Ein programmatischer Rückschritt

Zum zweiten Entwurf für das Parteiprogramm der LINKEN


 

Vor einigen Wochen hat der Parteivorstand der LINKEN den überarbeiteten Programmentwurf veröffentlicht, der im Oktober vom Bundesparteitag in Erfurt beschlossen und dann in einem Mitgliederentscheid bestätigt werden soll. Eine neue Präambel soll bei der Parteivorstandsitzung Anfang Juli beschlossen werden.

Die Überarbeitung bestätigt zwar den antikapitalistischen Grundtenor des unter anderen von Oskar Lafontaine vorgelegten 1. Entwurfes gegen das seit Monaten anhaltende publizistische Sperrfeuer des rechten Parteiflügels, verwässert jedoch wichtige Schlüsselpositionen sozialistischer Gesellschaftsveränderung. In der Regierungsfrage, also beim „Lackmustest“ für deren Glaubwürdigkeit, schleift der neue Entwurf weitere Hürden für eine Regierungskoalition mit prokapitalistischen Parteien. Dagegen sind beim Erfurter Parteitag Änderungsanträge notwendig.

von Heino Berg, Göttingen

Inhaltliche Änderunganträge der Parteibasis, die den ersten Entwurf aus antikapitalistischer Sicht zuspitzen und Halbheiten überwinden sollten, wurden durch die strömungsübergreifend besetzte Redaktionskommission (abgesehen von Korrekturen in EU-Beurteilung) ebensowenig berücksichtigt wie durch den Parteivorstand. Das gilt vor allem für die

Eigentumsfrage

Auch im neuen Entwurf bleibt offen, auf welche gesellschaftlichen Bereiche sich Vergesellschaftung der großen Produktionsmittel erstrecken und ob öffentliches Eigentum nicht nur die Daseinvorsorsorge, sondern die gesamte Wirtschaftssordnung qualitativ bestimmen soll. Laut Abs. 82 haben darin „verschiedene Eigentumsformen Platz: staatliche und kommunale, gesellschaftliche und private, genossenschaftliche und andere Formen des Eigentums“. „Strukturbestimmende Großbetriebe der Wirtschaft wollen wir in demokratische gesellschaftliche Eigentumsformen überführen (Abs. 83). Da das positive Ziel nur vage als „demokratische Eigentumsform“ umschrieben wird, bekommt die neue Abgrenzung zusätzliches Gewicht: „Allumfassendes Staatseigentum ist aufgrund bitterer historischer Erfahrungen nicht unser Ziel.“ Hier wird das „Staatseigentum“ in Verbindung mit der „historischen Erfahrung“, also den bürokratischen Planwirtschaften gebracht, als ob der Umfang und der Zentralisierungsgrad des öffentlichen Eigentums – und nicht die politische Unterdrückung, und damit die fehlende demokratische Kontrolle der Produzenten über Wirtschaft und Gesellschaft die Ursache für ihren Zusammenbruch gewesen wäre! Auch bei der Aufarbeitung des Stalinismus bezeichnet der neue Entwurf die DDR als staatlichen „Sozialismusversuch“, anstatt zwischen den Bestrebungen der Nachkriegsbevölkerung nach einer sozialististischen Alternative zu Kapitalismus und Faschismus einerseits und dem zu unterscheiden, was die staatliche Bürokratie in diesen Ländern tat, um eine demokratisch-sozialistische Entwicklung zu verhindern.

Problematisch bleibt auch das Bekenntnis zum so genannten „Belegschaftseigentum“ (Abs. 84), das in Großbetrieben (wie z.B. Opel) die privaten Anteilseigner ergänzen und an die Stelle ihrer vollständigen Überführung in Gemeineigentum treten soll. Belegschaftsbeteiligungen, auch wenn sie nicht mehr als individuelle Mitarbeiteraktien konzipiert sind, überwinden ja nicht das Profitprinzip und seine katastrophalen Folgen für Gesellschaft und Natur. In letzter Konsequenz werden sie im Rahmen einer kapitalistischen Marktwirtschaft deshalb sogar zu einem Hindernis, um die Interessen der gesamten arbeitenden Bevölkerung unabhängig zu vertreten.

Ähnliches gilt für die Neuauflage des sozialdemokratischen Konzepts der „Wirtschaftsdemokratie“, das in Absatz 96 durch die Einrichtung von „Runden Tischen“ sowie „Wirtschafts- und Sozialräten“ konkretisiert wird. Diese sollen „Leitbilder für die Rahmenplanung erstellen und die Möglichkeit zu gesetzgeberischen Initiativen erhalten“. Damit sollen diese „Räte“ die Verfügungsgewalt des Privateigentums über die großen Produktionsmittel nicht ersetzen, sondern ergänzen bzw. beratend begleiten. Aus der Entmachtung des Kapitals wird eine Strategie der Klassenzusammenarbeit, wie sie von der SPD- und Gewerkschaftsführung seit Jahrzehnten mit bekanntem „Erfolg“ praktiziert wird. Die „paritätische Mitbestimmung“ soll nur „erweitert“ werden (Abs. 134) und sieht eine Zusammenarbeit mit privaten Anteilseignern vor, anstatt diese – wie es z.B. der Göttinger Kreisverband beantragt hatte – zu enteignen und die Verwaltung dieser Betriebe durch VertreterInnen der Beschäftigten, der Gewerkschaften und ggf. Verbraucher- oder Umweltschutzorganisationen sowie der politischen Institutionen „paritätisch“ (also OHNE Anteilseigner) zu organisieren. Dazu passt, dass in Absatz 134 ein „Vetorecht“ der Beschäftigten nur für die Schließung von Betrieben gelten soll, die „NICHT von Insolvenz bedroht sind.“ (Hervorhebung durch den Autor)

Nato und Friedenspolitik.

Zur umstrittenen – und auch für eine eventuelle Regierungszusammenarbeit mit SPD und Grünen wesentlichen – Forderung nach einem Austritt der BRD aus der Nato formuliert der neue Entwurf einen Kompromiss, der alle Türen offen läßt: „Wir fordern die Auflösung der NATO und ihre Ersetzung durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands. Unbeschadet einer Entscheidung über den Verbleib Deutschlands in der NATO wird DIE LINKE in jeder politischen Konstellation dafür eintreten, dass Deutschland aus den militärischen Strukturen des Militärbündnisses austritt und die Bundeswehr dem Oberkommando der NATO entzogen wird.“ (Absatz 165)

Warum sollte Deutschland nur die „militärischen Strukturen“ der Nato verlassen, wenn wir gleichzeitig ihre Auflösung verlangen? Ihre Ersetzung durch eine kollektives Sicherheitssystem macht unsere Ziele von der Zustimmung der Herrschenden (z.B. in Russland) abhängig – und damit illusorisch. Der Verzicht darauf, nicht nur „Kampf“- sondern alle Auslandseinsätze der Bundeswehr abzulehnen, widerspricht der ansonsten geübten Kritik an ihrer Umstrukturierung in eine global operierende Interventionsarmee. In gleiche Richtung zielt die Aufwertung der UNO im neuen Programmentwurf, die „als wichtigste Institution für die friedliche Verständigung zwischen den Staaten und Gesellschaften der Erde“ (Abs. 165) apostrophiert wird, obwohl sie schon durch ihre vollkommen undemokratische Struktur ein Instrument der imperialistischen Großmächte war und ist.

Regierungsfrage

Die wichtigste – und bereits vor der Veröffentlichung heiß diskutierte Veränderung des neuen Programmentwurfs betrifft die Regierungsfrage:

In Abs. 189 ff heißt es dazu jetzt: „Regierungsbeteiligung der LINKEN sind nur sinnvoll, wenn sie eine Abkehr vom neoliberalen Politikmodell durchsetzen sowie einen sozial-ökologischen Richtungswechsel einleiten. DIE LINKE strebt dann eine Regierungsbeteiligung an, wenn wir damit eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen erreichen können. So lässt sich die politische Kraft der LINKEN und der sozialen Bewegungen stärken und das bei vielen Menschen existierende Gefühl von Ohnmacht und Alternativlosigkeit zurückdrängen. Regierungsbeteiligungen sind konkret unter den jeweiligen Bedingungen zu diskutieren und an diesen politischen Anforderungen zu messen. Die Entscheidung über Wahlprogramm und Koalitionsvertrag treffen in diesem Sinne die jeweils zuständigen Parteitage.“ (…) An einer Regierung, die Kriege führt und Kampfeinsätze der Bundeswehr im Ausland zulässt, die Aufrüstung und Militarisierung vorantreibt, die Privatisierungen der Daseinsvorsorge oder Sozialabbau betreibt, deren Politik die Aufgabenerfüllung des Öffentlichen Dienstes verschlechtert, werden wir uns nicht beteiligen.“

Hier wird eine Regierungsbeteiligung der LINKEN, die vor allem in Berlin die sozialen Bewegungen massiv geschwächt hat bzw. immer wieder bei Streiks und sozialen Bewegungen auf der anderen Seite der Barrikade stand, ausdrücklich als das exakte Gegenteil verkauft. Wer als LINKER in Regierungen mit prokapitalistischen Parteien Sozialabbau und Tarifflucht aktiv organisiert, verstärkt das Gefühl von „Ohnmacht und Alternativlosigkeit“, anstatt zu dessen Überwindung beizutragen. Die – von den Vertretern des linken Parteiflügels wie Sara Wagenknecht und Christine Buchholz – im Parteivorstand mitgetragene Streichung des früheren Neins zu Stellenstreichungen im Öffentlichen Dienst soll den Verbleib der LINKEN in diesen Landeskoalitionen gestatten, macht aber zugleich die programmatischen Forderungen gegen die Massenarbeitslosigkeit unglaubwürdig. Wie will die LINKE den Stellenabbau in der Privatindustrie bekämpfen, wenn sie ihn nun sogar im Öffentlichen Dienst programmatisch zuläßt? Was bleibt vom Ziel einer „drastischen Arbeitszeitverkürzung“ übrig, wenn dafür nicht neue Stellen geschaffen, sondern bestehende gestrichen werden können? Bevölkerungsrückgänge in den entsprechenden Bundesländern sind dafür kein Argument, weil der öffentliche Dienst ja gestärkt und nicht weiter abgebaut werden soll. Während der frühere Programmentwurf solche Mindestbedingungen für eine Regierungsbeteiligung noch „verbindlich“ erklären wollte, wird nun den Ländervertretern der Partei ausdrücklich das Recht eingeräumt, … das Programm zu verletzen und es so für die politische Praxis wertlos zu machen. Üblicherweise definiert ein Programm ja den politischen Rahmen, innerhalb dessen die Landesverbände autonom entscheiden können…. Wie sich im neuen Programmentwurf zeigt, sind sogenannte „Haltelinien“ kein wirkliches Hindernis für Koalitionen mit prokapitalistischen Parteien, sondern eher eine Beruhigungspille für die Mitglieder und Wähler der LINKEN, die für die ständigen Anbiederungsversuche der Parteiführung immer weniger Verständnis haben.

Gewerkschaften und außerparlamentarische Bewegungen

Im Verhältnis zu den Gewerkschaften lässt der zweite Programmentwurf weiterhin jede Präzisierung vermissen. Der Antrag des KV Göttingen, diejenigen Gewerkschaftsmitglieder und -vertreterInnen ausdrücklich zu unterstützen, die sich der Standortlogik widersetzen, wurde nicht berücksichtigt.

Zu den außerparlamentarischen Bewegungen heißt es in Abs. 180 zwar, dass „ein politischer Richtungswechsel sich nicht allein auf parlamentarischer Ebene durchsetzen“ lasse. „Er kann nur gelingen in einem Wechselspiel politischer Auseinandersetzungen im außerparlamentarischen und im parlamentarischen Bereich.“ Damit bleibt offen, wo der programmatische Schwerpunkt der Partei liegen soll, obwohl zum Beispiel die Massenbewegung für die Abschaltung der AKW gerade erst bewiesen hat, welche Seite in diesem „Wechselspiel“ praktische Veränderungen bewirken konnte – und wer sie allenfalls nachvollzogen und abgeschwächt hat.

Schlussfolgerungen und Ausblick

Der neue Programmentwurf hält eine antikapitalistische Grundtendenz aufrecht, gibt aber dem Druck des Regierungsflügels an vielen Punkten bereits im Vorfeld nach. Dessen ungeachtet haben Halina Wawzyniak, Raju Sharma – die ja auch einen eigenen Entwurf vorgelegt hatten – im Parteivorstand dagegen gestimmt. Die Suche nach Kompromissen und „einstimmigen“ Empfehlungen der Parteispitze an die Basis, dem sich Sara Wagenknecht und Christine Buchholz offenbar mehr verpflichtet fühlten als programmatischer Klarheit, war also vergeblich. Kampfabstimmungen auf dem Erfurter Parteitag sind ohnehin nicht zu vermeiden. Umso problematischer ist die Tatsache, dass die oben genannten Wortführerinnen der „Antikapitalistischen Linken“ und der „Sozialistischen Linken“ sich dadurch selbst die Hände gebunden und konsequenten SozialistInnen in der Partei das Engagement für glaubwürdige linke Politik nicht gerade erleichtert haben.

Die bisherigen, über 1000 Wortmeldungen und Änderungsanträge aus der Parteibasis gelten durch den Leitantrag des Vorstandes als „erledigt“, auch wenn sie von der Redaktionskommission nicht berücksichtigt wurden. Anstatt eine synoptische Gegenüberstellung der wichtigsten strittigen Passagen und Textalternativen sowie der bisherigen Änderungen der Parteibasis zur Verfügung zu stellen, lag dieses Ergebnis der Redaktionskommission nur dem Bundesvorstand vor. Das erschwert die weitere Debatte vor dem Erfurter Parteitag. Änderungen müssen in den Kreisverbänden neu beraten und beschlossen werden, um auf dem Parteitag zur Diskussion stehen zu können.

Die (vergebliche) Suche nach programmatischen Formelkompromissen, anstatt die Unterschiede offen auszusprechen und der Parteibasis zur Entscheidung vorzulegen, hat die inhaltliche Debatte in den Hintergrund gedrängt – und gleichzeitig unpolitische Personalquerelen gefördert.

Die Krise der LINKEN kann nur überwunden werden, wenn sie sich – auch in der Programmdebatte – als wirkliche Systemalternative zu den anderen Parteien darstellt und entsprechend handelt.