Weltwirtschaft: „Am Beginn eines neuen Sturms“

Talfahrt an Börsen signalisiert Gefahr einer neuen globalen Rezession


 

Chaos-Tage im August an den Weltfinanzmärkten: Erst stuft die Ratingagentur Standard & Poor‘s die Bonität der US-Staatsanleihen ab, dann schnellen die Zinsen für spanische und italienische Anleihen in die Höhe, mehr und mehr Anleger flüchten sich in Gold und Schweizer Franken, schließlich kennen die Aktienkurse nur noch eine Richtung – abwärts… Das Gespenst eines erneuten weltweiten Wirtschaftseinbruchs geht um. Jean-Claude Trichet, Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), spricht von der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Weltbank-Chef Robert Zoellick fürchtet den „Beginn eines neuen Sturms“.

von Wolfram Klein und Aron Amm

Was in diesen Tagen ins Auge sticht, ist die Ratlosigkeit der Herrschenden. So kommt es gerade nach Krisengipfeln zu neuen Erschütterungen: Die Börsenunruhen setzten eine Woche nach dem Euro-Sondergipfel vom 21. Juli ein. Als sich Kanzlerin Angela Merkel und ihr französischer Kollege Nicolas Sarkozy am 16. August trafen, um mit der Verkündung einer „Wirtschaftsregierung“ Stärke zu demonstrieren, bebten die Aktienmärkte erneut.

Auch wenn sie die Kapitalherrschaft mit Händen und Füßen verteidigen werden, verstehen mehr und mehr Bürgerliche, wie wenig sie den Kapitalismus überhaupt verstanden haben. „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“, gab der Biograf von Margaret Thatcher, Charles Moore, kürzlich zu.

Ungeplantes, chaotisches System

1844 schrieb Friedrich Engels, dass die bürgerlichen Ökonomen die zyklischen Krisen auf das von ihnen entdeckte Gesetz der Konkurrenz zurückführen, das sie „mit seiner steten Ausgleichung, wo, was hier verloren, dort wieder gewonnen wird“, wunderschön fänden. Engels fragte, was man von einem Gesetz halten soll, das in aller Regelmäßigkeit „wie die Kometen“ oder „Seuchen“ wiederkehrt. „Es ist ein Naturgesetz, das auf der Bewusstlosigkeit der Beteiligten beruht. Wüssten die Produzenten als solche, wieviel die Konsumenten bedürften, organisierten sie die Produktion, verteilten sie sie unter sich, so wäre die Schwankung der Konkurrenz und ihre Neigung zur Krisis unmöglich.“ Bis heute zeigt sich, dass der Kapitalismus eine anarchische, ungeplante Wirtschaftsordnung darstellt, die seit ihrem Bestehen immer wieder (gezählt wurden 24 internationale Einbrüche) zu tiefen Krisen führt.

Bemerkenswerterweise verweist der erwähnte Charles Moore in seinem Beitrag für den Daily Telegraph auf die Globalisierung und andere Maßnahmen, mit denen sich die Kapitalisten nach der Weltwirtschaftskrise Mitte der siebziger Jahre eine dauerhafte Problemlösung erhofften. Die internationale Rezession 1974/75 markierte einen Wendepunkt, das Ende des kapitalistischen Nachkriegsaufschwungs. Konfrontiert mit rückläufigen Profitraten setzten die Bürgerlichen sukzessive auf Privatisierung, Deregulierung und Umverteilung von unten nach oben. Angesichts der strukturellen Überakkumulation von Kapital, mangelnder profitabler Anlagemöglichkeiten im produktiven Bereich, baute man verstärkt auf den Finanzsektor und auf eine zunehmende Internationalisierung von Produktion und Handel. Die Öffnung Chinas für den Weltmarkt und die kapitalistische Restauration Osteuropas schwächten die globalen Rezessionen 1991-93 und 2000/01 deutlich ab. Aber die grundlegenden Probleme wurden nicht gelöst, sondern resultierten in Überkapazitäten, Konsumschwächen, Schuldenbergen – und dem globalen Einbruch 2007 bis 2009.

Die Krise ist nicht vorbei

Als sich die Unternehmer schon wieder am Aufschwung ergötzten und „Welt Online“ tönte, „die Schwarzmaler mit ihren Horrorszenarien hatten unrecht“ (12. Januar), schrieben wir in der im März erschienenen Ausgabe unseres Magazins „sozialismus.info“ im Artikel „Nach der Krise ist vor der Krise“, dass „die Finanz- und Wirtschaftskrise keineswegs überwunden, sondern nur in ein neues Stadium eingetreten ist, das Stadium der Staatsschuldenkrise. In einem Land nach dem anderen reagieren die Regierungen und Parlamente auf die aufgetürmten Defizite mit einer Welle von Kürzungsmaßnahmen. In der Folge könnte die ökonomische Erholung nicht nur schnell wieder an Kraft einbüßen, sondern gar in eine neue Rezession („Double Dip“) münden.“

In den vergangenen Wochen ist die Stimmung umgeschlagen. „Vier Jahre nach Beginn der Krise scheint kein Instrument zu ihrer Eindämmung gefunden“, schreiben Jens Beckert und Wofgang Streeck, Leiter des Kölner Max-Planck-Instituts, in der FAZ vom 20. August. „Die Politik macht einen überforderten Eindruck.“ Kein Wunder. Sind die gegenwärtigen Probleme doch die direkte Folge ihrer Gegenmaßnahmen.

Vor vier Jahren begannen sie damit, die schon bestehenden Schulden massiv auszuweiten, um Banken zu retten und die Wirtschaft anzukurbeln. Jetzt führen die Staatsschulden nicht nur zu neuen Finanzproblemen, sondern auch zur Angst vor Staatspleiten. Die Kahlschlagpolitik wiederum droht, die schwache Konjunktur vollends abzuwürgen. In Europa droht beides zusätzlich, die Euro-Zone zu zerreißen.

Nachdem die Krise gerade in den USA und in der EU ihren Lauf genommen hatte, strömte viel Kapital in die sogenannten Schwellenländer. Das nährte nicht nur die dortige Spekulationsblase, sondern treibt nun auch die Inflation in Asien und Lateinamerika. Die Preissteigerung Chinas im Juli von 6,5 Prozent trübt bereits das Wachstum ein. Der Anstieg der Lebensmittelpreise auf 14,8 Prozent könnte die sozialen Unruhen weiter forcieren. Jedenfalls droht China – im Zuge seiner Konjunkturmaßnahmen 2008/09 – aufgrund der hohen Verschuldung und der Gefahr eines Platzens der dortigen Immobilienblase zu einem weiteren Krisenherd zu werden.

In der Baisse

In wenigen Wochen wurden diesen Sommer an den weltweiten Börsen Werte von mehr als fünf Billionen Dollar vernichtet. Zwischen dem 28. Juli und dem 10. August fiel der Dow Jones um 12,9 Prozent. Der Dax verlor in der ersten Augustwoche zwölf und in der dritten Augustwoche noch einmal neun Prozent. Das waren neben 2008 und 1987 die dramatischsten Verluste an den Börsen seit über einem Vierteljahrhundert.

Unmittelbarer Ausgangspunkt waren die US-Streitigkeiten um die Schuldenobergrenze und die Zinsaufschläge für schwache Euro-Länder. An den Aktienmärkten werden zwar keine Staats-, sondern Unternehmenswerte gehandelt. Doch setzte sich die Sorge durch, dass die Dimension der Staatsschuldenkrise zu Austeritätsprogrammen führen werden, die den ohnehin schwachen Konjunkturmotor vollständig zum Erliegen bringen könnten. Während mit Japan die drittgrößte Ökonomie längst wieder in der Rezession steckt, ließ auch in den USA, der Wirtschaftsmacht Nr. 1, das Wachstum in der letzten Phase deutlich nach, nachdem die konjunkturelle Erholung bereits die schwächste seit 50 Jahren war. Bezeichnenderweise hatten an den Börsen vor allem auch Rohstoff-, Energie- und Investitionsgüterunternehmen schwere Verluste hinzunehmen, was auf fehlendes Vertrauen in weiteres Wachstum schließen lässt.

Bankenkrise 2.0

Am Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007 trocknete der Geldmarkt über weite Strecken fast komplett aus. Die Banken weigerten sich, einander Geld zu leihen. Grund waren die aufkommenden Zweifel, ob sich einige Banken im Aufschwung nicht übernommen hätten, zu viele faule Kredite angesammelt haben könnten und Gefahr laufen, Insolvenz anmelden zu müssen.

Dass die Bankenkrise nicht gelöst und die Geldhäuser nicht über den Berg sind, zeigt sich in diesen Tagen. Als Hauptgläubiger der Staaten sind sie von der Schuldenkrise akut betroffen. Allein in der dritten Augustwoche brach der europäische Aktienindex Stoxx-Europe-600-Banks um zehn Prozent ein (seit Jahresbeginn verlor er beinahe ein Drittel). Erneut entwickelt sich am Geldmarkt ein Liquiditätsengpass. IfW-Ökonom Joachim Scheide sprach angesichts dieser Störungen davon, dass „eine zweite Welle der Finanzkrise jetzt erreicht“ sei. Im Euro-Raum sind es gerade die Banken in Südeuropa, die sich nicht in gewohnter Weise mit Kapital ausstatten können. So mussten die italienischen Banken im Juli ihre Ausleihungen bei der Zentralbank von 40 auf 80 Milliarden Euro verdoppeln.

Das geht Hand in Hand mit der unbeantworteten Frage, wer denn dieses Mal die Banken retten soll – da die alten Retter selber in Not geraten sind und sogar Staatsbankrotte befürchtet werden.

Hilflosigkeit der Politik

Wir erinnern uns noch, wie in den Krisenmonaten nach der Lehman-Brothers-Pleite Politiker immer wieder an den Wochenenden zusammen kamen, um neue Rettungspakete zusammenzustoppeln und vor der Börseneröffnung in Ostasien am Montag morgen den Kapitalmärkten als Beruhigungspille zu verabreichen. Seit 2008 hat sich die Lage jedoch fundamental gewandelt. Damals pumpten sie Unmengen öffentlicher Gelder in die Wirtschaft. Doch die Lösung von damals ist das Problem von heute. Private Schulden wurden in öffentliche Schulden verwandelt. Dazu kamen steigende Staatsausgaben für die Konjunkturprogramme und durch die Krise einbrechende Staatseinnahmen.

Dieses globale Problem offenbarte sich vor anderthalb Jahren in Griechenland und führte in den Folgemonaten zu einer Serie von Rettungspaketen in der Euro-Zone. Als Reaktion setzte sich auf den Finanzmärkten eine wesentlich pessimistischere Sicht der Staatsverschuldung durch. Regierungen sahen sich gezwungen, ihren Eifer im Kampf gegen die Staatsschulden unter Beweis zu stellen aus Furcht, dass sonst ihre Staatsanleihen nur noch mit hohen Risikoprämien ausgegeben werden könnten. Die Konsequenz war, dass nicht nur den direkt betroffenen, verächtlich PIGS (Portugal, Irland, Griechenland, Spanien) genannten Staaten Sozialraub aufgezwungen wurde, sondern auch andere Regierungen eine Kehrtwende von Konjunkturprogrammen zu Kürzungspolitik einleiteten (siehe das „Sparprogramm“ in Großbritannien oder die deutsche „Schuldenbremse“).

USA: Am Rande der Rezession

Die Herabstufung der US-Staatsleihen von „AAA“ auf „AA+“ durch die Rating-Agentur Standard & Poor’s Anfang August kommt einem Warnschuss an Republikaner und Demokraten gleich, die Wirtschaft nicht durch von Parteiinteressen geleitete Streitereien zu destabilisieren. Gleichzeitig ist es aber Ausdruck der grundlegenden Schwäche der Erholung der US-Ökonomie.

Zentral ist das Wechselverhältnis von Staatsverschuldung, privater Verschuldung und Wirtschaftsentwicklung. Über Jahre hinweg waren die USA Motor der Weltwirtschaft, der US-Konsum war der Staubsauger, der die Exportüberschüsse von Ländern wie Deutschland oder China anzog. Diesem wachsenden Konsum entsprachen aber keine wachsenden Einkommen. Es entstanden zwar viele Jobs, aber diese waren häufig schlecht bezahlte „Dienstleistungs“-Jobs, während vergleichsweise gut bezahlte Arbeitsplätze in der Industrie vernichtet wurden. Der wachsende Konsum war nur auf Basis einer wachsenden Verschuldung möglich.

Damit ist es seit 2008 vorbei. In den letzten drei Jahren sanken die ausstehenden Konsumentenkredite von 2,59 auf 2,41 Billionen Dollar (Mai 2011), die Hypothekenschulden von 14,61 auf 13,72 Billionen Dollar. Die Verschuldung sank von 130 Prozent auf 115 Prozent der Haushaltseinkommen. Dass der private Konsum auch mittelfristig schwach bleiben wird, liegt an Präsident Barack Obamas Kapitulation vor den Republikanern und ihrem durchgeknallten Tea-Party-Flügel: Die Rücknahme der Steuergeschenke für die Reichen unter George Bush ist passé. Stattdessen stehen Ausgabenkürzungen an – die vor allem die arbeitende Bevölkerung treffen werden.

Man sieht an den USA exemplarisch, wie die staatliche Verschuldung die unhaltbar gewordene private Verschuldung als Wachstumsmotor ersetzte. 2006 lag die Staatsverschuldung der USA noch bei 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), dieses Jahr dürfte sie 100 Prozent erreichen. Inzwischen sind Obamas Konjunkturprogramme (die ohnehin keine Initialzündung für einen dynamischen Aufschwung bedeuteten) weitgehend ausgelaufen. Schon im zweiten Halbjahr 2010 schwächte sich die US-Wirtschaft wieder deutlich ab. Vor diesem Hintergrund bleibt die Arbeitslosigkeit hoch, offiziell bei neun Prozent. Die tatsächliche Zahl dürfte das Doppelte betragen. Die staatliche Post kündigte jüngst an, 120.000 Stellen zu streichen. Auch in anderen Bereichen steht Arbeitsplatzvernichtung an. Folglich dürften die USA als Wachstumsmotor für die Weltwirtschaft ausfallen.

Euro-Turbulenzen

Das andere Problemfeld, das im August zu den Verwerfungen auf den Finanzmärkten führte, war die Schuldenkrise der Euro-Zone. Am 21. Juli einigten sich die europäischen Regierungschefs auf ein neues Rettungspaket für Griechenland (sprich für die Banken, die dem griechischen Staat Geld geliehen haben). Die Politiker diskutierten über Griechenland und meinten Spanien und Italien. Denn die entscheidende Frage sind nicht die kleinen Länder Griechenland, Irland und Portugal, sondern Spanien und Italien, immerhin die viert- und die drittgrößten Volkswirtschaften der Euro-Zone. Dass dort das wirkliche Gefahrenpotenzial liegt, ist kurz nach dem Juli-Gipfel quasi offiziell geworden, als die EZB binnen einer Woche für 22 Milliarden Euro italienische und spanische Staatsanleihen aufkaufte, um damit ihren Preis hochzutreiben und im Gegenzug ihre Umlaufrendite (also die Zinsen, die Italien und Spanien für ihre Staatsschulden zahlen müssen) zu drücken.

Im Mai 2010 hatte die EZB mit dem Kauf griechischer, portugiesischer und irischer Staatsanleihen begonnen und bis Februar 2011 77,5 Milliarden Euro dafür verwendet. Nach dem EU-Beschluss vom 21. Juli sollte diese Aufgabe an den Euro-Rettungsfonds EFSF übertragen werden. Aber es wird noch Monate dauern, bis dieser Beschluss nach der Sommerpause die Parlamente passiert hat. Da die Krise nicht so lange warten wollte, wurde die EZB erneut tätig. Von der „Financial Times Deutschland“ befragte Ökonomen schätzten, dass die EZB mindestens 100 Milliarden Euro einsetzen müsste, um eine Wirkung zu erzielen.

Bedingung für die EZB-Intervention war das Versprechen der italienischen Regierung, den Sozialkahlschlag zu verschärfen. Dabei ist Griechenland das beste Beispiel, dass diese Politik nicht nur Millionen Menschen ins Elend stürzt, sondern auch die wirtschaftliche Krise verlängert und die Schuldenprobleme keineswegs löst. Die Kürzungspakete trieben das Land in die Depression, das BIP schrumpfte 2010 um 4,5 Prozent, für dieses Jahr wird ein ähnlicher Rückgang erwartet. Das führt zu geringeren Steuereinnahmen und zusätzlichen Staatsausgaben. Wenn das Bruttoinlandsprodukt schrumpft, ist der Anteil der Schulden am BIP höher.

Der Euro vor dem Aus?

Die Schuldenkrise der Euro-Zone ist zugleich eine Krise des Euro. Wenn Teile des Euro-Raums durch Kahlschlagpolitik in die Rezession getrieben werden und andere (wie Deutschland und die Niederlande) durch hohe Exporte eine Sonderkonjunktur erfahren, steigert das die Spannungen.

Wir haben niemals erwartet, dass der Euro langfristig funktioniert. Große kapitalistische Länder mit konkurrierenden nationalen Kapitalistenklassen können nicht auf Dauer eine gemeinsame Währung aufrecht erhalten. Das dämmert inzwischen auch den Politikern, die nun versuchen, von der monetären zur „politischen Union“ zu kommen. Beim Euro-Krisengipfel am 21. Juli wurden Schritte in diese Richtung vereinbart, zum Beispiel die Übertragung von Kompetenzen an den Euro-Rettungsschirm EFSF. Der Haken ist, dass die Regierenden zu einer Überwindung des Nationalstaats nicht in der Lage sind. Obwohl sich der Weltmarkt enorm ausgedehnt hat, basieren Macht, Eigentum und Vermögen jeder Kapitalistenklasse weiterhin auf einem bestimmten nationalstaatlichen Territorium, verteidigt vom eigenen Staatsapparat. Darüber hinaus förderten die Bourgeoisien jahrhundertelang ein nationales Bewusstsein zur Festigung ihrer Herrschaft, worauf sie sich bis heute versuchen zu stützen.

In Zeiten von Wirtschaftswachstum waren Schritte in Richtung politischer Union möglich, aber es blieb bei Schritten. Und jetzt, in Zeiten der Krise, ist eher mit dem Aufbrechen von nationalen Konflikten zwischen (und, siehe zum Beispiel Belgien, innerhalb der bestehenden) Nationalstaaten zu rechnen.

Tatsächlich kommen bei jeder einzelnen Maßnahme nationale Interessengegensätze zum Ausdruck. Bei dem Krisengipfel am 21. Juli bestand Merkel auf einer Beteiligung des Privatsektors, um die Beschlüsse der deutschen Bevölkerung besser verkaufen zu können. (Die „Beteiligung“ bedeutet, dass Anleger freiwillig auf 20 Prozent des Werts der griechischen Staatsanleihen verzichten, die auf dem Markt ohnehin 40 Prozent unter ihrem Nennwert gehandelt werden – kein schlechtes Geschäft.) Auch die EZB-Aufkäufe spanischer und italienischer Staatsanleihen waren umstritten, aus Deutschland, Luxemburg und den Niederlanden kamen Gegenstimmen. Da die Beschlüsse vom 21. Juli keine Stabilisierung herbeigeführt haben, haben die Debatten über Euro-Bonds an Schwung gewonnen. Möglich, dass zunächst eine Ausweitung der Mittel des Euro-Rettungsfonds (der ab Oktober über ein Kreditvolumen von 440 Milliarden Euro verfügt) anvisiert wird. Dabei ist noch längst nicht sicher, dass die Entscheidungen vom 21. Juli tatsächlich in allen 17 Euro-Staaten von den Parlamenten gebilligt werden. Finnland ist nur im Boot, weil es Garantien für seine Notkredite aushandeln konnte. „Die Skandinavier beteiligten sich zwar am zweiten Stabilisierungsprogramm zugunsten Griechenlands, haben sich aber Sonderkonditionen ausbedungen. Österreich und andere kleinere Geberländer stehen deshalb schon auf den Barrikaden. Sollte dies eskalieren, könnte es für die Auszahlung der nächsten Kredittranche an Griechenland im September eng werden“ (FAZ vom 22. August).

China – „kein lachender Dritter“

2007 bis 2010 trug China so viel zum weltweiten BIP-Wachstum bei wie die G7-Länder zusammen! Zwar wuchs das chinesische BIP auch 2010 noch um 10,3 Prozent. Trotzdem ist die Weltwirtschaftskrise keineswegs spurlos an China vorbeigegangen. Im Gegenteil war das Land wegen seiner hohen Exportabhängigkeit erheblich betroffen. Das chinesische Regime startete ein umfangreiches Konjunkturprogramm. Das Ergebnis war ein gigantischer Bauboom. 35 Prozent der weltweiten (und 70 Prozent der chinesischen) Stahlproduktion werden gerade in der chinesischen Bauwirtschaft verbraucht. Ein beträchtlicher Teil der Kredite ging auch in die Immobilienspekulation, wo eine Spekulationsblase entstand, die früher oder später platzen muss. So dass auch China heute „kein lachender Dritter“ (FAZ-Leitartikel vom 24. August) ist.

Da der Boom die Inflation anheizte, versucht der Staat inzwischen, den Kredithahn wieder zuzudrehen (die Staatsschulden erreichen mittlerweile 89 Prozent des BIP). Das Problem ist aber, dass Leitzinserhöhungen produktive Investitionen behindern. So oder so wird China seine Rolle als Motor der Weltwirtschaft nicht mehr lange spielen können.

Gegenmaßnahmen?

Es war die Politik des billigen Geldes (extrem günstige Kredite), die den Aufschwung vor dem Einbruch 2007 jahrelang verlängerte. Mit noch billigerem Geld wurde dann vor vier Jahren der Absturz in die Depression verhindert. Und Teile der Bürgerlichen wollen auch jetzt mit billigem Geld eine Rückkehr der Finanz- und Wirtschaftskrise vereiteln. So wird von der US-Notenbank eine dritte Runde der sogenannten Quantitativen Lockerung (nichts anderes als ein Programm, Geld zu drucken) erwogen. Über die ersten beiden Runden wurden 2,6 Billionen Dollar in die Wirtschaft gepumpt. Für Europa erwartet Joachim Fels, Chefvolkswirt von Morgan Stanley: „Die EZB wird weiter Staatsanleihen in großem Stil aufkaufen müssen und bald auch die Zinswende nach unten einleiten.“

Es ist nicht auszuschließen, dass über diese und andere Maßnahmen – gerade falls die chinesische Wirtschaft sich noch halten sollte – zunächst ein Double Dip vermieden werden kann. Dafür könnte der nächste Abschwung dann von den Problemen einer um so größeren Kreditblase begleitet sein.

Allerdings sind die Möglichkeiten von Zinssenkungen durch Notenbanken begrenzt, da sie in Ländern wie den USA und Japan schon nahe Null sind. Und: Was nützen niedrige Zentralbankzinsen, falls sie nur mit hohen Risikoaufschlägen von den Banken weitergereicht werden?

Periode von Stagnation und Depression

Die kapitalistische Wirtschaft wird sich weiter zyklisch, in Auf- und Abschwüngen, bewegen. Dieses Auf und Ab vollzieht sich aber im Rahmen einer allgemeinen Niedergangsperiode des Profitsystems; einer Periode, die von Stagnation und Depression – und von gewaltigen Erschütterungen – gekennzeichnet sein wird.

So ist es nur eine Frage der Zeit, dass die heutige Euro-Zone kollabiert. „Das würde zu einer Bankenkrise führen, die völlig außerhalb jeder Kontrolle wäre. Sie würde nicht nur Deutschland, nicht nur Europa, sondern die ganze Welt in eine neue, große Depression stürzen“ (George Soros im SPIEGEL 33/2011). Parallel dazu büßt der US-Dollar seine Rolle als globale Leitwährung ein. Vor uns liegen Währungsturbulenzen, mögliche Staatspleiten und verschärfte Spannungen zwischen den kapitalistischen Kräften. Wir befinden uns aber nicht nur am Beginn einer neuen Qualität zwischenimperialistischer Konflikte, sondern stehen auch vor einer Zuspitzung der Klassenauseinandersetzungen. Selbst manchen Bürgerlichen dämmert das inzwischen: „Nachdem die Zuwächse des Sozialprodukts während der vergangenen 30 Jahre vornehmlich den oberen Bevölkerungsschichten zugute kamen, stellt sich in der Schuldenkrise die Frage, ob und mit welchen Mitteln die Wohlhabenden versuchen werden, ihre Position auch um den Preis einer massiven sozialen und politischen Krise zu verteidigen. Wir können nicht ausschließen, dass sie die Schrift an der Wand auch weiterhin nicht verstehen wollen“ (Jens Beckert und Wolfgang Streeck, Leiter des Kölner Max-Planck-Instituts).