samstag auch nach Seattle überschwappte. Rund 200 Menschen versammelten sich bereits um 10 Uhr auf dem Platz. In kleineren Gruppen diskutierten wir, weshalb wir gekommen sind. Einige sind bereits seit Jahren aktiv, für viele andere war es aber das erste Mal, dass sie zu einen Protest gingen. Die Stimmung war sehr gut und enthusiastisch: “We are the 99%”, wir sind die 99% die keine Stimme haben, im Gegensatz zu den Ein Prozent die die Welt regieren.

Ausweitung des Protests auf Gewerkschaften und Universitäten

Eine besonders wichtige Entwicklung ist, dass sich immer mehr Gewerkschaften mit den Platzbesetzungen solidarisieren. Die Führung des Washington State Labor Council (Dachverband der Gewerkschaften im Staat Washington) verkündete: “Im Namen des Washington State Labor Council, AFL-CIO, und unser 500 angehörigen Gewerkschaften und über 400.000 GewerkschafterInnen, wollen wir unsere Solidarität mit Occupy Wall Street ausdrücken, dafür dass sie aufstehen und es laut aussprechen, im Namen der 99% die den unternehmerischen und politischen Entscheidungen zum Opfer gefallen sind, Entscheidungen die die Interessen vom “Unternehmen Amerika” und Wall Street vor die Interessen der Menschen stellen.” Am 5.10. marschierten rund 15.000 GewerkschafterInnen durch die Straßen New Yorks, um ihre Unterstützung für Occupy Wall Street zu demonstrieren: “Die Arbeiterbewegung muss sich von der Energie anstecken lassen und von den Protesten lernen” meint der Präsident der Einzelhandels-, Großhandels- und Warenhausgewerkschaft. Und der Präsident des Dachverbands der US-Amerikanischen Gewerkschaften meint dass Banken und Unternehmen zahlen sollen um neue Jobs zu schaffen.

Erste Uni-Streiks fanden statt. Für Mittwoch den 12.10. sind weitere Streiks an Universitäten in verschiedenen Städten geplant. Welche Ausmaße diese Streiks annehmen werden ist noch Ungewiss. Klar ist jedoch, dass dies Schritte in die richtige Richtung sind und ein Beispiel setzen, wie sich die Bewegung ausweiten kann. Die dringendste Frage die sich für die Bewegung derzeit stellt ist, wie sie mehr Menschen involvieren kann und wie der Kampf erfolgreich sein kann. Die Sympathie ist riesig, aber bisher ist nur ein kleiner Anteil davon wirklich aktiv. Socialist Alternative, die CWI-Sektion in den USA, ist von Beginn an in vielen Städten in den Platzbesetzungen involviert gewesen. Wir argumentieren für die Ausweitung der Platzbesetzungen und insbesondere der Assemblies in die Schulen, Nachbarschaften und Betriebe um mehr Menschen zu mobilisieren. Die Unterstützung der Gewerkschaften ist gut, aber kann und sollte intensiviert werden. Mit den Millionen von Mitgliedern haben die Gewerkschaften die Möglichkeit Massen zu mobilisieren. Streikaktionen würden den Druck enorm erhöhen, da sie den Kapitalisten in finanzieller Hinsicht schaden und zeigen, wer eigentlich den Reichtum produziert.

Was wollen die Aktivisten?

In der internationalen Presse wird diskutiert was denn eigentlich die Forderungen der Bewegung seien. Besonders zu Beginn wurden die Proteste belächelt und die Protestler als Hippies dargestellt, die einfach nichts Besseres zu tun haben. “Liebe statt Gier” titelte beispielsweise der SPIEGEL. Das sind natürlich Versuche die Bewegung klein zu halten. In der Realität gibt es unterschiedliche Tendenzen auf den Plätzen. Viele Leute sind erstmal einfach extrem wütend, andere sehen den Sinn der Bewegung bereits darin Plätze zu besetzen. Die Mehrheit der Leute auf den Plätzen sucht jedoch nach Antworten und Alternativen.

In Seattle haben ich und weitere Socialist Alternative Mitglieder an der “Forderungen aufstellen”-Gruppe teilgenommen. Eine überwältigende Mehrheit stimmte uns zu, als wir Forderungen vorschlugen, wie: massive Besteuerung der Reichen und Unternehmen, für Jobs nicht Kürzungen: Massives Investitionsprogramm zur Schaffung von Arbeitsplätzen, für ein Ende der Kriege. Zuvor hatten anarchistische Kräfte sich dafür ausgesprochen keine Forderungen aufzustellen, da verschiedene Menschen verschiedene Meinungen haben und Forderungen uns begrenzen würden. Die Mehrheit der TeilnehmerInnen waren jedoch überzeugt, dass es wichtig ist Forderungen aufzustellen um mehr Leute zu erreichen. Trotz der Unterschiede, gibt es Kernforderungen, die alle unterstützen. Auch in anderen Städten wurde nun begonnen Forderungen zu bilden und Socialist Alternative spielt dafür eine entscheidende Rolle. Es gilt die Besetzungen zu vernetzen und gemeinsam starke Forderungen zu entwickeln. Insbesondere anarchistische Kräfte argumentieren gegen jegliche Form von Führung und für Konsensentscheidungen statt Abstimmungen. Es besteht die Gefahr, dass dies zu chaotischen untransparenten Entscheidungsprozessen führt und dazu, dass Aktivisten, die sich aus welchen Gründen auch immer dazu auserkohren fühlen, die Führung übernehmen. Bereits die Besetzung eines Platzes sei eine Forderung, meint “the occupied wall street journal” (eine Zeitung von Aktivisten der Platzbesetzungen). Doch dies mobilisiert nicht die Menschen, denen es darum geht einen Job zu finden, Leute die Schulden haben usw. Die Beschränkung auf derartige Forderungen könnte die Bewegung im Keim ersticken. Sie repräsentieren derzeit jedoch nur eine Schicht der Aktivisten.

Eine weitere Schicht von Leuten auf den Plätzen realisiert jedoch, dass dieses System als ganzes ihnen nichts mehr zu bieten hat. Der Kapitalismus ist unfähig für Wohlstand für die Mehrheit der Bevölkerung zu sorgen, da nur für Profite einiger weniger produziert wird. Bei einer öffentlichen Veranstaltung von Socialist Alternative auf dem Platz in Philadelphia berichtete ich über die Massenproteste in Europa, speziell Griechenland. Innerhalb weniger Minuten lauschten bis zu 50, insbesondere junge Menschen der Veranstaltung. Wir diskutierten ob in den USA ein Generalstreik möglich ist und was dafür nötig wäre. Viele waren der Meinung, dass Platzbesetzungen allein nicht ausreichen. Streiks bis hin zu Generalstreiks die Ökonomie jedoch lähmen könnten, und die Frage nach einer neuen Gesellschaft auf die Tagesordnung setzen, in der die 99% bestimmen was und wie produziert wird auf der Grundlage

Bis jetzt ist unklar wie sich die Bewegung genau entwickeln wird, die Leute auf den Plätzen sind jedoch enthusiastisch und die Platzbesetzungen verbreiten sich weiter. Eindeutig ist: die Stimmung unter Jugendlichen und ArbeiterInnen in den USA wandelt sich dramatisch. Als eine der weltweit potentiell stärksten Arbeiterklasse werden die Entwicklungen in den USA enormen Einfluss auf die Kämpfe weltweit haben und reihen sich ein in eine neue aufregende Zeit von Klassenkämpfen.