„Es ist ein allgemeiner Kampf für den wir uns hier engagieren.”

Interview mit Nicoletta Dosio, Aktivistin der Kampagne „NO TAV” gegen den Bau einer Hochgeschwindigkeitsstrecke im Val di Susa, Italien


 

In Italien kämpft ein ganzes Tal gegen eine Hochgeschwindigkeitsstrecke (TAV) von Lyon nach Turin – das Val di Susa. Im Susatal, das 70 km lang und ein bis zwei km breit ist, leben ungefähr 65.000 Menschen. Mit ihrem Widerstand konnten sie verhindern, dass ein einziger Spatenstich getan werden konnte. Wenn im Frühling 2011 die Frist der EU verstreicht und dann immer noch keine einzige Arbeit durch die Bauunternehmen getan werden konnte, werden die Gelder für das Projekt endgültig gestrichen und die Einwohner des Tals haben endgültig gewonnen.

Im November besuchte Nicoletta Dosio, langjährige Aktivistin der No-TAV-Bewegung und Mitglied von Controcorrente, Stuttgart, um ihre Solidarität mit dem Protest gegen Stuttgart 21 auszudrücken und von ihren Erfahrungen zu berichten.

Was ist im Val di Susa geplant?

Schon seit den 90er plant die italienische Bahn eine Hochgeschwindigkeitstrecke TAV (Treno ad alta velocita) von Lyon nach Turin. Auch unser Tal ist davon betroffen. Dort soll ein neuer Tunnel gebohrt werden. Dafür haben sie Milliarden von der EU bewilligt bekommen. Wir sind nach Brüssel gefahren und haben gesagt: Behaltet Euer Geld, gebt es für sinnvolle soziale Sachen aus oder für Bildung. Wir wollen keinen Hochgeschwindigkeitszug in unserem Tal.

Der Hochgeschwindigkeitsgedanke wurde geboren mit den Privatisierungsplänen der Eisenbahn. Auf der einen Seite sollten im italienischen Netz 5000 km für Hochgeschwindigkeitszüge geschaffen werden. Mit all den dazugehörigen Erweiterungen, Umstrukturierungen und Neubauten. Gleichzeitig war der Plan 11.000 km für die regionale Anbindung zu streichen.

Für die Pendler hat sich mit der Privatisierung der Eisenbahn die Situation schon extrem verschlechtert. Bei uns arbeiten viele in Turin. Nun wurden regionale Züge eingespart und die Preise wurden erhöht. Gleichzeitig wurde eine Autobahn ins Tal gesetzt. Der Hochgeschwindigkeitszug würde den Pendlern eh nichts bringen, sondern den regionalen Verkehr noch mehr belasten.

Und so seid ihr dann aktiv geworden?

Im Jahr 1990 ist eine Gruppe von Eisenbahnern in Bussoleno aktiv geworden gegen die Privatisierung der Eisenbahn und gegen den TAV (Hochgeschwindigkeitszug). Wir haben verstanden, dass der reale Service zusammengekürzt wird, um das Geld in die Taschen derjenigen zu bringen, die schon von der Autobahn profitiert hatten.

Der Kreis der Aktiven hat sich schnell vergrößert, denn es war offensichtlich, dass es auch extreme umwelttechnische Zweifel an dem Projekt gibt. Wir haben sofort gesehen, dass es große Gefahren auch für unsere Gesundheit gibt. Für den TAV muss ein neuer Tunnel geschaffen werden. Für diesen Tunnel muss durch Gesteinsschichten gebohrt werden, die Uran und Asbest enthalten. Tonnenweise wird das Gift aus der Erde geholt und aus Kostengründen im Umkreis von 30 km entsorgt werden. Kurz gesagt, unser Tal wird total verseucht. Für die Menschen im Tal ist es keine leere Phrase, wenn wir sagen, es geht um unser Leben und unsere Zukunft. Wenn der Tunnel kommt, können wir dort nicht mehr leben.

Die Befürworter sagen, dass der Tunnel Arbeitsplätze bringt.

Damit haben wir genug Erfahrung gemacht um zu wissen, dass das nicht stimmt. Wir hatten ja gerade den Autobahnbau hinter uns gebracht. Sie hatte Grundstücke vernichtet und Arbeitsplätze verdrängt. Für den Autobahnbau waren Arbeiter hergezogen, die nun auch arbeitslos sind. Da wurde klar, dass der Tunnel die Katastrophe nur verschlimmern würde. Uns wurde auch klar, dass dies nicht im Interesse der Menschen aus der Region war, sondern dass es dort um die Interessen der Bauunternehmen ging. Unsere Vision für die Zukunft war eine Region, die für alle Menschen attraktiv ist, angefangen bei den kleinen Leuten.

Und wie habt ihr damals begonnen?

Natürlich hatten 1990 noch nicht alle Menschen diese Befürchtungen. Daher haben wir mit einer sehr breiten Informationskampagne begonnen. Wir haben Versammlungen gemacht und haben auch versucht die Strukturen zu überzeugen, z.B. die Bürgermeister, Stadträte. Nach und nach haben die Menschen verstanden, auch weil die katastrophalen Folgen des Autobahnbaus immer deutlicher wurden. Und anderswo wurden schon die furchtbaren Folgen des Hochgeschwindigkeitsbaus bekannt. Zum Beispiel ging das Wasser in den Tälern aus, wo Tunnel gebaut wurden. Oder es gab Erdrutsche in Tunneln. Es wurde klar, dass kein entspannter, harmloser Bau bevorstand, sondern dass er sehr viele Risiken barg.

2000 ist der Widerstand dann breiter geworden!?

Die Menschen werden aktiv, wenn sie die Gefahr direkt vor Augen haben. Als die ersten Bohrungen und Voruntersuchungen losgehen sollten, begann unsere Gegenoperation. 2000 wurde das erste Komitee (comitato) gegründet und daraus ist unser Bürgerprotest (lotta popolare) entstanden. Dieser Bürgerprotest hat alle Baumaßnahmen und Voruntersuchungen praktisch verhindert.

10 Jahre Gegeninformation hatte die Leute vorbereitet und dann haben wir uns organisiert. Es ging darum jeden zu beteiligen und einzubeziehen und keine Stellvertreterpolitik zu machen. Also haben wir uns in Komitees organisiert.

Wir sind von Haus zu Haus gegangen und haben die Menschen informiert und einbezogen. Jedes Komitee hat auf ein Stück Land aufgepasst und das Gebiet praktisch kontrolliert und keine vorbereitende Baumaßnahme zugelassen. So sind auch die Wachtposten (presidio) entstanden. Wir haben Tag und Nacht die Wachtposten besetzt, genau wie ich hier gesehen habe, dass der Park von S21-Gegnern bewacht wird.

Welche entscheidende Wendepunkte gab es dann weiter in eurem Widerstand?

Ein entscheidender Wendepunkt war das Jahr 2001. Im Januar 2001 haben Frauen, Männer und Kinder gegen die Unterzeichnung des italienisch-französischen TAV-Vertrages in Turin demonstriert. Mit 6000 Menschen sind wir mit Zügen angereist. Als wir dort ankamen, standen wir einem riesigen Aufgebot an Polizei gegenüber, das viel größer war als unsere Demonstration. Sie bildeten ein Spalier und die Leute haben große Angst bekommen. Es waren Kinder dabei mit ihren Luftballons, wir hatten unsere Fahnen und die Leute haben verstanden wie die Spielregeln in diesem Kampf sind. Das hat vielen die Augen geöffnet.

Ein weiterer Höhepunkt war doch im Jahr 2005?!

2005 wollten sie die ersten Bodenproben nehmen und anfangen den „Mini-Tunnel“ zu bauen, der für die Arbeiten am endgültigen „Maxi-Tunnel“ benötigt wurde. Wir hatten Wachtposten (presidio) im ganzen Tal, aber uns Zentrum war das Presidio di Venaus. Dort hatten wir eine Hütte gebaut und schon wochenlang die Bauarbeiten verhindert. In diesen Monaten wurde das Tal militarisiert. Es wurden Straßensperren aufgebaut, Du konntest Dich nicht mehr frei bewegen. Du durftest nicht in die Dörfer, wo Arbeiten anstanden. Es war nicht sprichwörtlich, sondern eine ganz reale Militarisierung und Einschüchterung.

Am 5./6. Dezember 2005 haben sie dann unser Presidio mit Polizei und Militär angegriffen. Es gab ein Camp, Hunderte haben in Zelten dort übernachtet, da wir wussten, dass der Gegenangriff kommen würden. Um 1 Uhr in der Nacht haben sie angegriffen und alles zerstört. Es waren Studenten aus Turin da, die ihre Bücher dabei hatten, die wurden verbrannt. Sie haben Flugblätter zerstört, unsere Fahnen zerstört, auf uns eingeschlagen, ein alter Mann ist dort gestorben.

Am nächsten Morgen ist keiner zur Schule gegangen, keiner ist zur Arbeit gefahren, alle sind nach draußen geströmt und haben die Straßen blockiert. Drei Tage stand im ganzen Tal alles still.

Also ein regionaler Generalstreik. Und wie ging es weiter?

Am 8.Dezember haben wir das Presidio von Venaus befreit. Mit 50.000 Menschen sind wir dort hingezogen und haben die Polizei zurückgedrängt. Da die Straßen blockiert waren, sind wir durch das Gelände zum Presidio geströmt, haben die Zäune runtergerissen und haben unser Zentrum zurückgeholt.

Was die Konstrukteure also in Venaus bauen wollten, haben sie nicht geschafft. Und nun haben sie versucht ein bisschen weiter oben, bei der Maddalena, zu arbeiten. Das ist für sie schwierigeres Terrain, aber für uns natürlich auch. Wir haben dort oben eine Steinhütte aufgebaut – das Presidio della Maddalena. Letzte Woche haben sie es mit fadenscheinigen Argumenten geräumt und gestern habe ich erfahren, dass es die Genossen zurückerobert haben. Sie sind hin, haben die Siegel aufgebrochen und arbeiten wieder in unserem Presidio.

Du hat von den Komitees und den Wachtposten erzählt, doch dann gibt es doch auch noch die „Volksversammlungen“?!

Nicht alle Menschen waren in den Strukturen der Komitees, deshalb haben wir 2005 etwas Neues eingeführt. Wir haben Volksversammlungen (assemblea popolare) abgehalten. Wenn es dringende Neuigkeiten oder wichtige Kampfmaßnahmen zu beschließen gab, haben wir uns getroffen – unter freiem Himmel oder in den Sälen der Kommune. In wichtigen Situationen, wie z.B. 2005 kamen bis zu 2000 Menschen zu diesen Versammlungen. Jeder kann die Hand heben, seine Meinung sagen und seine Vorschläge machen. Per Applaus werden dann die Vorschläge abgestimmt. Natürlich ging es immer um sehr konkrete, dringliche Vorschläge.

Wieviele Komitees gibt es denn jetzt?

Es gibt ca. 20 Komitees. Es gibt so 30 Dörfer, doch einige davon sind winzig oder gehören zu einer Region dazu. Also kann man sagen, dass es in jedem Dorf ein Komitee gibt. Wir haben auch ein Koordinationstreffen, aber wir haben keine Sprecher und keine gewählten Vertreter. Zum Koordinationstreffen geht, wer gerade Zeit hat, und versucht die Vorschläge und die Stimmung des Komitees wiederzugeben. Wir sind alle Nachbarn in kleinen Dörfern, daher kennen wir uns sehr gut und diskutieren die Sachen. Alle Dokumente werden auf die Webseite gestellt, die von uns eingerichtet wurde. Wir haben eine Mailingliste, die wir „permanente Versammlung“ (assemblea permanente) nennen. Dort veröffentlichen wir auch andere Dokumente: zu Stuttgart 21, zu sozialen Problemen, zu Problemen, die Immigranten haben u.s.w. Denn es ist ja ein allgemeiner Kampf (lotta popolare) für den wir uns hier engagieren.

Das heißt die Bewegung NOTAV nimmt auch zu anderen gesellschaftlichen Problemen Stellung. Wie kommt das denn bei den Aktivisten an?

Unsere Interessen, die Interessen der Menschen, die hier leben, unterscheidet sich sehr grundlegend von den Interessen der Konzerne, die von TAV profitieren. Die Menschen sehen die Realität und die realen Probleme. Die Menschen unterstützen also auch andere kritische Aktivitäten – gegen Rentenkürzung, S 21, staatliche Repression gegen Ausländer. Aber sie sind auch offen für eine grundlegende Kritik an der kapitalistischen Wirtschaftsstruktur. Im Konkreten! Du musst Dir vorstellen, dass die Wachtposten auch eine alternative Organisationsform bedeuten. Die Menschen – besonders die Frauen kamen dort Tag für Tag zusammen. Jeder bringt mit was er hat, wer nichts hat, nimmt sich was er braucht. Darüber vertreiben wir auch regionale Produkte. Und ich habe auch Rosa Luxemburg vorgelesen, wo wir so zusammengehockt haben.

Im Kampf ist auch der Zusammenhalt im Tal und unter den Nachbarn zurückgekehrt. Und wenn Du weißt, es drohen Baumaßnahmen, die Deine Lebensgrundlage zerstören, dann gehst Du auch nicht nach Hause, sondern bleibst beim Wachtposten.

Wie sieht es mit der Jugend aus?

Auch die Jugend nimmt teil, Schüler beteiligen sich an den Protesten, sogar unter den Kindern hat es eine Politisierung gegeben. Die Barriere zwischen Generationen ist durch den Widerstand zusammengebrochen. Wir duzen uns und so wird es ganz natürlich. Ich mit meinen 60 Jahren und der Schüler haben ein gemeinsames Ziel und eine gemeinsame Praxis. Daher begegnen wir uns auf Augenhöhe. Auch in Stuttgart sehe ich dass verschiedene Generationen und verschiedene Schichten zusammenarbeiten und Barrieren gefallen sind.

Was hältst Du von der Bewegung gegen Stuttgart 21? Möchtest Du uns einen Rat geben?

Ich sehe hier viel Hingabe bei den Menschen, die an dem Kampf beteiligt sind. Zum Beispiel bei den Jugendlichen. Sie sind nicht zurückgewichen, als der Park geräumt wurde. Sie sind daran sogar gewachsen. Es ist richtig und wichtig jede Baumaßnahme ganz praktisch zu verhindern. Sollten wir nicht versuchen den Bauzaun abzureißen, statt ihn zu dekorieren? Kann man nicht neue Bäume pflanzen? Finden dort jetzt Baumaßnahmen statt? Können wir sie nicht daran hindern?

Ich sehe hier in Stuttgart das Potenzial an Überzeugung und Hingabe für diesen Kampf – das Wissen und das Herz. Natürlich kann ich Euch kein Rezept geben, um glücklich zu werden. Uns im Val di Susa hat es geholfen, nach anderen Bewegungen zu suchen und uns in Solidarität auszutauschen. Es tat gut zu sehen, dass es auch andere Kontexte (realta) gibt, in denen gekämpft wird. Und das Bewusstsein, dass wir es nicht nur für uns tun. Auch international. Diese Suche war wichtig, um andere Kämpfe kennen zu lernen und von ihren Erfahrungen zu lernen. Aber auch, da wir die Welt nur verändern können, wenn viele Kontexte kämpfen und wir uns gegenseitig helfen und vernetzen.

Ihr habt auch internationale Kontakte…

Ja, zum Thema Hochgeschwindigkeit sind wir eng verbunden mit Frankreich, Spanien und dem Baskenland, die auch schon lange aktiv sind gegen dieses System der Fortbewegung. Zum Beispiel haben wir uns in Straßburg getroffen mit Repräsentanten von ihnen, zwei Repräsentanten aus Stuttgart und Joe Higgins, Mitglied des Europaparlaments der irischen Socialist Party. Joe Higgins hat uns auch besucht und eine Rundreise durch das Tal gemacht und mit den Menschen in den Komitees geredet.

Werdet ihr es schaffen, den TAV im Val di Susa zu verhindern?

2005 sollten die Arbeiten beginnen. Bisher haben sie keinen Spatenstich machen können und sie werden auch keinen tun können. Wir werden sie nicht lassen, denn wir haben die Verantwortung für unser Tal und für die zukünftigen Generationen. Wenn im Frühjahr die Fristen der EU auslaufen, wird das Projekt endgültig begraben sein. Denn, wenn die Verantwortlichen keinen Handschlag tun konnten, wird ihnen das Geld von der EU gestrichen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Maren Alberts.